Es gibt keinen Mittelweg:
Das Ende des Zionismus?
[ENGLISH]
[GERMAN]
Von Avraham Burg
Der Autor ist Abgeordneter der Arbeitspartei Israels und war von
1999 bis 2003 Sprecher der Knesset. 1983 war Burg einer der
Verletzten beim Anschlag auf
eine Schalom akhshav Demonstration.
Avraham Burg, born 19/01/1955 in Israel,
1999-2003, speaker of the 15th Knesset, presiding over the
Plenum, nominated by One Israel /
Labor-Meimad
- 1985-1988 Served as advisor on Diaspora Affairs
- Chairman, Jewish Agency for Israel 1995-1999. During this time
under Burg's leadership, there were significant changes in the
structure and role of the National Institutions, which began to
operate in several new areas such as the restitution of Jewish
property stolen during the Holocaust, and the battle for religious
pluralism and tolerance among the Jewish People
Die zionistische Revolution ruhte seit je auf
zwei Säulen: einem gerechten Weg und moralische Überlegenheit.
Keines von beiden trifft heute noch zu. Die israelische Nation
stützt sich heute auf ein Gerüst der Korruption und ruht auf den
Fundamenten von Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Und weil das so
ist, steht das Ende des Unternehmens Zionismus bereits an unserer
Türschwelle. Die unsere könnte die letzte Generation von Zionisten
sein. Der jüdische Staat im Mittleren Osten wird zwar weiter
bestehen, aber es wird ein anderer sein, fremd und hässlich.
Was wir brauchen ist eine neue Vision einer gerechten Gesellschaft
und den politischen Willen, sie in die Tat umzusetzen. Und das ist
keineswegs bloß eine innere Angelegenheit Israels. Auch die Juden in
der Diaspora, für die Israel eine tragende Säule ihrer Identität
ist, müssen ihre Stimme erheben.
Die israelische Opposition existiert nicht, und die regierende
Koalition mit Premierminister Ariel Scharon an der Spitze nimmt für
sich in Anspruch, Schweigen bewahren zu dürfen. Eine Nation von
Quasselstrippen ist plötzlich verstummt. Wir leben in einer Realität
des donnernden Versagens.
Ja, wir Israelis haben die hebräische Sprache wiederbelebt, ein
großartiges Theater geschaffen und eine starke Währung. Unser
jüdischer Verstand ist noch so scharf wie eh und je. Wir werden im
Nasdaq-Index gehandelt – aber ist es das, wofür wir einen Staat
gegründet haben? Das jüdische Volk hat nicht zwei Jahrtausende
überlebt, um neue Waffen zu entwickeln, Sicherheitsprogramme für
Computer und Abwehrraketen. Wir sollten ein Licht unter den Nationen
sein. Und darin haben wir versagt.
Es ist äußerst bequem, ein Zionist zu sein in den Siedlungen der
West Bank wie Beit El und Ofra. Die biblische Landschaft ist
reizend. Vom Fenster aus kann man durch die Geranien und den
Bougainville den Blick schweifen lassen, ohne etwas von der
Besetzung zu sehen. Wer auf der Autobahn unterwegs ist von Ramot am
nördlichen Rand von Jerusalem nach Gilo am südlichen Ende, für den
sind während dieses 12-Minuten-Trips westlich der palästinensischen
Straßensperren die demütigenden Erfahrungen verachteter Araber
schwer zu begreifen, die auf den holprigen, verstopften Straßen
vorwärts kriechen, die ihnen offen stehen. Eine Straße für die
Besatzer, eine für die Besetzten.
Siedlungspolitik oder Hoffnung
Das kann nicht funktionieren. Selbst wenn die Araber ihr Haupt
senken und ihre Scham und ihren Ärger für immer herunterschlucken,
würde es nicht funktionieren. Eine Struktur, die auf Gefühlskälte
aufgebaut ist, wird unausweichlich in sich zusammenfallen. Merkt
euch diesen Augenblick ganz genau: Die Superstruktur des Zionismus
bricht bereits zusammen wie ein billiger Hochzeitssaal in Jerusalem.
Nur Schwachköpfe tanzen in der obersten Etage weiter, während die
Säulen darunter einknicken.
Israel, das aufgehört hat, sich um die Kinder der Palästinenser zu
kümmern, sollte nicht überrascht sein, wenn diese sich, in Hass
gebadet, in den Zentren des israelischen Eskapismus selbst in die
Luft jagen. In unseren Vergnügungsvierteln verschreiben sie sich
Allah. Wir könnten tausend Anführer töten, und nichts wäre dadurch
gewonnen, weil die Führer von unten kommen – aus den Kellern des
Hasses und der Wut, aus den „Infrastrukturen“ der Ungerechtigkeit
und moralischen Korruptheit.
Wenn all das unvermeidlich wäre, göttlich verhängt, ich würde
schweigen. Aber alles könnte ganz anders sein, und darum ist es ein
moralischer Imperativ, den Mund aufzumachen.
Der Premierminister sollte den Bürgern folgendes sagen:
Die Zeit der Illusionen ist vorbei, die Zeit der Entscheidungen ist
angebrochen. Wir lieben das ganze Land unserer Vorväter, und in
einer anderen Zeit wollten wir hier alleine leben. Aber das wird
nicht geschehen. Auch die Araber haben Träume und Bedürfnisse.
Zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer gibt es keine klare jüdische
Mehrheit mehr. Und darum, Mitbürger, ist es nicht möglich, das Ganze
zu bewahren, ohne einen Preis dafür zu zahlen. Wir können nicht eine
palästinensische Mehrheit unter unserem Stiefel halten und uns
zugleich einbilden, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein.
Es kann keine Demokratie geben ohne gleiche Rechte für alle, die
hier leben, Araber wie Juden. Wir können nicht die Gebiete behalten
und eine jüdische Majorität erhalten – nicht mit Mitteln, die
menschlich sind, moralisch und jüdisch.
Ihr wollt das größere Land Israel? Kein Problem. Schafft die
Demokratie ab. Lasst uns ein effektives System der Rassentrennung
einführen, mit Straf- und Internierungslagern.
Ihr wollt eine jüdische Majorität? Kein Problem. Entweder ihr setzt
die Araber in Eisenbahnwaggons und Busse, auf Kamele und Esel und
werft sie raus – oder ihr sondert euch vollständig von ihnen ab,
ohne Tricks und Kniffe. Es gibt keinen Mittelweg. Wir müssen unsere
Siedlungen abreißen und eine international anerkannte Grenze ziehen
zwischen dem Heim der jüdischen Nation und dem Heim der
palästinensischen Nation.
Ihr wollt Demokratie? Kein Problem. Gebt das größere Israel auf, bis
zur letzten Siedlung, oder gebt jedem die volle Staatsbürgerschaft
und das Wahlrecht, einschließlich der Araber. Das Ergebnis ist
natürlich, dass diejenigen, die keinen Palästinenser-Staat neben uns
wollen ihn in unserer Mitte dulden müssen, durch die Wahlurne.
Das ist es, was der Premierminister den Menschen sagen sollte. Er
sollte rundheraus die Alternativen darstellen: Jüdischer Rassismus
oder Demokratie. Siedlungspolitik oder Hoffnung für beide Völker.
Falsche Visionen von Stacheldraht, Straßensperren und
Selbstmordattentätern oder eine international akzeptierte Grenze
zwischen zwei Staaten und eine gemeinsame Hauptstadt Jerusalem.
Aber es gibt keinen Premierminister in Jerusalem. Die Krankheit, die
den Körper des Zionismus zerstört, hat bereits den Kopf angegriffen.
David Ben Gurion hat sich manchmal geirrt, aber er ist immer gerade
wie ein Pfeil geblieben. Wenn Menachem Begin mal falsch lag, hat
darum niemand seine Beweggründe in Zweifel gezogen. Das ist jetzt
anders. Umfragen, die vor zwei Wochen veröffentlicht wurden, haben
gezeigt, dass die Mehrheit der Israelis nicht an die persönliche
Integrität des Premierministers glaubt – gleichwohl vertrauen sie
auf seine politische Führungsstärke. Mit anderen Worten, Israels
derzeitiger Premierminister verkörpert beide Seiten der Medaille:
moralische Fragwürdigkeit sowie offene Missachtung der Gesetze –
gepaart mit der Brutalität der Besetzung und dem Niedertrampeln
jeder Chance auf Frieden. Die einzig mögliche Schlussfolgerung
lautet, dass die zionistische Revolution tot ist.
Warum ist die Opposition trotzdem so schweigsam? Vielleicht, weil
sie alle müde sind, oder vielleicht, weil einige von ihnen um jeden
Preis der Regierung angehören möchten, selbst um den Preis, Teil der
Krankheit zu sein. Aber während sie zaudern, verlieren die Kräfte
des Guten ihre Hoffnung.
Es ist Zeit für klare Alternativen. Jeder, der es ablehnt, deutlich
Stellung zu beziehen – Schwarz oder Weiß –, trägt de facto zum
Niedergang bei. Das ist keine Frage von Rechts gegen Links, sondern
von Richtig gegen Falsch, erträglich oder unerträglich. Was wir
brauchen, ist keine politische Ablösung der Regierung Scharon,
sondern eine Vision der Hoffnung, eine Alternative zur Vernichtung
des Zionismus und seiner Werte durch die Tauben, Stummen und
Herzlosen.
Israels Freunde im Ausland – jüdische genauso wie nicht-jüdische,
Präsidenten und Premierminister, Rabbis und Laien – sollten
sorgfältig ihre Wahl treffen. Sie müssen ihre Hand ausstrecken und
Israel helfen, mit der Road Map seiner nationalen Bestimmung
entgegenzusteuern als ein Licht unter den Nationen und als eine
Gesellschaft des Friedens, der Gerechtigkeit und Gleichheit.
[Zur
Notwendigkeit einer internationalen Intervention]
Yedioth Aharanot / ZNet Deutschland 29.08.2003
Aus dem Hebräischen ins Englische übersetzt: J.J.Goldberg
Deutsche Übersetzung: Kay Krafczyk und Ellen Rohlfs
From the Common Ground News Service
hagalil.com 10-09-2003
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