Wenn die Opfer Palästinenser sind:
Und wenn es umgekehrt wäre?von Gideon Levy,
ZNet Deutschland 18.07.2004
Was würde geschehen, wenn ein palästinensischer
Terrorist am Eingang einer Wohnung in Israel eine Bombe explodieren ließe
und so den Tod eines alten Mannes im Rollstuhl verursachen würde, der später
unter den Trümmern des Hauses gefunden wird. Das Land wäre zu tiefst
geschockt. Jeder würde über die scheußliche Grausamkeit des Aktes reden und
über den, der ihn ausgeführt hat.
Der Schock würde sogar noch größer sein, wenn bekannt wird, dass die Frau
des Toten noch versucht hat, den Terroristen davon abzubringen, das Haus in
die Luft zu sprengen, da sie ihm sagte, es seien noch Menschen drin. Aber es
war umsonst. Die Boulevardpresse würde mit der üblichen, sofort ins Auge
fallenden Schlagzeile kommen: „Mit Rollstuhl lebendig begraben“ – die
Terroristen würde man als „wilde Tiere“ brandmarken.
Am letzten Montag haben Israels Militärbulldozer in Khan Yunis im
Gazastreifen das Haus von Ibrahim Halfalla, einem 75 jährigen behinderten
Mann und Vater von sieben Kindern, niedergewalzt und ihn dabei lebendig
begraben. Umm Basel, seine Frau, sagt, sie versuchte den Fahrer der schweren
Maschine noch durch Schreien anzuhalten, aber er beachtete sie gar nicht.
Das Militär bezeichnete den Akt als „ein Versehen, das nicht passieren
sollte“. Über den Vorfall wurde in der israelischen Presse nur beiläufig
berichtet. In der größten Zeitung Israels, in Yedioth Ahranot, kam davon
überhaupt nichts.
Die Schauergeschichte aus Frankreich – wo eine Frau einer antisemitischen
Attacke zum Opfer gefallen war, was sich später als Fiktion herausstellte –
versprach, größere Aufregung unter den Leuten zu verursachen. Dort – so
schien es – war es ein Angriff auf unser Volk. Aber wenn Bulldozer der IDF
einen behinderten Palästinenser zu Tode bringen? Das ist doch keine
Geschichte. Genau wie das Umbringen unter den Trümmern ihres Hauses von Noha
Makadama, einer Frau, die im neunten Monat schwanger war. Es geschah vor den
Augen ihres Mannes und der Kinder im El-Boureij-Flüchtlingslager nur ein
paar Monate früher.
Und was würde geschehen, wenn ein Palästinenser einen
israelischen Universitätsdozenten und seinen Sohn vor den Augen der Frau und
dem jüngsten Sohn erschießen würde? Das geschah vor 10 Tagen im Fall von Dr.
Salem Khaled in Nablus. Er, ein Mann des Friedens, rief den Soldaten noch
vom Fenster aus zu, dass er die Haustür nicht öffnen könnte, weil sie
blockiert sei, und er nicht herauskommen könne. Die Soldaten schossen ihn
tot und danach auch den 16jährigen Sohn vor den Augen seiner Mutter und dem
11jährigen Bruder. Man kann sich gut vorstellen, wie wir auf diese
Geschichte reagiert hätten, wenn das Opfer zu uns gehört hätte.
Aber wenn wir darin verwickelt sind, und die Opfer Palästinenser sind,
schauen wir lieber weg, wollen nichts wissen, haben kein Interesse dran, um
ja nicht geschockt zu werden.
Die palästinensischen Opfer – und ihre Zahl ist, wie jeder weiß, viel größer
als unsere – verdienen nicht einmal Zeitungsberichte, auch nicht wenn die
Reihe der Ereignisse besonders brutal ist, wie die oben genannten Beispiele.
Ich will hier keine intellektuelle Übung anstellen, sondern zeigen, dass
Information zurückgehalten wird und dass dies etwas mit Doppelmoral und
Heuchelei zu tun hat.
Die Gleichgültigkeit gegenüber den beiden Ereignissen vor kurzem bewies
wieder, dass es in unseren Augen nur ein Opfer gibt - alle anderen werden
nie als Opfer betrachtet.
Wenn ein europäischer Minister erklärt hätte: „Ich mag nicht, dass mich die
langnasigen Juden im Restaurant bedienen“, dann wäre ganz Europa in Aufruhr
geraten und dieser Kommentar wäre die letzte Bemerkung des Ministers als
Minister gewesen. Vor drei Jahren hat unser früherer Arbeitsminister Shlomo
Benizri von Shas festgestellt: „Ich kann nicht verstehen, warum mich immer
schlitzäugige Typen im Restaurant bedienen.“ Nichts geschah daraufhin.
Uns ist es erlaubt, Rassisten zu sein. Und wenn eine europäische Regierung
verkündet hätte, dass Juden nicht in eine christliche Schule gehen dürften?
Die jüdische Welt hätte sich zum Protest erhoben. Aber wenn unser
Erziehungsministerium verkündet, dass es Arabern nicht erlaubt sei, jüdische
Schulen in Haifa zu besuchen, wird dies nicht als Rassismus angesehen. Nur
in Israel kann man so etwas nicht als Rassismus bezeichnen. Das Erbe Golda
Meirs – sie war es, die sagte, nachdem, was die Nazis uns antaten, können
wir alles tun, was wir wollen – erlebt jetzt eine späte und unselige
Wiederkehr.
Was würde geschehen, wenn ein bestimmtes Land ein Gesetz herausgibt, das
Mitgliedern einer besonderen Volksgruppe verbietet, Bürger zu werden - egal
unter welchen Umständen – einschließlich gemischter Paare, die heiraten und
Familien gründen. Es gibt nirgendwo ein Land, das heutzutage solch ein
Gesetz herausgibt. Außer Israel. Wenn das Regierungskabinett heute die
Gültigkeit des neuen Gesetzes über die Staatsbürgerschaft erweitert, dann
wird es Palästinensern nicht mehr möglich sein, eingebürgert zu werden,
selbst wenn sie mit einer Israelin verheiratet sind. Wir haben das Recht.
Und wenn man in den USA illegale israelische Immigranten mitten in der Nacht
wie Tiere jagen würde, so wie es die Einwanderungspolizei hier macht, hätten
wir dann ein besseres Verständnis für die Ungerechtigkeit, die wir gegenüber
einer Gemeinschaft begehen, die nichts anderes will, als hier zu arbeiten?
Was würden wir sagen, wenn die Eltern israelischer Emigranten von ihren
Kindern getrennt und deportiert werden, weil sie keinen Zugang zur
Staatsbürgerschaft haben – egal unter welchen Umständen. Und wie würden wir
ein Land bezeichnen, das seine Besucher über ihre politische Meinung
verhört, sobald sie mit dem Flugzeug am Flughafen angekommen sind ... und
die Sicherheitskräfte der geäußerten Meinung misstrauisch begegnen. Was
würde geschehen, wenn Antisemiten in Frankreich das Trinkwasser eines
jüdischen Stadtteils vergiften würden? Letzte Woche vergifteten Siedler eine
Quelle in Atawana in den südlichen Hebroner Bergen – die Polizei untersucht
es noch.
Und noch haben wir nichts über ein Land gesagt, das ein anderes Volk
einsperrt oder über ein Regime, das einigen seiner Bürger den Zugang zur
medizinischen Versorgung versagt - je nach seiner nationalen Identität; oder
über Straßen, die nur von Angehörigen der einen Nation benützt werden dürfen
oder über einen Flughafen, der für das andere Volk geschlossen ist. All dies
geschieht in Israel und zieht unter uns die moralische Grundlage weg, die es
möglich macht, uns über Rassismus und Antisemitismus im Ausland zu beklagen,
selbst dann, wenn er tatsächlich ausbrechen würde.
hagalil.com 22-07-2004 |