Jüdisches Leben in EuropaMit der Hilfe des Himmels

Promises - endlich auf Video!


 

Selbstverschuldete Unmündigkeit

von Yvel Kugelmann [1]

Dialog, Diskurs. Dialektik. Was gibt es Jüdischeres als den Diskurs, die dialektische Diskussion, das ständige sich und alles andere, die eigenen Positionen in Frage stellen, die unentwegte Reflexion, das Streitgespräch, das in Worten Grenzen überschreiten lässt, die Herausforderung durch das unsanktionierte Reden, welches die Antennen für Gefahren und Chancen schärft?
Was gibt es Wesentlicheres als die unveränderbare Emanzipation der Juden durch Judentum, Aufklärung und Israel, die jedes von außen und selbst auferlegte Ghetto in die Verbannung katapultiert, wenn Juden selbst – und nicht nur die Gesellschaft – Juden als emanzipiert ansehen?

Der Weg ist das Ziel. Die Befürworter überschätzen die „Genfer Initiative“, doch Gegner unterschätzen sie. Denn noch mehr, als dass der umfassende und pragmatische Initiative-Text greifbare Lösungen anbietet, durchbricht dieser Dialog die dreijährige Absenz von Verhandlungen, die Eigendynamik der Verhärtung auf beiden Seiten, die Willkür einer Nichtsituation, da alles der Gewalt, nicht den Worten überlassen wird.

Die Möglichkeit des Konjunktivs. Da haben nicht linke Naive, linke Multikultis, linke Wir-nehmen-alles-in-Kauf-nur-um-lieb-und-humanistisch-und-tolerant-zu-sein-Freaks, nein da haben Militärs, Intellektuelle einen für alle Seiten schmerzlichen Kompromiss ausgearbeitet, einst in Verantwortung gestandene Realpolitiker, die heute nicht einfach nur die Linke ausmachen, die beweisen, was möglich ist, wenn wieder politische Lösungen angepeilt werden, abseits von den alles negierenden und vereinnahmenden Militärstrategien, die über berechtigte Sicherheitsanliegen den Nahostkonflikt in ein Vakuum verbannt haben. Da haben nicht ein paar Spinner Naivitäts-Science-Fiction notiert, sondern Lösungen zu Papier gebracht, die jedem längst einleuchten, der die Nahostdebatte mit dem Kopf und nicht mit dem Bauch führt, der nicht als Geisel einer Ideologie argumentiert, die Geschichte, die Religion instrumentalisiert. Deshalb ist der Inhalt des Abkommens nicht nur umfassend, sondern inhaltlich relevant, formal für niemanden bindend, nur für jene, die dem Dialog aus dem Weg gehen: Denn die Initiative zeigt, was möglich sein könnte. Ja. Vieles kann, soll am Abkommen kritisiert werden, viele legitime Wenn und Aber stehen für alle Seiten im Raume. Und deshalb muss die Bemühung mit Respekt anerkannt werden, dass Menschen in Verantwortung um Menschen Konzessionen um Land und Grenzen eingehen für Menschen. Im demokratischen Diskurs kann so etwas geschehen, kann so etwas kritisiert werden, aber niemand hat ein geschriebenes oder ungeschriebenes Gesetz mit diesem Dialog gebrochen und deshalb entlarven Art und Inhalt der Kritik mehr die Kritiker, als dass sie etwas über die Initiative aussagen. Menschen haben mit Menschen geredet über das, was möglich wäre.

Die Diktatur des vermeintlichen Schweigens. Mit Abwesenheit glänzte in Genf der geladene Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG). Nachdem die jüdische Repräsentanz in den letzten Wochen in Zusammenhang mit ihrer Stellung zum Nahostkonflikt und zur „Genfer Initiative“ einmal mehr hatte verlauten lassen, sie sei nicht der verlängerte Arm Israels und möchte die Beziehungen zu den Behörden nicht mit Kritik an der Initiative belasten, Israel und Juden sollten nicht gleichgesetzt werden, verübte mit der Absenz in Genf die Gleichsetzung gleich selbst. Denn statt die Schweizer Juden zu vertreten, von denen ein großer Teil für, ein großer Teil gegen die „Genfer Initiative“ ist, solidarisiert sich der SIG mit der vehementen und für den Staat Israel teils verständlichen Kritik an der Initiative. Menschen reden mit Menschen, und der SIG ist nicht dabei, denn er verwechselt die Präsenz mit der Unterstützung des Abkommens, statt die Repräsentationspflicht der Schweizer Juden wahrzunehmen.

Dialog vs. Ghetto. Reden ist nicht unverbindlich, aber bindet niemanden. Das ist das Wesen dieser Initiative. Wer sich nicht in den Dialog einbringt, kann nicht mitgestalten. Es wäre insofern sinnvoll, wenn der SIG sich wieder politisch einbringen würde, anstatt das Feld alleine denen zu überlassen, die nicht mehr warten können, bis der SIG sich wieder einbringt. Seien wir also wieder selbstverschuldet mündig.

[1]   Der Beitrag erschien als Editorial im Schweizer jüdischen Wochenmagazin „Tachles“ am 5.12.2003. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis der Reproduktion.


http://www.genfer-initiative.de http://reiner-bernstein.de

hagalil.com 16-02-2004

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