Letzte Ausfahrt [ENGLISH]
[Zur Notwendigkeit einer internationalen
Intervention]
Ze’ev Sternhell, Ha'aretz,
22 August 2003
Die Eskalation im Nahen Osten zeigt: Eine Befriedung
der Region wird es ohne Intervention durch die USA und die Vereinten
Nationen auf gar keinen Fall geben
Der palästinensische Ministerpräsident Mahmud Abbas ist
zurückgetreten, die Israelis haben versucht, den Gründer der Hamas, Scheich
Jassin zu töten, Hamas kündigt Vergeltung an. Die "Hudna", der zaghafte
Versuch, den Friedensprozess wiederzubeleben, scheint gescheitert. Doch
selbst wenn dieses Intermezzo etwas länger gedauert hätte - die harten
Fakten dieses Konfliktes wären wohl unverrückbar die gleichen geblieben: Die
israelische und die palästinensische Regierung sind schlicht nicht in der
Lage, diesen Krieg zu beenden. Sie sind dazu fundamental unfähig -
unabhängig davon, wer gerade die Regierungsgeschäfte führt, ja, sogar
unabhängig davon, ob beide Seiten guten Willens sind oder nicht. Der Kern
des Problems liegt viel tiefer.
Die Verantwortlichkeiten in diesem Konflikt sind in der Tat nicht gleich
verteilt: Auf der einen Seite steht Israel, die weit überlegene militärische
Macht, auf der anderen die Palästinenser, die seit Jahrzehnten unter der
Besatzung leben. Doch Israel und Palästina mangelt es gleichermaßen an der
Fähigkeit, die Situation von außen zu betrachten. Die zentrale Frage ist
keineswegs, was Scharon eigentlich will oder ob Abu Masen die
palästinensischen Massen im Griff hat - die Frage ist, ob diese beiden
Gesellschaften noch über die praktische Fähigkeit verfügen, das Gleis zu
wechseln, auf dem sie sich seit Jahren bewegen. Dieses Problem ist für die
Stärkeren unvergleichlich größer. Es scheint so, als sei Israel nicht in der
Lage, die Besetzung des Westjordanlands und des Gaza-Streifens zu beenden,
weil es selbst an die Besetzung der "territories" gefesselt ist. Israel ist,
nicht weniger als die Palästinenser, seit 1982 Gefangener eines Monsters,
das es selbst geschaffen hat. Damals, als israelische Truppen in den Libanon
einmarschierten, begann der Niedergang der friedenswilligen israelischen
Linken - ein Symbol für das, was seitdem mit der ganzen israelischen
Gesellschaft geschah.
Ähnliches gilt für die palästinensische Gesellschaft. Auch sie ist ein
Gefangener ihrer eigenen Mythen. Die Palästinenser können sich nicht von dem
Traum verabschieden, dass alle Vertriebenen wieder in ihre Heimat
zurückkehren. Die Israelis sind, auf der anderen Seite der Achse, unfähig,
das historische Recht auf Großisrael zu verabschieden. Und weder Israelis
noch Palästinenser können die Extremisten in ihren Gesellschaften in Schach
halten: in unserem Falle die militanten jüdischen Siedler, in ihrem Fall die
Terroristen.
Moralisch gesehen mag es einen Unterschied zwischen Terroranschlägen auf
eine Zivilbevölkerung geben und der brutalen Besetzung der "territories" und
der Demütigung ihrer Bewohner. Politisch spielt der Terror heute eine
ähnlich Rolle wie der jüdische Siedlungsbau. Beides führt geradewegs dazu,
beide Gesellschaften zu paralysieren, den Konflikt zu verstetigen und eine
endlose Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Schwung zu halten.
Deshalb gibt es heute im Grunde nur zwei Möglichkeiten. Wir können uns mit
dem Desaster abfinden, resigniert zusehen, wie die Hudna sich in eine neue
Variante der Intifada verwandelt, und uns in der Sackgasse häuslich
einrichten. Das bedeutet: Es wird noch mehr Besatzung im Westjordanland
geben, und noch mehr Selbstmordanschläge. Noch mehr Busse, Einkaufszentren
und Cafés werden in die Luft fliegen. Die israelische Armee ist bereits
dabei, sich auf dieses Szenario vorzubereiten: Sie hat die Feuerpause dazu
genutzt, mitten im palästinensischen Autonomiegebiet Basen einzurichten.
Es gibt noch eine zweite Möglichkeit - nämlich endlich anzuerkennen, dass
Israelis und Palästinenser nicht fähig sind, von sich aus einen Kompromiss
zu finden. Deshalb wird es keine Lösung ohne Intervention von außen geben -
ohne eine Zwangsmaßnahme, die unter sorgfältiger Aufsicht der
internationalen Gemeinschaft stehen sollte. Wir brauchen einen geschickten,
von den USA und den Europäern getragenen Eingriff, flankiert von einem
umfassenden regionalen Friedensplan. Mit noch einer weiteren unverbindlichen
"Roadmap", die im Nirgendwo endet, ist nichts gewonnen.
Nun fragt sich, ob die USA, denen dabei die Schlüsselrolle zufallen, derzeit
ein echtes Interesse an einer Lösung haben, die mehr wäre als nur ein paar
Risse zu verputzen. Im Moment sieht es leider nicht so aus, dass das Weiße
Haus gewillt ist, Energie und Kreativität in dieses Unterfangen zu
investieren - zumal 2004 Wahlen bevorstehen. Ende 2004 indes kann die Sache
schon ganz anders aussehen.
Falls sich George Bush jedoch eines Tages entschließen sollte, etwas
Wirksames zu tun, wird er dabei mit Zuckerbrot und Peitsche arbeiten müssen.
Die Peitsche brauchen die USA, um ein Abkommen zu erzwingen, das beide
Seiten als schändliche Niederlage und unverdienten Sieg der anderen Seite
deuten werden. Das Zuckerbrot ist ein umfassender, die Region umspannender
Entwicklungsplan. Wirtschaftliche Hilfe wird gerade für die jüdischen
Siedler nötig sein, die nach Israel zurückkehren werden müssen. Das Gleiche
gilt für die meisten palästinensischen Flüchtlinge, die heute im
Westjordanland und in Gaza leben, und die keine Möglichkeit haben werden, in
ihre Heimat von vor 1967 zurückzukehren.
Doch falls es so kommt, wird es wohl rasch zur Ausschüttung einer
Friedensdividende kommen: Es wird einen spürbaren ökonomischen Aufschwung
und eine dramatische Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt geben. Die
wirtschaftlichen, technologischen und wissenschaftlichen Hilfsabkommen
werden Erfolge zeitigen, die jeder Israeli und jeder Palästinenser bemerken
wird - eine kleine Zeitreise ins prosperierende Israel der 50er-Jahre.
Kurzum: Es muss eine erzwungene Lösung her, inklusive der Anwesenheit einer
besser international zusammengesetzten als rein US-amerikanischen Truppe,
die die Einhaltung des Abkommens überwacht. Nur so wird es einen stabilen
Frieden geben - und noch etwas mehr. Auch die Zukunft Israels als jüdischer
Staat kann nur so gesichert werden. Gerade jene also, die noch immer an den
Zionismus glauben, so wie er ursprünglich gemeint war, müssen den Rückzug
Israels aus den besetzten Gebieten akzeptieren. Denn kurzfristig stützt die
Besatzung nur die Anhänger eines Kolonialstaates, den der Zionismus nicht im
Sinn hatte. Und in längeren Zeiträumen gedacht, wird eine stetige Besetzung
jene ermuntern, die einen binationalen Staat auf ihre Fahne schreiben.
Mag sein, dass als dies schwer zu akzeptieren ist. Israel war auch früher
weit davon entfernt, perfekt zu sein. Aber es war eine Heimat, auf die man
stolz sein konnte. Es war ein Land, in dem die Soldaten, unsere Söhne, ihr
Land verteidigten - und keine Internierungslager bewachten. Wer in jenem
Israel leben will, das es einmal gab, wird begreifen müssen, dass am Rückzug
aus dem Westjordanland und einem erzwungenen Frieden kein Weg vorbeiführt.
Es gibt keine dritte Möglichkeit.
Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Reinecke
taz Nr. 7152 vom 9.9.2003, Seite 12, 241 Kommentar ZEEV STERNHELL,
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hagalil.com 10-09-2003
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