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NACH DEN ANSCHLÄGEN IN RIAD:
DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN RIAD UND WASHINGTON

Prinzen und Falken gemeinsam gegen den Terror

In einem Ende Mai veröffentlichten Interview mit dem britischen Magazin "Vanity Fair" räumte der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz ein, dass es beim Irakkrieg doch nicht in erster Linie um die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen gegangen sei. Viel wichtiger als Kriegsgrund sei gewesen, dass man nach einem "Regimewechsel" in Bagdad die US-Truppen aus dem benachbarten Saudi-Arabien abziehen könne. Wenn die USA Saudi-Arabien von dieser "Last" befreien, so die vorgetragene Hoffnung, könne das den Frieden in der Region befördern.

Die saudische Herrscherfamilie hat einen schwierigen Balanceakt zu vollführen: Sie muss den Kampf gegen den islamistischen Terror führen, ohne die religiöse Legitimierung ihrer Monarchie zu gefährden. Und sie muss auf die saudische Bevölkerung, die den Demokratisierungsparolen der Vereinigten Staaten misstraut, Rücksicht nehmen, ohne antiamerikanische Gefühle zu bedienen, denn damit würde sie das traditionelle Einvernehmen mit Washington strapazieren.

Von ALAIN GRESH *

ZWISCHEN den beiden Ländern bestanden stabile, freundschaftliche Beziehungen, als der saudische Kronprinz in einem Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten erstaunlich unverblümt schrieb: "Ich an Ihrer Stelle würde mich um den Abbau Ihrer Militärbasis in unserem Land bemühen. Falls es irgendwann nötig sein sollte, können wir Ihnen die Anlage jederzeit erneut zur Verfügung stellen." Damals gab es um die US-Basis in Dahran, im Osten Saudi-Arabiens, heftige Debatten in allen Ländern des Nahen Ostens. Das Schreiben stammte von Prinz Faisal und war gerichtet an John F. Kennedy - der US-Präsident erhielt es Ende 1960. Einige Monate danach zogen sich die USA aus Dahran zurück.

Im Jahr 2003, da die USA beschließen, ihr Militärpotenzial vom Stützpunkt "Prinz Sultan" abzuziehen, ist diese Episode, die ein Mitglied der Königsfamilie berichtet, geeignet, die aktuellen Geschehnisse zu relativieren. Eine ernste Krise zwischen den beiden Ländern jedenfalls verneint mein Gesprächspartner entschieden: "1991 lagen die Dinge anders, da stellte Saddam Hussein auch nach seiner Niederlage immer noch eine Bedrohung dar. Außerdem war die Einrichtung von Flugverbotszonen im Irak beschlossen worden, deren Überwachung die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich übernahmen. Damit die Flugzeuge von Saudi-Arabien aus starten konnten, haben wir damals den Vertrag von Safwan unterzeichnet - um einen richtigen Militärstützpunkt ging es dabei eigentlich nicht." Mit einem Lächeln fügt der Prinz hinzu: "Wir lassen uns nicht gern in die Karten schauen und haben diese Vereinbarungen in unserem Land nicht öffentlich gemacht, sodass viele annehmen mussten, es sei tatsächlich auf Dauer eine US-Militärbasis eingerichtet worden."
In den 1950er-Jahren hatten die arabischen Nationalisten, vor allem Ägypten unter Gamal Abdel Nasser, die Errichtung des Stützpunkts in Dahran heftig kritisiert. Nach dem Golfkrieg von 1990 bis 1991 waren es radikale Islamisten wie Ussama Bin Laden, die Saudi-Arabien wegen der Stationierung von rund 4 500 amerikanischen Soldaten angriffen - zwei Anschläge, im November 1995 und im Juni 1996, galten den US-Truppen.1
Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein mussten Riad und Washington die wachsende Ablehnung der US-Präsenz in der saudischen Bevölkerung in ihre Überlegungen einbeziehen. Schon seit dem Beginn der zweiten Intifada trug die Solidarität mit dem palästinensischen Volk viel zu einer amerikafeindlichen Stimmung bei. Der jetzt geplante Rückzug bedeutet jedenfalls alles andere als das Ende der militärischen Zusammenarbeit: Der Stützpunkt wird den USA weiterhin zur Verfügung stehen, die Zahl der amerikanischen Militärberater soll erhöht werden, und im Laufe des Sommers kommt erstmals seit 2001 wieder der gemeinsame Generalstab zu Beratungen zusammen.2 Bis 1990 habe es schließlich auch keine amerikanische Militärbasis im Land gegeben, so die Erklärung aus Riad, und schon allein die Tatsache, dass "jenseits des Horizonts" US-Militär präsent war, habe die Sicherheit des Königreichs gewährleistet.3
Auch im jüngsten Irakkrieg bewährte sich das gute Einvernehmen zwischen den beiden Ländern: Trotz aller Dementis leistete Riad den USA unauffällig, aber wirkungsvoll militärische Unterstützung. In den Wochen vor Beginn der Kampfhandlungen stieg die Zahl der US-Soldaten in Saudi-Arabien auf fast 10 000. Der Prinz-Sultan-Stützpunkt konnte als Befehlszentrum für den gesamten Luftkrieg genutzt werden.4 Zugleich wurden auf die Luftwaffenstützpunkte Arar und Tabuk im Nordosten US-Eliteeinheiten verlegt, die später Kommandoeinsätze im Inneren des Irak durchführten. "Ohne die Hilfe Saudi-Arabiens hätten wir den Irakkrieg nicht so führen können, wie wir es getan haben", meint ein US-Diplomat in Riad.
Aus dem Widerspruch zwischen der offiziellen Position - der Verurteilung eines Angriffs gegen den Irak - und dem tatsächlichen Verhalten der Saudis erklärt sich auch deren zwiespältige Reaktion auf die Initiativen Frankreichs. In der Öffentlichkeit wurde der französische Widerstand gegen die Vorgaben der USA begeistert aufgenommen, während Vertreter des Regimes wiederholt Kritik äußerten. "Durch seine Weigerung, der zweiten UN-Resolution zuzustimmen, hat Frankreich die USA zum unilateralen Eingreifen quasi gezwungen", erklärt ein hoher Staatsdiener. "Jetzt schert sich Amerika nicht mehr um die UNO und macht, was es will." Was dabei nicht zur Sprache kommt: Eine Resolution des UN-Sicherheitsrats hätte auch die militärische Zusammenarbeit der Saudis mit den USA legitimieren können. Stattdessen sah sich das Königreich zum Lavieren zwischen unvereinbaren Positionen genötigt.
Der Herrscherfamilie blieb kaum eine Wahl: Seit dem 11. September 2001 ist ihr politischer Handlungsspielraum sehr begrenzt. Da an den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon fünfzehn saudische Staatsbürger beteiligt waren, steht das Königreich immer wieder als Brutstätte des islamischen Terrorismus am Pranger. Nach aufwändigen Recherchen kamen US-amerikanische Journalisten zu der erschreckenden Einsicht, dass Saudi-Arabien keine Demokratie sei - dort werden tatsächlich die Menschenrechte missachtet, und Frauen dürfen sich nur verschleiert zeigen. Einflussreiche Kommentatoren, vor allem aus dem Milieu der Neokonservativen und der christlichen Fundamentalisten, wollten das Königreich bereits als nächstes Angriffsziel sehen und das Land sogar teilen, mit einer "Schiitenrepublik" im Osten, der Region mit den größten Ölvorkommen.
Unter diesen Umständen wäre es politischer Selbstmord gewesen, den Forderungen der USA in der Irakfrage nicht nachzukommen. Ein saudisches Nein hätte die am 14. Februar 1945 gelegten Grundfesten der Außenpolitik erschüttert: Damals machte König Ibn Saud, der Begründer der Monarchie, dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt seine Aufwartung auf dem US-Kriegsschiff USS Quincy im Suezkanal. Eine langfristige Zusammenarbeit wurde vereinbart, die sich auf handfeste gemeinsame Interessen stützte. Ibn Saud ging es vor allem darum, mit Hilfe der USA den Fortbestand seines Königreichs zu sichern. In den 1940er-Jahren musste sich Saudi-Arabien gegen die Ansprüche der haschemitischen Herrscher in Jordanien und im Irak zur Wehr setzen, in den 1950er-Jahren kamen die Ambitionen Ägyptens unter Gamal Abdel Nasser hinzu und nach 1979 die Anziehungskraft der islamischen Revolution im Iran. Der "Versicherungsfall" trat im August 1990 ein, als die USA nach der irakischen Invasion in Kuwait 500 000 Soldaten auf die arabische Halbinsel schickten.
Die USA interessierte an Saudi-Arabien vor allem eins - das Erdöl. 1938 hatte eine amerikanische Ölgesellschaft die ersten Ölvorkommen auf der saudischen Halbinsel entdeckt, rund ein Viertel der weltweiten Ölvorräte lagern dort. Das Königreich wurde innerhalb weniger Jahrzehnte zum größten Erdölproduzenten der Welt und damit zur wichtigsten Quelle für die Versorgung des Westens mit billiger Energie. Es macht seine Sonderstellung aus, dass allein Saudi-Arabien jederzeit in der Lage ist, seine Fördermengen im Handumdrehen um mehrere Millionen Barrel pro Tag zu steigern. Nach dem 11. September 2001 und während der jüngsten Irakkrise wurde auf diese Weise der Markt beruhigt. Mindestens zehn Jahre dürfte es dauern, bevor irgendein anderes Land, einschließlich des Irak, diese Rolle übernehmen könnte.
"Man darf das Bündnis zwischen Saudi-Arabien und den USA nicht auf die Formel ,Öl gegen Sicherheit' reduzieren", meint ein saudischer Intellektueller. "Das Königreich hat während des gesamten Kalten Krieges eine besondere Rolle in der Abwehrstrategie gegen die Sowjetunion gespielt: Mit saudischem Geld wurden so unislamische Bewegungen wie die Unita in Angola und die Contras in Nicaragua finanziert, aber eben auch die Mudschaheddin in Afghanistan, die Moskau in den 1980er-Jahren eine schwere Niederlage beibrachten. Mit dem Zerfall der Sowjetunion hat Saudi-Arabien diese Schlüsselrolle eingebüßt."
Nach dem 11. September 2001 gerieten die Beziehungen zwischen den beiden Ländern - bis dahin Sache außenpolitischer Experten - plötzlich ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Dabei zeigte sich, dass Unkenntnis auf beiden Seiten zu vielfachen Missverständnissen führte. Abdelhamed al-Gatami, Literaturwissenschaftler an der König-Saud-Universität in Riad, ein westlich gebildeter Intellektueller, der gern Foucault oder Derrida zitiert, hat ein Buch über die Kultur in den USA geschrieben, und er kommt aus dem Staunen über das, was er in den 1990er-Jahren dort erfahren hat, nicht heraus.
"Über Saudi-Arabien wissen die Amerikaner überhaupt nichts. Sie stellen sich das Land als eine von Beduinen bevölkerte Wüste vor. Dass es hier Städte gibt und eine Mittelschicht, ist ihnen unbekannt. Und seit dem 11. September halten sie uns für den Hort alles Bösen - unsere Gesellschaft wird umstandslos mit dem Terrorismus gleichgesetzt. Hat man etwa ganz Japan für die Anschläge der japanischen Roten Armee verantwortlich gemacht? Solche groben Vereinfachungen fördern den Terrorismus, weil sie den radikalen Gruppen das Argument liefern, es gehe den USA gar nicht um den Terror, sondern sie seien grundsätzlich unserer Gesellschaft, den Arabern, dem Islam gegenüber feindselig eingestellt. Es ist Wasser auf deren Mühlen, wenn in Amerika der Prophet Mohammed als Terrorist bezeichnet und öffentlich ein Atomschlag gegen Mekka gefordert wird."
Auf eine Billion US-Dollar belaufen sich die Schadenersatzklagen gegen Institutionen und führende Politiker vor allem in Saudi-Arabien, die von sechshundert Angehörigen der Opfer des 11. September angestrengt wurden. Nach einer kürzlich erfolgten Klageerweiterung stehen neben dem mächtigen Verteidigungsminister Prinz Sultan nun auch einflussreiche radikale Wahhabiten wie Salman al-Awdah und Safar Hawali auf der Liste der Beklagten. Das Verfahren schwebt wie ein Damoklesschwert über den saudischen Anlagevermögen in den USA: 450 Milliarden Dollar könnten konfisziert werden. Gerüchte über einen umfassenden Rückzug aus dem US-Geschäft scheinen bislang unbegründet, aber die Saudis zögern natürlich, dort weiteres Geld zu investieren. Das wiederum erklärt den Aufwärtstrend an der Börse in Riad und im Immobiliengeschäft. Schließlich schwimmt das Königreich nicht nur im Öl, sondern auch im Geld - und dieses Kapital braucht Anlagemöglichkeiten.

Stille Zusammenarbeit mit den USA

UM sein Image aufzupolieren, leistete sich Saudi-Arabien im ersten Halbjahr 2002 eine aufwändige Werbekampagne. Die Washingtoner PR-Agentur Qorvis Communication kassierte dafür 14,6 Millionen Dollar. "Rausgeworfenes Geld", lautet der verächtliche Kommentar eines saudischen Geschäftsmanns. Als wirkungsvoller erwies sich die mutige Nahost-Friedensinitiative von Kronprinz Abdallah: Beim Gipfel in Beirut im März 2002 akzeptierten alle arabischen Staaten den Plan, der Israel ein umfassendes Friedensabkommen im Tausch gegen die Anerkennung eines Palästinenserstaats anbot. Die "stille Zusammenarbeit" mit den USA während des Irakkriegs nahm auch den Falken im Pentagon etwas den Wind aus den Segeln. Dort war schon zu hören gewesen, dass Washington Saudi-Arabien nun "fallen lassen" könne - man verfüge schließlich über militärische Einrichtungen im Irak und in allen Golfemiraten.
"Wir haben lange gebraucht, um zu begreifen, was für ein Schock der 11. September für die US-amerikanische Gesellschaft war", räumt ein saudischer Regierungsvertreter ein. Noch sechs Monate nach den Anschlägen erklärten hohe Funktionäre im Innenministerium herablassend, es gebe nicht den geringsten Beweis für eine Verwicklung saudischer Staatsbürger in die Attentate. Das behauptet heute zwar niemand mehr, aber die saudische Bevölkerung macht keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die US-amerikanische Politik, und der weniger stark zensierte Teil der Presse greift diese Stimmung auf. Besonders herzlich war das Verhältnis zwischen den USA und Saudi-Arabien nie, heute ist es geprägt von tiefem Misstrauen.
Das sieht auch Abdel Mohsen al-Akkas, leitender Mitarbeiter des Zeitungsverlags Schark al-Ausat und Mitglied der Beratenden Versammlung Madschlis al-Schura: "Ja, unser Verhältnis zu den USA ist abgekühlt. Es sind viele Geschichten im Umlauf, auch einige über schlimme Misshandlungen. Man erzählt sich, dass Saudis bei Zwischenlandungen aufgehalten werden, damit sie ihre Anschlussflüge verpassen und eventuelle Anschlagspläne durchkreuzt werden … Aber wer will das alles überprüfen?"
Die Bevölkerung weiß aus Erfahrung, dass es heute länger dauert, bis man ein Visum bekommt, und dass bei der Einreise in die USA schärfer kontrolliert wird. Angst hat sich verbreitet, und das hält viele vom Reisen ab. Die Zeitungen berichten über die 130 saudischen Gefangenen in Guantánamo, über die Haftbedingungen, die so gar nicht zu den proklamierten Idealen Amerikas passen. Zudem sind alle Saudis, selbst die deutlich "verwestlichten", ehrlich empört über die gnadenlose Unterdrückung der Palästinenser. So erklärt sich der Erfolg von Boykottkampagnen gegen amerikanische Produkte - er wird zumindest behauptet, zu spüren ist die Wirkung allenfalls bei Zigaretten und McDonalds-Restaurants.
Den entscheidenden Belastungstest werden die Beziehungen zwischen den beiden Ländern bei der Terrorismusbekämpfung zu bestehen haben. "Über Jahrzehnte hat das Königreich seine rigoristische Auffassung des Islam exportiert", erklärt ein saudischer Journalist. "Ihren Höhepunkt erreichten diese Bemühungen während des Kriegs gegen die Sowjets in Afghanistan. Aber mit dem Ende des Kalten Krieges war das ganze politische, religiöse und finanzielle Netz plötzlich überflüssig. Einige haben sich dann dem Kampf gegen andere ,Ungläubige' verschrieben, namentlich gegen die USA."
Nach Ende des ersten Golfkriegs (1990-1991) unterzog Riad die finanzielle Unterstützung verschiedener Organisationen einer schärferen Kontrolle - schließlich hatten einige von ihnen Partei für Saddam Hussein ergriffen. Der für die Vergabe zuständige Rat der hohen religiösen Würdenträger unter Scheich Abdelasis Ben Bas hatte bis dahin weitgehend freie Hand gehabt. Im Juli 1993 wurde Ben Bas zum Großmufti im Ministerrang ernannt, musste aber einige seiner finanziellen Zuständigkeiten an das neu geschaffene Ministerium für Islamische Angelegenheiten abgeben. Bislang hat sich die Neuregelung der Zuständigkeiten jedoch noch nicht bewährt.
Unmittelbar nach dem 11. September 2001 erhöhten die Vereinigten Staaten den Druck auf Saudi-Arabien. "Wir arbeiten jetzt besser zusammen, um zu kontrollieren, wohin die gezahlten Gelder letztlich gehen", berichtet Abdel Mohsen al-Akkas. "Das nützt beiden Seiten. Und wir bereiten bei uns auch eine entsprechende gesetzliche Regelung vor." Mitte Mai gaben die Behörden die Schließung aller Auslandsbüros der Stiftung al-Haramain bekannt, gegen die von amerikanischer Seite wiederholt Vorwürfe erhoben worden waren. Die Saudis machten "Fortschritte", hieß es in Washington, sie seien aber "noch nicht konsequent genug".
Die wichtigsten Aufgaben, denen sich die saudische Führung zu stellen hat, sind allerdings nicht sicherheitspolitischer, sondern gesellschaftlicher Art. Kritik an den sozialen Bedingungen, unter denen Dschihad-Gruppen Zulauf finden, wurde auch schon vor den furchtbaren Anschlägen vom 13. Mai 2003 formuliert.
Etwa von Mansur al-Ngidan, der entschlossen gegen radikalreligiöse Vorstellungen Position bezieht, obwohl er einst auf der anderen Seite stand. Geboren 1970 in Buraida, einer äußerst konservativen Stadt im Nedsch, der Wiege des Königreichs, brach er sein Universitätsstudium ab, widmete sich religiösen Studien und lernte den Koran auswendig. Unter dem Einfluss von Islamisten wollte er zur "Propaganda der Tat" übergehen: Der Versuch, einen Videoladen in Brand zu stecken, brachte ihn ins Gefängnis - und markierte den Beginn einer inneren Umkehr. "Unsere Krise ist vor allem eine des Denkens. Wir behaupten, mit den Terrororganisationen nichts zu tun zu haben, aber in Wahrheit bieten wir ihnen einen guten Nährboden. In den Predigten bestimmter religiöser Würdenträger wird Scheich Ussama Bin Laden lobend erwähnt, und sogar die Anschläge vom 11. September finden Billigung."
Von der Idee, abweichende Einstellungen mit takfir, dem Ausschluss aus der Glaubensgemeinschaft, zu bestrafen, hält Mansur al-Ngidan gar nichts. Er war selbst einmal Opfer eines solchen Verfahrens, in dem ihn vier Korangelehrte öffentlich wegen Unglaubens verurteilten. Nach den Vorstellungen der "Dschihadisten und Takfiristen" ist sogar die Anwendung von Gewalt gegen Behörden und Institutionen eines islamischen Staates gerechtfertigt - das erklärt die Zunahme von Feuergefechten zwischen Terroristen und örtlichen Polizeikräften in den vergangenen Monaten. Die Nachsicht, die der Staat im Umgang mit den Extremisten an den Tag gelegt hat, missfällt al-Ngidan: "Am gleichen Tag, als in der Presse über fünf Spalten die Steckbriefe von neunzehn polizeilich gesuchten Terroristen - überwiegend Saudis - abgedruckt wurden, haben die Behörden Scheich Soleiman al-Aluan erlaubt, wieder zu lehren und zu predigen - obwohl er öffentlich für den Sieg Ussama Bin Ladens und für die ,Vernichtung' von Turki al-Hamed und Gasi Gossaibi5 eingetreten war." Kaum zu verstehen, wie Riad offiziell die Taliban verurteilen und gleichzeitig die Augen davor verschließen konnte, dass nach dem 11. September tausende junge Saudis aufbrachen, um in deren Reihen zu kämpfen.
"Um das Lavieren der Machthaber zu verstehen, muss man die Anfänge des Regimes bedenken", erklärt ein Journalist. "Der 1744 zwischen Mohammed Ibn Saud und dem islamischen Reformer Mohammed Ibn Abdel Wahhab geschlossene Pakt hat eine dauerhafte Allianz von Religionsgelehrten und politischer Macht gestiftet. Dabei wurden die Zuständigkeiten klar getrennt: Alle Belange des Staates regelte die Familie Saud, alle religiösen Angelegenheiten lagen in der Obhut der religiösen Würdenträger. Trotz gelegentlicher Krisen hat das immer gut funktioniert, weil die wahhabitischen Korangelehrten der hanbalitischen Rechtsschule anhingen, einer äußerst konservativen Religionsauffassung, die jedoch den sozialen Frieden für das höchste Gut hält."
In den 1960er-Jahren veränderte sich die Situation. Der Auseinandersetzung mit Gamal Abdel Nasser, mit den panarabischen Nationalisten und fortschrittlichen Bewegungen fühlte sich das Königreich ideologisch nicht gewachsen. Man suchte also den Beistand der Muslimbruderschaft, deren Aktivisten in allen fortschrittlich orientierten arabischen Staaten verfolgt wurden. In Saudi-Arabien fanden sie Zuflucht, sie übernahmen das Erziehungswesen und politisierten die traditionelle religiöse Führung. Aus der Vereinigung von Muslimbrüdern und Wahhabisten ging nach dem Krieg in Afghanistan eine kleine, aber höchst aktive und gewaltbereite Richtung hervor, die für Takfir und Dschihad eintritt. "Das Problem ist, dass zwischen den Dschihadisten und einem Teil der religiösen Führung durchaus gewisse Gemeinsamkeiten bestehen", meint der Journalist. "Da finden sich antiwestliche Ressentiments, Feindschaft gegen Christen und Juden usw. Das Königshaus kann nur schwer die einen bekämpfen, ohne sich mit den anderen anzulegen - die religiöse Legitimierung der Monarchie darf schließlich nicht gefährdet werden."
Am 13. Mai 2003 brachten sämtliche saudischen Zeitungen auf der Titelseite die Steckbriefe von neunzehn Terroristen. Die Polizei hatte ein geheimes Waffenlager ausgehoben: Patronen, 55 Granaten, 377 Kilogramm Sprengstoff, außerdem gefälschte Papiere und Tarnmaterial. Die Medienoffensive kam etwas überraschend, denn bis dahin waren Verhaftungen kaum eine Meldung wert gewesen. "Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass es bei uns solche extremistischen Einstellungen gibt", hieß es in einem Leitartikel der Tageszeitung al-Watan. Zuvor, im November 2002, hatte Innenminister Prinz Naief erstmals öffentlich Kritik an den Muslimbrüdern geübt. Auch wurden in den Monaten vor Beginn des Irakfeldzugs einige Imame ihrer Funktionen enthoben. Aber das Regime zögert, sich auf eine innenpolitische Kraftprobe einzulassen. Noch vor wenigen Wochen erklärte Prinz Naief, es gebe in seinem Land kein Terrornetz - obwohl bereits hunderte von Verhaftungen stattgefunden hatten und aus verschiedenen Quellen zu erfahren war, dass an die hundert der Verdächtigen aller Wahrscheinlichkeit nach zu al-Qaida gehören.
Nach den Kommentaren in den Zeitungen zu urteilen, werden die Anschläge vom 13. Mai in Riad, bei denen über dreißig Menschen starben, womöglich doch einen Richtungswechsel in der Antiterrorpolitik zur Folge haben. Darauf deutet auch die ungewöhnlich klare Stellungnahme von Kronprinz Abdallah hin: "Wir warnen vor allem jene, die solche Verbrechen im Namen der Religion rechtfertigen wollen", erklärte der Regent. "Wer das tut, gilt als Komplize der Terroristen und wird entsprechend behandelt." Mit Befriedigung stellte der Kolumnist Daud al-Scharian in der Tageszeitung al-Hayat fest, der Innenminister habe sich zum ersten Mal nicht hinter der Behauptung verschanzt, dass solche Angriffe den Werten und Vorstellungen der saudischen Gesellschaft völlig fremd wären. "Es ist einfach nicht zu leugnen, dass es bei uns gewisse Sympathien für die Dschihadisten gibt."6

Die jüngsten Anschläge bieten dem Regime die große Chance, diese radikale Strömung zu isolieren und ihre Macht zu brechen. Bei der jungen Generation haben die Dschihadisten ohnehin an Einfluss verloren, wenn die Beobachtungen von Professor al-Gatami zutreffen: "Ich unterrichte die Studenten des Abschlussjahrgangs, das sind seit zwanzig Jahren immer etwa fünfzig junge Leute. Mitte der 1980er-Jahre waren vielleicht ein halbes Dutzend Islamisten unter ihnen. Gegen Ende der Achtziger- und zu Beginn der Neunzigerjahre stieg ihr Anteil immer weiter an, bis sie schließlich in der Mehrheit waren. Aber inzwischen ist ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. In diesem Jahr habe ich nur noch einen." Als Gründe für diesen Wandel spielen Enttäuschungen eine wichtige Rolle: Viele junge Männer haben in Afghanistan gekämpft und kamen desillusioniert zurück, manche mussten erleben, wie ihre Anführer sie an die Amerikaner auslieferten. Zugleich öffnet sich Saudi-Arabien der Welt, die Urbanisierung schreitet fort, Satellitenfernsehen und Internet unterlaufen das Monopol des staatlichen Erziehungswesens.
Widerstand gegen mögliche Reformen kommt von der religiösen Führung ebenso wie vom Staatsapparat und nicht zuletzt von den Sicherheitskräften, wo die Dschihadisten seit den 1990er-Jahren ihren Einfluss verstärken konnten. Aber auch von Teilen der Bevölkerung, die sich über die Politik der USA im Irak und in Palästina empört. Die Aufrufe aus Washington zur Demokratisierung wirken hier wenig überzeugend. "Alle Welt glaubt, dass die USA nicht unsere, sondern nur ihre eigenen Interessen verfolgen", meint ein Mitglied der Madschlis al-Schura. "Und damit steht jeder, der für eine Öffnung eintritt, sofort als Lakai einer fremden Macht da."
Versammlung in einer Art Freizeitzentrum wenige Kilometer außerhalb von Riad. Ein großer Garten, zwanzig Tische unter Palmen, davor eine Tribüne, auf der Abdelasis al-Dachil, ein Wirtschaftswissenschaftler, seinen Vortrag hält. "Das ist eine echte Premiere", sagt einer der Teilnehmer. "Zum ersten Mal wagen wir uns hinaus und halten eine Versammlung in der Öffentlichkeit ab." Die meisten der Anwesenden - Liberale und gemäßigte Islamisten - haben im Januar einen offenen Brief an Kronprinz Abdallah unterzeichnet. Der "Brief der 104" fordert vor allem allgemeine Wahlen zur Beratenden Versammlung Madschlis al-Schura sowie Kommunalwahlen, außerdem Bürgerrechte, Schutz für Minderheiten und mehr Rechte für die Frauen.

"Uns läuft die Zeit davon", erklärt der Redner. "Alle unsere Probleme verschärfen sich mit jedem Tag - die sozialen wie die wirtschaftlichen und politischen." Al-Dachil verweist auf Armut, steigende Arbeitslosigkeit, Orientierungslosigkeit der Jugend. "Außerdem setzen uns die USA erheblich unter Druck. Wir haben zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Entweder durch Einschwenken auf die amerikanische Linie, indem wir wohlklingende Erklärungen abgeben, uns aber um die eigentlichen Fragen herumdrücken. Oder wir nehmen die Sache selbst in die Hand, leiten Reformen ein, fällen unsere eigenen Entscheidungen und führen demokratische Strukturen ein. Wenn ein Viertel der Mitglieder der Madschlis al-Schura aus Wahlen hervorgehen würden, dann hätten wir schon viel erreicht."

deutsch von Edgar Peinelt

Fußnoten:
1 Das zweite Attentat, in al-Chobar, war das Werk radikaler schiitischer Gruppen. Siehe Alain Gresh, "Nebelwerfer in Riad", Le Monde diplomatique, September 1997.
2  Siehe Alain Gresh, "Abkühlung in Riad", Le Monde diplomatique, Mai 2002.
3 Ab 1987, in der letzten Phase des Kriegs zwischen Irak und Iran, hatten die USA ihre Truppen in der Golfregion erheblich verstärkt.
4 Michael Dobbs, "US-Saudi Ties Prove Crucial in War", Washington Post, 27. April 2003.
5 Al-Hamed ist ein liberaler Intellektueller, Gossaibi der amtierende Minister für Wasser und Elektrizität; auch er gilt als Liberaler.
6 Al-Hayat, 15. Mai 2003.

hagalil.com 29-05-2003

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