Kommentar zum Wahlkampf:
"Hauptsache ist, keine Angst zu haben"
Uri Avnery
über Amir Peretz und die Wahlkampfstrategen der Awodah
ETWAS SCHLIMMES ist der Wahlkampagne von Amir Peretz geschehen: sie schleppt
sich dahin.
Die begeisternde Welle, die mit seiner Wahl als Vorsitzender der Laborpartei
begann, ist abgeebbt. Ereignisse im Lande jagen einander: der große
Paukenschlag der neuen Kadima-Partei, die wendehälslerischen Akte von Shimon
Peres und Shaul Mofaz, der kleine Schlaganfall von Ariel Sharon, die
Likud-Vorwahlen, die Kassam-Raketen, die in der Nähe Ashkalons einschlugen.
Peretz wurde an den Rand gedrängt.
Natürlich hat die wirkliche Wahlkampagne noch gar nicht begonnen. 1999 wurde
über Barak in diesem Stadium gesagt: “Ehud schafft es nicht!“ und von da an
schwebte er zum Sieg. Trotzdem gibt die Situation Anlass zur Sorge.
In diesen Tagen kommen keine aufregenden Initiativen aus dem Peretz-Lager.
Am Fernsehen und am Radio produzieren die müden, alten Labor-Politiker am
laufenden Band dieselben müden, alten Botschaften. Im Augenblick geben die
Meinungsumfragen Peretz 21 Sitze, dagegen 39 Sitze für Sharon und 12 für
Netanyahu.
Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Peretz muss kühne strategische
Entscheidungen treffen. Jetzt, sofort. Dies ist ein Test für die
Führungsqualitäten. Ein schicksalhafter Test, weil eine Niederlage nicht nur
eine Katastrophe für die Laborpartei, sondern für das Friedenslager im
ganzen und tatsächlich auch für Israel wäre.
IN DIESER Schlacht liegt – wie wir schon einmal sagten – der Vorteil auf der
Seite, die entscheidet, wo die Schlacht ausgefochten wird. Es ist im
Interesse von Peretz, dass es in der Kampagne um soziale und wirtschaftliche
Dinge geht, während beide, Sharon und Netanyahu, wollen, dass man in der
nationalen Sicherheitsarena kämpft. Die Meinungs-umfragen zeigen, dass die
Mehrheit glaubt, Peretz sei der beste Kandidat , um die sozialen Probleme zu
lösen, aber eine große Mehrheit glaubt, nur Sharon sei fähig, für Sicherheit
zu sorgen.
Die Experten um Peretz empfehlen: sprich nur über Soziales. Sprich überhaupt
nicht über Krieg und Frieden, und falls du dies nicht vermeiden kannst, sei
unklar, verschwommen. Du musst Stimmen aus dem Zentrum sammeln – und die
Leute dort glauben nicht an Frieden.
Das klingt logisch - ist aber trotzdem ein schlechter Rat.
VOR ALLEM erhebt sich die Frage, ob Peretz überhaupt in der Lage ist, das
soziale Problem ins Zentrum der Kampagne zu stellen und dies seinen Gegnern
aufzuzwingen. Das ist fast unmöglich.
In Israel können der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister mit
Hilfe der Armeekommandeure zu jeder Zeit und an jedem Ort eine gespannte
Atmosphäre schaffen. Man muss nur einen palästinensischen Militanten
„gezielt töten“ und erklären, er sei eine tickende Bombe gewesen, der ein
Selbstmordattentat geplant habe. Seine Kameraden antworten mit einer Salve
Kassam-Raketen und Granaten und behaupten, dies sei die Rache. Die Armee
antwortet auf diesen „kriminellen terroristischen Anschlag“ mit
Artilleriefeuer und Angriffen aus der Luft. Und siehe da - schon haben wir
eine gespannte Sicherheitslage.
Es gibt mehrere Variationen dieses Themas. Hisbollah ist immer bereit,
mitzumachen und die Nordgrenze „aufzuheizen“, wenn die israelische Armee die
leiseste Provokation liefert. Und wenn nichts vor Ort geschieht, dann gibt
es immer einen Geheimdienstoffizier, der bereit ist, Alarm zu schlagen: Iran
wird jeden Augenblick eine Atombombe haben und uns direkt nach Alaska
befördern.
Sharon und Mofaz haben weder ein moralisches noch praktisches Problem,
blutige Schlagzeilen zu liefern. Einer von Peretz’ Beratern sprach dies auch
tatsächlich im Fernsehen aus, wurde aber sofort von seinen Kollegen
zurückgepfiffen: "Wie kann man die Armee nur in dieser Weise verleumden?
Während der Wahlkampagne wird dies zu einem Bumerang werden. Und wie
gewöhnlich müssen wir, wenn die Nationalflagge gehisst wird, stramm stehen
und salutieren!" (Es war ausgerechnet Vladimir Jabotinsky, der geistige
Vater des Likud, der einmal sagte: „Ich werde nicht stramm stehen, wenn
jemand die Nationalhymne singt und gleichzeitig meine Taschen leert!“)
Wenn der Eindruck sich verbreitet, dass Peretz keine überzeugende Lösung für
die bestehenden Probleme hat oder - was noch schlimmer ist – dass er eine
Lösung weiß, aber sich fürchtet, sie auszusprechen, dann ist seine
Glaubwürdigkeit als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten gleich
Null.
Es gibt keine andere Wahl. Er muss die Sache klar aussprechen. Und da gibt
es nichts, wovor man sich fürchten sollte.
NEHMEN WIR das Thema Jerusalem.
Seit vielen Jahren wiederholen alle israelischen Regierungen das Mantra:
„Das vereinigte Jerusalem ist die ewige Hauptstadt Israels“. Netanyahu hat
eine schlechte Gewohnheit, alle seine Gegner – von Shimon Peres 1996 bis
Sylvan Shalom vor einer Woche - eines unheimlichen Planes anzuklagen:
„Jerusalem zu teilen“.
Vor zwei Wochen gab Amir Peretz seinen Beratern nach und wiederholte dieses
heilige Mantra: auch er sei für das vereinigte Jerusalem, Hauptstadt
Israels, in alle Ewigkeit. Amen.
Das ist ein verlogenes Statement. (Jedes Kind weiß, dass es keinen Frieden
geben wird, wenn Ostjerusalem nicht die Hauptstadt eines palästinensischen
Staates wird. Peretz weiß dies besser als die meisten anderen.) Ja,
schlimmer noch: es ist ein dummes Statement.
Das wurde am nächsten Morgen klar, als Israels größtes Massenblatt, Yedioth
Aharonot, eine Meinungsumfrage veröffentlichte, die die Politiker
schockierte: 49% der israelischen Öffentlichkeit ist bereit, die Teilung
Jerusalems zu akzeptieren, 49 % sind dagegen. Da ein normaler Mensch
zögert, eine Antwort zu geben, die gegen den angenommenen Konsens geht,
scheint es, die Mehrheit sei nun mit der Teilung der Stadt einverstanden.
Ich selbst war überhaupt nicht überrascht. Nachdem vor acht Jahren Gush
Shalom ein revolutionäres Manifest veröffentlicht hatte: „Das
vereinigte Jerusalem, Hauptstadt von zwei Staaten“, sprach ich mit
einem Taxifahrer darüber. Da die meisten Taxifahrer Super-Patrioten sind,
war ich nicht überrascht, als er „Nein, niemals!“ ausrief. Aber seine
Erklärung überraschte mich: „Ich will kein vereinigtes Jerusalem! Ich will,
dass die Araber aus meinem Blickfeld verschwinden. Lasst sie doch ihre
Stadtteile in Jerusalem zum Teufel nehmen oder zu einem palästinensischen
Staat, es ist mir völlig egal!“
Schon damals brachen wir das Tabu, das Jerusalem umgab. Innerhalb weniger
Wochen unterzeichneten 800 Künstler, Schriftsteller, Dichter und Akademiker
das Manifest und Tausende von Bürgern aus allen sozialen Schichten und
Berufen fügten ihre Unterschrift hinzu. Im Jahr 2000, als man
(irrtümlicherweise) annahm, Ehud Barak wäre dabei, in Camp David
Ostjerusalem „aufzugeben“, gab es keinen Aufschrei im Lande. Bill Clintons
Jerusalemformel vom Januar 2001: „Was arabisch ist, soll palästinensisch
werden und was jüdisch ist, soll zu Israel gehören“ – ist von vielen
angenommen worden. Dies wurde auch von der Genfer Initiative übernommen.
Wenn Peretz dies offen und laut unterstützt hätte, hätte er Punkte gewonnen.
Dies gilt auch für die andern Probleme, die mit dem Frieden zusammenhängen.
Unklarheiten sind für Sharon gut, aber schlecht für Peretz. Seine Stärke
liegt darin, dass seine sozial-wirtschaftliche Botschaft gut in seiner
Botschaft über nationale Sicherheit integriert ist. Es sind die beiden
Seiten derselben Münze. Das ist eine erfrischende und neue Botschaft für die
meisten. Eine richtige und moralische Botschaft und auch eine gute
Wahltaktik.
EINE PERSÖNLICHE Bemerkung: damit ich nicht verdächtigt werde, wie ein
unerfahrener Kommentator, der niemals tatsächlich Verantwortung trug, meine
Meinung zu äußern, möchte ich darauf hinweisen, dass ich selbst fünf
Wahlkampagnen für die Knesset geleitet habe und bei vieren Erfolg hatte. Es
waren zwar nur kleine Parteien, ohne Geld und Apparat - aber was die
Probleme und den Druck betreffen, war der Unterschied nicht so groß.
Man fühlt, dass die Leute jetzt von Täuschungsmanövern die Nase voll haben.
Die Wähler werden immer misstrauischer. Dieses Mal noch mehr als sonst. Sie
wollen klare Botschaften hören. Und tatsächlich, nach all den Aufregungen
der letzten Wochen taucht ein Bild auf, das den Wähler mit einer klaren Wahl
zwischen drei Optionen zeigt:
- Auf dem rechten Flügel hat sich der Likud - unter Netanyahus Führung –
klar zum radikalen Rand verschoben. Netanyahu wird nun versuchen, eine
„moderate“ Maske aufzusetzen, was ihm aber nichts nützen wird. Die Partei
schließt nicht nur offen faschistische Gruppen ein, sondern es ist klar,
dass der ganze Likud dagegen ist, irgend einen Teil von Eretz Yisrael
„aufzugeben“, womit der Frieden von der Agenda gestrichen ist.
- In der Mitte die neue Kadima-Partei - unter Sharons Führung - hat den
Gedanken von Groß-Israel im ganzen historischen Land aufgegeben, ist aber
gegen einen wirklichen Kompromiss mit den Palästinensern, der mit
Verhandlungen und Abkommen erreicht wird. Sharon will mit Gewalt neue
bleibende Grenzen für Israel durchsetzen und den größten Teil der Westbank
und ganz Ostjerusalem annektieren.
- Auf dem linken Flügel, Labor – unter Peretz’ Führung – schlägt
Verhandlungen mit den Palästinensern vor, um einen Frieden durch Kompromiss
zu erreichen.
Peretz wird keine Chance haben, wenn er den Eindruck erweckt, es gäbe keinen
wirklichen Unterschied zwischen ihm und Sharon. Er muss die „Flüchtlinge“
der Laborpartei, die von Sharon angezogen werden, davon überzeugen, dass es
einen Riesenunterschied zwischen seinem Programm (Verhandlungen und
Abkommen) und dem von Sharon gibt (einseitiges Diktat). Sharon ist daran
interessiert, diesen Unterschied herunterzuspielen, und aus derselben Logik
heraus muss Peretz daran interessiert sein, ihn zu betonen.
Leute, die Zweideutigkeit lieben, werden Sharon wählen. Aber ein großer Teil
der Leute – besonders im Zentrum – sehnt sich nach einer kühnen Führung mit
einer klaren Botschaft. Hier – und nur hier! – liegt Peretz’ große Chance.
Wie Rabbi Nachmann von Braslav vor vielen Jahren sagte: „Die ganze Welt ist
wie eine schmale Brücke, und die Hauptsache ist, überhaupt keine Angst zu
haben!“
Blick zurück:
PeReZ ist nicht PeReS
So sagte der Herr: "wegen drei oder vier Frevel der
Laborpartei will ich sie nicht schonen..."
(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
uri-avnery.de /
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hagalil.com 25-01-2004 |