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Middle East Roundtable /
Edition 4 Volume 1
Aus palästinensischer Sicht:
Feigenblatt oder Vorspiel für Fortschritt?
von
Ghassan Khatib
Optimisten im palästinensisch-israelischen Konflikt bauen ihre Hoffnungen
auf bestimmte kürzlich erfolgte Veränderungen. Zu diesen zählen die
Labour-Likud-Koalition in Israel, die altneue Regierung in Washington, die
Abwesenheit von Präsident Arafat, der allmähliche Übergang in Palästina
sowie die baldigen Wahlen.
Unter
diesen Veränderungen ist die Koalition in Israel wohl am wenigsten wichtig,
obwohl sie als Indikator für mögliche Veränderungen in Israel gelten kann.
Die Rede des israelischen Premierministers Ariel Scharon bei der
Herzliya Conference
enthielt nichts substantiell Neues, aber sie schlug einen leicht veränderten
Tonfall an, indem dieser Führer des rechten Flügels die Probleme ansprach,
die daraus entstehen, dass die Israelis ein anderes Volk besetzt halten
(dieser veränderte Tonfall bedeutet nicht wirklich Veränderung, weil er sich
nicht auf die Probleme durch die Kontrolle des Landes eines anderen Volkes
bezog).
Aus
palästinensischer Sicht besteht weniger Aufregung über die Koalition als
vielleicht aus israelischer Sicht. Ein Grund dafür ist die kürzliche
Erfahrung einer solchen von Scharon geführten Koalition, in der keine
ernsthafte Veränderung der Positionen und Praktiken seiner Führung
stattfand. Die Regierung der vorigen Koalition von Scharon und dem
Labour-Vorsitzenden Schimon Peres war wirklich bloß eine Fortführung der
Likud-Regierung, allein, sie hatte wegen Peres' hohen internationalen
Ansehens ein besseres PR-Image.
Die
Koalition beginnt zu einer ziemlich entscheidenden Zeit, der Zeit eines
möglichen einseitigen Rückzugs von israelischer Armee und Siedlern aus
einigen Siedlungen in Gaza und der nördlichen Westbank. Falls dieser Plan so
verwirklicht wird, wie er erklärt wurde, werden die Dinge nicht vorankommen.
Wie schon der Report der Weltbank im vorigen Monat ausführte, wird der Plan
hingegen zu einem zukünftigen wirtschaftlichen Niedergang führen, also zu
Einkommensrückgang, weniger Wachstum und zu mehr Arbeitslosigkeit.
Trotzdem
könnte der Plan auf eine Art weiterentwickelt werden, die dem Frieden dient,
wenn in einen umfassenderen Kontext gestellt und nicht einseitig angewandt
würde. Damit das geschehen kann, sind die folgenden drei Zusätze notwendig.
1) Der
Rückzug aus Gaza sollte parallel mit einem vollständigen Stop aller
Siedlungsaktivitäten in der Westbank erfolgen. 2) Das Ende der Besetzung von
Gaza sollte vollständig sein, einschließlich dem Ende der israelischen
Kontrolle der Grenzen und einschließlich der Erlaubnis der freien Bewegungen
von Gütern und Menschen über Meer und Flughafen. 3) Freie Bewegung zwischen
und innerhalb der Westbank und Gaza muss gestattet werden.
Fügen Sie
diese drei Elemente dem Plan hinzu, und die Gesamtsituation kann sich
politisch, wirtschaftlich und in puncto Sicherheit verbessern. Das könnte
sogar den Boden für eine Wiederaufnahme von Verhandlungen bereiten.
Falls die
Labour-Partei bei ihrer Beteiligung an der Regierung nicht fähig ist, diesen
unilateralen Plan in der oben genannten Richtung weiterzuentwickeln, wird
ihre Mitgliedschaft in der Regierung eine gefährliche Entwicklung sein -
denn dann wird dadurch einfach nur die bisherige israelische Führung
gestärkt, die für das Unglück verantwortlich ist, in dem wir feststecken.
Dies ist
ein bedeutender Wendepunkt in der Geschichte des Nahostkonflikts, und viele
Menschen erkennen Gelegenheiten zum Vorwärtsgehen. Aber auch eine
Verstärkung der internationalen Anstrengungen durch die Quartet Countries (die
USA, Russland, die EU und die Vereinten Nationen) auf der Grundlage der
Roadmap ist an der Zeit und wäre nützlich. Die erste Phase der Roadmap sieht
ein umfassendes Maßnahmenpaket vor, das nötig ist, um die Dinge vorwärts zu
treiben, weil es politische Komponenten wie den Stop der Ausweitung der
Siedlungen enthält; wirtschaftliche Komponenten wie die Erhöhung
internationaler Hilfeleistungen und die Entfernung der von den Israelis
errichteten Hindernisse für die wirtschaftliche Erholung der
palästinensischen Gebiete; und schließlich Sicherheits-Komponenten, eine
Verpflichtung beiderseits von Israelis und Palästinensern, gleichzeitig die
Gewaltakte gegeneinander zu stoppen.
20/12/2004 (c)
bitterlemons.org
Übersetzung: Robert
Cohn
Ghassan Khatib ist Mitherausgeber von bitterlemons.org und von
bitterlemons-international.org. Er ist Arbeits- und Planungsminister der PA
und er arbeitete viele Jahre als politischer Analyst und Pressesprecher.
[English]
Bitterlemons-international.org ist ein Internetforum für Perspektiven
des Nahen Ostens und seinen besonderen Gegebenheiten. Bitterlemons hofft,
zum Verständnis über den Nahen Osten beizutragen und will einen neuen
gemeinsamen Raum für Denker und Politiker und deren Meinungen und
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und Yossi Alpher, sind unter
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23-08-2004 |