Die Genfer Initiative:
Momentum oder Stillstand?
von Reiner Bernstein
Nachdem der israelisch-palästinensische
Konflikt bei Beobachtern jahrelang nur Frustration und Zweifel hinterlassen
hat, lassen jetzt gleich mehrere Vorgänge aufhorchen.
Erstaunlich ist da die positive Resonanz, die der „Genfer Initiative“ in
europäischen Regierungskreisen und in Brüssel zuteil wird. Sie scheint sogar
auf arabische Länder abzufärben, mit denen Yossi Beilin und Yasser Abed
Rabbo die Hoffnung verbinden, dass manche von ihnen – und in erster Linie
die Meinungsführer Ägypten und Saudi-Arabien – ihre Sympathien öffentlich
zum Ausdruck bringen. Da ist die unvermittelte Ankündigung von Ariel Sharon,
den Gazastreifen mit seinen 17 jüdischen Siedlungen räumen zu wollen. Da ist
aber auch die freundliche Unschlüssigkeit der offiziellen Kabinettspolitik
im Westen, sich politisch eindeutig zu erklären.
Erleben wir eine Echternacher
Springprozession? Die Zeichen der Hoffnung, die wir Anfang Dezember
vergangenen Jahres anlässlich der Präsentation in Genf zu erkennen glaubten,
sind noch längst nicht eindeutig. Denn täglich fallen unbeteiligte
Zivilisten dem Töten und Morden zum Opfer. In israelischen Zeitungen wird
Sharon bescheinigt, dass er die palästinensischen Selbstmörder brauche, auf
dass die Ernsthaftigkeit seiner Erklärung nicht auf die Probe gestellt
werde, einem palästinensischen Staat zuzustimmen. Auf der Gegenseite tun
radikale Kräfte – allen voran die aus Arafats „Fatah“ hervorgegangenen
„Al-Aqza-Brigaden“, die „Bewegung des islamischen Widerstandes (Hamas)“ und
der „Islamische Djihad“ – alles, um eine politische Regelung zu verhindern.
Sie wollen weder einen palästinensischen Staat noch einen Staat Israel in
den Grenzen von 1967.
Unter der palästinensischen Bevölkerung
herrscht Chaos und Hoffnungslosigkeit. Längst hat die zweite „Intifada“ ihre
Legitimation als Befreiungskampf verloren. Die Menschen sind politisch
führungslos, können ihre Familien nicht mehr ernähren und sehen sich durch
die Sperrmauern stranguliert. Ob diese aufgrund
des internationalen Drucks an der einen oder anderen Stelle um ein paar
hundert Meter nach Westen versetzt werden, erscheint ihnen unerheblich. Denn
was bleibt, sind der verweigerte Zugang zu Feldern und zu medizinischen
Einrichtungen, demütigende Kontrollen an den Straßensperren sowie Kinder,
die die schwer bewachten Übergänge auf Schleichwegen zu umgehen suchen, um
auf Israels Straßen zu betteln.
Wer wagt es, um
einen hochrangigen amerikanischen Politiker aus den siebziger Jahren zu
zitieren, Israel vor sich selbst zu retten? Auch wenn die USA den Bau der
Sperrmauern mit finanziellen Strafen belegen und George W. Bush den
israelischen Premier Ende Februar nach Washington zitieren will oder eine
Publikation des State Department Israel schwere Verstöße gegen die
Menschenrechte anlastet: Von Washington ist wenig zu erwarten. Das hängt
nicht nur mit dem traditionellen Stillstand vor Präsidentschaftswahlen
zusammen, der vielerorts zu abwegigen Verschwörungsphantasien Anlass gibt,
sondern geht vor allem auf das strategische Engagement der USA im Mittleren
Osten zurück: Nachdem der Vorsatz längst ad acta gelegt werden musste, die
gesamte Region mit westlichen Modellen von Rechtsstaat und Demokratie zu
überziehen, hat Bush alle Hände voll zu tun, das militärische Abenteuer im
Irak innen- und außenpolitisch zu verteidigen. Mit geordneten Verhältnissen
ist dort auf absehbare Zeit nicht zu rechnen, denn die Amerikaner stecken in
einem tiefen Dilemma: Sie werden im Irak nicht akzeptiert, können sich aber
aus dem Land nicht zurückziehen. Die enormen Kosten des Krieges haben das
Haushaltsdefizit für 2004/5 auf das die Rekordsumme von 520 Milliarden
US-Dollar ansteigen lassen. Dagegen fallen das jährliche
Auslandshilfsprogramm für Israel mit rund drei sowie die Kreditbürgschaften
in Höhe von neun Milliarden US-Dollar kaum ins Gewicht, wenn man in Sharon
einen verlässlichen Partner erblicken will.
Beilin und Abed Rabbo sehen ihren
Friedensplan in die „Road Map“ eingebettet. Doch wenn die Washingtoner Karte
nicht sticht, tendieren die Aussichten des Wegeplans gegen Null. Dennoch
gedenken die am „Quartett“ Beteiligten den USA weiterhin die Führungsrolle
auf der Friedenssuche im Nahen Osten einzuräumen. Die Vermutung ist erlaubt,
dass sie den Grund dafür nicht kennen, es sei denn sie wollen sich aus
freien Stücken der Untätigkeit hingeben. Was Joschka Fischer angesichts
einer immobilen Nahostpolitik auf der Antisemitismus-Konferenz der
Heinrich-Böll-Stiftung vor wenigen Tagen in Berlin gemeint haben könnte, als
er im Beisein des israelischen Botschafters vor der Illusion warnte, die
Palästinenser würden sich mit weniger als der Westbank, Ost-Jerusalems und
des Gazastreifens zufrieden geben, bleibt sein Geheimnis. Fielen seine
Bemerkungen ex tempore, wenn er im selben Atemzug die Entschlossenheit
bekundet, Israels Sicherheitsbedürfnisse mit allem Nachdruck zu verteidigen?
Sharon hat gerade demonstriert, dass er
solche verbalen Zusagen gern hört, ihnen jedoch kein Gewicht beimisst. Denn
seine plötzliche Ankündigung, die Siedlungen aus dem Gazastreifen zu
verlegen, bietet einen schlagenden Beweis für die These, wie gering er die
damit verbundenen Sicherheitsbelange schätzt, ja wenn er durchblicken lässt,
dass die 7.500 Siedler ein Risiko für die „maximale Sicherheit Israels“
darstellen. Dass ein einseitiger Rückzug nicht die Autonomiebehörde, sondern
die Islamisten stärken dürfte, die auf jenem rund 360 Quadratkilometer
großen Territorium das Kommando führen, lässt sich ebenfalls nicht
übersehen. Sharon dürften jene radikalen Kräfte, denen er gegebenenfalls mit
militärischer Gewalt Einhalt gebieten könnte, lieber sein als eine
Autonomiebehörde, die allein durch ihre Existenz und jenseits aller
politischen Vernunft international für den Eindruck nationaler Legitimität
sorgt. Frühere Diskussionen über die Aufgabe des Gazastreifens standen unter
der Maxime des ersten Schritts auf dem Wege zur politischen Unabhängigkeit
der Palästinenser. Dass Sharon sie jetzt mit keinem Wort erwähnt, ist nur
konsequent.
Für den Westen
stellen sich mehrere dringliche Fragen: Lassen sich unsere Großpolitiker
nachdrücklich darauf verpflichten, neben den selbstverständlichen Kontakten
zu den Regierungen auch auf Dynamiken in den Zivilgesellschaften zu achten,
oder widersprechen solche Erwartungen von Grund auf ihren diplomatischen
Gepflogenheiten? Anders ausgedrückt: War in den westlichen Hauptstädten
nicht absehbar, dass die Politik Sharons und Arafats unweigerlich in die
Sackgasse führt, so dass es spätestens jetzt angezeigt ist, Projekten wie
der Ayalon-Nusseibeh-Erklärung vom Juli 2002 und der „Genfer Initiative“
größte Aufmerksamkeit zu schenken? Wie ist dann zu erklären, dass das
Auswärtige Amt in Berlin darum bemüht war, aus dem Entwurf der
Sympathieerklärung für die „Genfer Initiative“, die der Bundestag am 13.
Februar verabschieden will, jene wahrlich harmlos zu nennenden Passagen
streichen zu lassen, die zu politischen Konsequenzen auffordern wollten?
Und: Gehört es zu den vornehmen Aufgaben der größten Oppositionspartei, das
Kabinett zu ermuntern, sich durch die „Genfer Initiative“ nicht binden zu
lassen? Nachdem die Arbeit der Teams um Beilin und Abed Rabbo unzweifelhaft
dazu beigetragen hat, die Diskussion über die Unhaltbarkeit des Status quo
in der israelischen und der palästinensischen Öffentlichkeit zu befördern
und den Nutznießer der strukturellen Asymmetrie, Ariel Sharon, politisch
unter Druck zu setzen, müssen auch hierzulande Antworten überfällig.
Denn sollten mittlerweile tatsächlich
vierzig Prozent der Israelis und Palästinenser die „Genfer Initiative“
begrüßen, dann steht die westliche Politik vor einer Bringschuld, die nicht
länger aufgeschoben werden kann: Sie lässt sich auf das ungeklärte Problem
der Souveränität konzentrieren. Die „Road Map“ hat das bisherige Versäumnis,
auf diesem alles überragenden Feld eine Entscheidung zu forcieren, dadurch
benannt, dass sie Israel zwar zur Räumung der seit der Operation
„Schutzschild“ im April 2002 errichteten „illegalen Siedlungen“ aufforderte,
aber weder darauf Wert legte, den Rechtsstatus der Siedlungen nach 1967
anzusprechen noch den territorialen Endstatus des in Aussicht genommenen
palästinensischen Staates zu definieren. Dieser Verzicht kommt der Übernahme
des israelischen Rechtsstandpunkt gleich, wonach
es sich bei der Westbank um Niemandsland („terra nullius“) handele.
Israelische Völkerrechtler haben frühzeitig die Formel eingeführt, dass kein
Staat einen ähnlichen Rechtstitel auf „Judäa und Samaria“ für sich
reklamieren könne, und diesen historisch begründeten Vorrang Israels mit
seiner Verfügung über diese Territorien untermauert.
Dieser Zirkelschluss hat ganz offenkundig
eine nachhaltige internationale Wirkung entfaltet, die sich in zahlreichen
Variationen niederschlägt: beginnend mit Warnungen vor der von Arafat
mehrfach ins Auge gefassten einseitigen Staatsproklamation bis hin zur
fortlaufenden Subsidierung der Personalkosten in der Autonomiebehörde.
Darüber ist die Thematisierung der politisch eingeschränkten
palästinensischen Rahmenbedingungen stark vernachlässigt worden. Wenn die
Bundesregierung und andere Staaten jetzt schon die gutachterliche Kompetenz
des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag in Sachen Sperrmauer ablehnen,
dann bestätigen sie einmal mehr die Politik Sharons, der das Verhältnis zu
den palästinensischen Gebieten als Gegenstand der israelischen Innenpolitik
behandelt.
Die „Genfer Initiative“ ist kein
intellektuelles Sandkastenspiel. Es ist an der Zeit, dass sich die
westlichen Regierungen eindeutig positionieren. Wollen sie ihre
Nahostpolitik auch künftig als schlagseitige Chefsache verfolgen und damit
der in der internationalen Öffentlichkeit vorherrschenden Apathie gegenüber
Lösungsansätzen weiteren Vorschub leisten? Wollen sie mit politisch zu
nichts verpflichtenden Formeln wie der Betonung des Existenzrechts Israels
als elementarem Bestandteil der Solidarität und Freundschaft sowie dem
Hinweis auf das legitime Recht der Palästinenser auf einen demokratischen
Staat in Frieden und Freiheit auch künftig operieren? Oder sind sie willens
und bereit, das mit der „Genfer Initiative“ in Gang gesetzte politische
Momentum zu sichern und fortzuentwickeln? Solange die internationale
Erklärung aussteht, dass die Zweistaatenlösung nur auf der Grundlage der
Grenzen von 1967 realistisch ist, bleibt vieles andere Selbsttäuschung und
leere Rhetorik, die sich vor politischer Verantwortung zurückscheuen und das
Leiden der Menschen auf beiden Seiten fatalistisch in Kauf nehmen.
Abgeschlossen am 4.2.2004.
Road Map wieder beleben:
Genfer Initiative unterstützen
Eine dauerhafte politische Lösung des Nahost-Konflikts ist
eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Israelis und
Palästinenser sollen friedlich in Freiheit, Gerechtigkeit und Würde, ohne
Terror und Gewalt als Nachbarn in sicheren und anerkannten Grenzen zusammen
leben können...
http://www.genfer-initiative.de
http://reiner-bernstein.de
hagalil.com
05-02-2004 |