Uri Avnery
Marwan Barghouti, der vor Gericht stehende Fatahführer, beendete seine
Schlussrede im Gerichtssaal mit einer schallenden Warnung: Wenn die Israelis
die Zweistaatenlösung nicht bald annehmen werden, dann würde Israel
verschwinden. Das ganze Land wird ein Staat werden, und in diesem Staat
werden die Palästinenser bald die Mehrheit bilden.
Ich weiß nicht, mit wem Barghouti gesprochen hat, bevor er dieses
Argument vorbrachte. Wahrscheinlich waren es Israelis vom linken Flügel, die
von der Brillanz dieser List überzeugt sind.
Und tatsächlich könnte das Argument sehr überzeugend sein. Shimon Peres
und Leute wie er haben es seit langer Zeit angewendet. Es gründet sich auf
folgende vernünftige Vermutung.
- Wenn es etwas gibt, das 99% aller Israelis verbindet, dann ist es der
Wunsch, in einem Staat mit klarer jüdischer Mehrheit zu leben, deren Sprache
und Kultur hebräisch sind.
- Dies ist tief im kollektiven Bewusstsein verwurzelt, zum Teil als Reaktion
auf die Verfolgungen der Juden, den Holocaust und den Antisemitismus in den
Ländern, wo Juden eine Minderheit waren. Natürlich wünschen sich dies alle
anderen Völker auch.
- Für den größten Teil der Israelis würde die Idee des bi-nationalen
Staates, was der Eliminierung des Staates Israel gleichkäme, den Verlust all
dessen bedeuten, was seit 1882 - als die ersten Siedler kamen - im Lande
erreicht wurde.
Deshalb sagen die Verfechter dieser Taktik: "Kommt nicht mit Slogans wie
Frieden, Versöhnung und Hoffnung zu den Leuten! Das funktioniert nicht. Die
jüdische Öffentlichkeit hasst die Araber und traut ihnen nicht."
Stattdessen lasst uns die Hassgefühle und rassistischen Vorurteile nehmen
und einem guten Ziele zuführen. Erzählt der Öffentlichkeit, dass die Idee
der "zwei Staaten für zwei Völker" der einzige Weg ist, unseren Staat zu
retten. Falls dies nicht realisiert wird, wird der Staat Israel
auseinanderfallen, ein bi-nationaler Staat wird erscheinen, und die Juden
werden hier eine schnell kleiner werdende Minderheit werden. Wie die Weißen
in Süd-Afrika, die nach und nach das Land verlassen. Und wenn wir
schließlich wirklich zu einer Minderheit werden, warum dann in einem armen
arabischen Land, das Palästina zu werden droht? Warum nicht in Kanada oder
Australien?
Barghouti ist nicht der einzige, der den Bi-Nationalismus als
Schreckgespenst an die Wand malt. Kürzlich haben mehrere palästinensische
Wortführer genau diese Fahne geschwenkt – nicht weil sie daran glauben,
sondern um die Israelis in Angst und Schrecken zu versetzen, damit sie den
Zwei-Staaten-Plan akzeptieren, der der einzige realistische Friedensplan auf
der Agenda ist. Ich warne vor solch einer Taktik. Sie ist sehr gefährlich.
Es sieht so aus, als gäbe es nur zwei Möglichkeiten: Einen Staat im
ganzen Land, der notwendigerweise bi-national sein wird oder ein
israelischer Staat im einen Teil des Landes – innerhalb der grünen Linie –
daneben ein palästinensischer Staat. Aber da gibt es eine dritte
Möglichkeit: ein israelischer Staat im ganzen Land, aus dem die
palästinensische Bevölkerung vertrieben wird. Nur wenige Israelis sprechen
offen davon, aber ein großer Teil denkt so.
Gute Leute ignorieren diese Alternative, weil sie sie für undenkbar
halten. Sie stellen sich eine ethnische Säuberung im Kosovo-Stil vor: drei
Millionen werden in einem großen dramatischen Akt vertrieben. Sie trösten
sich damit: "Die Welt wird das nicht zulassen! Sharon wird dies nicht
wagen!"
Aber da gibt es andere Wege, ethnische Säuberung zu vollziehen: nicht
dramatisch, sondern langsam, täglich, routinemäßig. Wie z.B. das, was im
Augenblick in Bethlehem geschieht.
Es geschieht folgendermaßen: Auf Land- und Hauseigentümer wird Druck
ausgeübt. Ihnen wird erzählt: es ist besser, wenn ihr uns euren Besitz jetzt
verkauft, bevor die Behörden kommen und ihn aus Sicherheitsgründen enteignen
(in diesem Fall die Sicherheit des nahen Rachelgrabes) Hohe Preise werden
angeboten. Man verspricht ihnen, dass man ihnen zu einem neuen Leben in
Kanada oder Australien verhelfen wird – also weit weg von palästinensischen
Organisationen, die sie wegen Verrats umbringen könnten. Nach einiger Zeit
und nachdem die Verkäufer weit weg in Sicherheit sind, wird der Verkauf der
Öffentlichkeit bekannt gemacht. Die palästinensischen Mieter werden
vertrieben, und ein neues jüdisches Wohnviertel entsteht.
Diese Methoden wurden schon von den "Erlösern des Bodens" (in
zionistischer Terminologie) während der letzten 120 Jahre angewendet. Das
Tempo kann schneller werden. Je höllischer das Leben für die Palästinenser
wird – aus Sicherheitsgründen natürlich – um so mehr hofft die israelische
Führung, dass die Araber "freiwillig" gehen.
Deshalb kann die Idee des "einen Staates zwischen dem Mittelmeer und dem
Jordan" Araber hassende Israelis nicht abschrecken. Sie sehen dies nur als
einen weiteren Grund, immer mehr Siedlungen in der ganzen Westbank zu bauen,
um Israels Herrschaft über diese Gebiete abzusichern. Was die
palästinensische Bevölkerung betrifft – nun, Ariel Sharon und seinesgleichen
haben eine Menge Erfahrung, wie man mit ihr umgeht.
Tatsächlich sind solche Tricks nicht nötig, um die Zwei-Staaten-Lösung zu
unterstützen. Sie spricht für sich selbst. Langsam und sicher überzeugt sie
die Israelis, wie sie das Quartett (die USA, Russland, EU und UNO) und die
Weltgemeinschaft überzeugt hat. Jene, die das anzweifeln, sollten sich das
Statement der 27 Kampfpiloten ansehen (die inzwischen 30 sind, nachdem zwei
unter Druck aufgegeben haben und 5 dazu gekommen sind).
Die "Piloten des Gewissens", die aus der Mitte der israelischen
Gesellschaft kommen, sind wie die Schwalben, die den Frühling ankünden (wie
ein hebräisches Sprichwort sagt). Das Volk hat genug von der Besatzung,
genug von der Unterdrückung, genug vom Krieg.
Es ist nicht nötig, die israelische Gesellschaft zu überzeugen, dass sich
der Frieden lohnt. Aber sie muss davon überzeugt werden, dass Frieden
möglich ist. In dieser Hinsicht können Leute wie Barghouti eine Menge tun.
Und die Menschen in Israel müssen lernen, auf das zu hören, was sie zu sagen
haben.