Selbstverschuldete Unmündigkeit
von Yvel Kugelmann
Dialog, Diskurs. Dialektik. Was gibt
es Jüdischeres als den Diskurs, die dialektische Diskussion, das ständige
sich und alles andere, die eigenen Positionen in Frage stellen, die
unentwegte Reflexion, das Streitgespräch, das in Worten Grenzen
überschreiten lässt, die Herausforderung durch das unsanktionierte Reden,
welches die Antennen für Gefahren und Chancen schärft?
Was gibt es Wesentlicheres als die unveränderbare Emanzipation der Juden
durch Judentum, Aufklärung und Israel, die jedes von außen und selbst
auferlegte Ghetto in die Verbannung katapultiert, wenn Juden selbst – und
nicht nur die Gesellschaft – Juden als emanzipiert ansehen?
Der Weg ist das Ziel. Die Befürworter
überschätzen die „Genfer Initiative“, doch Gegner unterschätzen sie. Denn
noch mehr, als dass der umfassende und pragmatische Initiative-Text
greifbare Lösungen anbietet, durchbricht dieser Dialog die dreijährige
Absenz von Verhandlungen, die Eigendynamik der Verhärtung auf beiden Seiten,
die Willkür einer Nichtsituation, da alles der Gewalt, nicht den Worten
überlassen wird.
Die Möglichkeit des Konjunktivs. Da
haben nicht linke Naive, linke Multikultis, linke
Wir-nehmen-alles-in-Kauf-nur-um-lieb-und-humanistisch-und-tolerant-zu-sein-Freaks,
nein da haben Militärs, Intellektuelle einen für alle Seiten schmerzlichen
Kompromiss ausgearbeitet, einst in Verantwortung gestandene Realpolitiker,
die heute nicht einfach nur die Linke ausmachen, die beweisen, was möglich
ist, wenn wieder politische Lösungen angepeilt werden, abseits von den alles
negierenden und vereinnahmenden Militärstrategien, die über berechtigte
Sicherheitsanliegen den Nahostkonflikt in ein Vakuum verbannt haben. Da
haben nicht ein paar Spinner Naivitäts-Science-Fiction notiert, sondern
Lösungen zu Papier gebracht, die jedem längst einleuchten, der die
Nahostdebatte mit dem Kopf und nicht mit dem Bauch führt, der nicht als
Geisel einer Ideologie argumentiert, die Geschichte, die Religion
instrumentalisiert. Deshalb ist der Inhalt des Abkommens nicht nur
umfassend, sondern inhaltlich relevant, formal für niemanden bindend, nur
für jene, die dem Dialog aus dem Weg gehen: Denn die Initiative zeigt, was
möglich sein könnte. Ja. Vieles kann, soll am Abkommen kritisiert werden,
viele legitime Wenn und Aber stehen für alle Seiten im Raume. Und deshalb
muss die Bemühung mit Respekt anerkannt werden, dass Menschen in
Verantwortung um Menschen Konzessionen um Land und Grenzen eingehen für
Menschen. Im demokratischen Diskurs kann so etwas geschehen, kann so etwas
kritisiert werden, aber niemand hat ein geschriebenes oder ungeschriebenes
Gesetz mit diesem Dialog gebrochen und deshalb entlarven Art und Inhalt der
Kritik mehr die Kritiker, als dass sie etwas über die Initiative aussagen.
Menschen haben mit Menschen geredet über das, was möglich wäre.
Die Diktatur des vermeintlichen
Schweigens. Mit Abwesenheit glänzte in Genf der geladene Schweizerische
Israelitische Gemeindebund (SIG). Nachdem die jüdische Repräsentanz in den
letzten Wochen in Zusammenhang mit ihrer Stellung zum Nahostkonflikt und zur
„Genfer Initiative“ einmal mehr hatte verlauten lassen, sie sei nicht der
verlängerte Arm Israels und möchte die Beziehungen zu den Behörden nicht mit
Kritik an der Initiative belasten, Israel und Juden sollten nicht
gleichgesetzt werden, verübte mit der Absenz in Genf die Gleichsetzung
gleich selbst. Denn statt die Schweizer Juden zu vertreten, von denen ein
großer Teil für, ein großer Teil gegen die „Genfer Initiative“ ist,
solidarisiert sich der SIG mit der vehementen und für den Staat Israel teils
verständlichen Kritik an der Initiative. Menschen reden mit Menschen, und
der SIG ist nicht dabei, denn er verwechselt die Präsenz mit der
Unterstützung des Abkommens, statt die Repräsentationspflicht der Schweizer
Juden wahrzunehmen.
Dialog vs. Ghetto.
Reden ist nicht unverbindlich, aber bindet niemanden. Das ist das
Wesen dieser Initiative. Wer sich nicht in den Dialog einbringt, kann nicht
mitgestalten. Es wäre insofern sinnvoll, wenn der SIG sich wieder politisch
einbringen würde, anstatt das Feld alleine denen zu überlassen, die nicht
mehr warten können, bis der SIG sich wieder einbringt. Seien wir also wieder
selbstverschuldet mündig.
Der Beitrag erschien als Editorial im Schweizer jüdischen Wochenmagazin „Tachles“
am 5.12.2003. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis der Reproduktion.
http://www.genfer-initiative.de
http://reiner-bernstein.de
hagalil.com
16-02-2004 |