Jüdisches Leben in EuropaMit der Hilfe des Himmels

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Fort von dort!
Im Schatten von Gush Kativ

von Gideon Levy

Nur in Sarajewo habe ich solch große Zerstörung gesehen. In Sarajewo und in Rafah. Ein Stadtteil nach dem anderen, in dem es kein einziges Haus gibt, das nicht beschädigt wurde, keine Wohnung, die nicht aufgerissen, keine einzige Mauer ohne Einschusslöcher wie Pockennarben. Bewohner, die in Gebäudeskeletten leben, nachdem ihre früheren Wohnungen zerstört wurden.

Da gibt es Familien, die seit Jahren nachts im Hof eines Krankenhauses Schutz finden, weil sie Angst haben, in ihren Häusern beschossen zu werden. Flüchtlinge – zum zweiten oder dritten Mal, deren elende Flüchtlingshütte sogar zerstört wurde. Traumatisierte Kinder, die sich noch nicht an die verhältnismäßige Ruhe der letzten Wochen gewöhnt haben.

Hinter den Zementmauern und den Eisenzäunen, die Gush Kativ umgeben, und weit weg von den Augen der Medien, die viel über die ( zukünftigen) Traumata der Siedler berichten, verbirgt sich eine weit bitterere Realität: Das Leben von zehn Tausenden Bewohnern von Khan Yunis wurde genau wegen Gush Kativ zur Hölle. Die Schutzmauer versteckt alles, die offenen Flächen, die von allen Gebäuden und aller Vegetation „gesäubert“ wurden, halten alles auf Distanz. Doch die Zerstörung und das Leiden, die Ruinenberge und die Behinderten, die sich in ihnen bewegen und der Unterschied zwischen den Häusern der Siedlungen und den Häusern von denen, die vorher hier lebten, die Flüchtlinge aus Ashkalon und Beer Sheba, können nicht versteckt werden.

Hier Gras – dort Sand, hier Ruinen – dort private Häuser; hier Industriezonen und Gewächshäuser – dort fast vollständige Arbeitslosigkeit; hier Panzer, Schutz und Befestigungen – und dort hilflose Bewohner. Die Zementmauer kann die Wirklichkeit verbergen – sie kann sie aber nicht ausradieren. Man kann fast nichts von Gush Kativ sehen, aber würde es etwas ändern, wenn die Siedler die Zerstörung und das Leiden, das sie verursacht haben, sähen? Familien, deren Häuser zerstört wurden und deren Land gestohlen wurde und deren Leben wegen Gush Kativ zu einem Leben aus Angst und Demütigung geworden ist. Auf dem Höhepunkt des großen Trauerliedes über das Schicksal der Siedler von Gush Kativ sollte man sich an die Leidenslast erinnern, die sie ihren Nachbarn, den Bewohnern dieser armen und übervölkerten Region durch israelische Akte und Feindseligkeit vermacht haben. Wenn schon der Anblick der Siedlerkinder Kopfschmerzen bereitet, die bald von ihren Häusern in andere umgesiedelt werden, wie ist es dann mit den verängstigten Kindern der Nachbarn, die von Panik umgetrieben werden, oft heimatlos sind und im Sand ohne Gegenwart und Zukunft versinken.

Die Siedlung Nezarim liegt an der Küstenstraße im Herzen des Gazastreifens und vor einem Ruinenberg. Kfar Darom liegt nicht weit davon und rund herum gibt es noch mehr Ruinen. Jede Siedlung hier wurde auf Ruinen und noch mehr Ruinen gebaut. Auch wenn das mehrstöckige Haus der Abu Nahiya Familie gegenüber von Kfar Darom noch steht, so ist es völlig mit Tarnnetzen bedeckt, ein Zeichen dafür, dass die IDF das Haus übernommen hat – und nicht der Künstler Christo. Ein Fischhändler bietet an der Dir al-Balah große Sardinen aus einem Eimer an. Der Soldat, der alles übersieht und nicht gesehen wird, tyrannisiert von der Höhe seines Wachturms am Abu Houli-Kontrollpunkt, dem Gush-Kontrollpunkt die Tausenden von Fahrern. Die Straße oben drüber ist nur für Juden und ohne Kontrollpunkt und ohne Befehle. Die Straße darunter ist für die Palästinenser mit Befehlen, die aus einiger Entfernung von Soldaten mit Hilfe eines heiseren Megafons ihnen ins Gesicht geschleudert werden: „Vorwärts!“, „Halt!“ wie ferngesteuertes Spielzeug. Die Fahrer gehorchen ruhig und fahren oder fahren nicht – so ist es seit Jahren auf der einzigen „Schnellstraße“, die durch den Gazastreifen führt. „Wie alt mag der Soldat sein, 19? Und wie alt bin ich, dass ich mir von ihm sagen lassen muss, ob ich fahren darf oder nicht?“ fragt ein Passagier im gelben palästinensischen Taxi, das nach Süden, nach Khan Yunis fährt.

Während der Wartezeit am Checkpoint – draußen ist es heiß – ergibt sich im Inneren des überfüllten Taxis eine Meinungsumfrage, ob die Häuser zerstört oder nicht zerstört werden sollen. Das Ergebnis ist klar: vier der Passagiere sind fürs Zerstören der evakuierten Hauser in den Siedlungen, einer ist dagegen und zwei andere glauben gar nicht daran, dass es eine Evakuierung gibt.

Die Unterstützer der Zerstörung sagen, die Häuser der Siedler passen nicht für die Bedürfnisse der Menschen in Gaza, die unter engsten Bedingungen leben. „Auf jeden Fall werde ich nichts bekommen. Werden sie kommen und zu mir sagen: Nimm ein Haus? Die Regierung und die Armee wird alles nehmen. Alle Häuser werden an die Generäle vom Ausland (Tunisleute) gehen. Wir sollten alle Häuser zerstören und Häuser mit vielen Etagenwohnungen bauen,“ sagte der Fahrer.

Land in Neveh Dekalim

Im Haus der Ashour al-Ara ist eine andere Welt. Ein Garten mit Fruchtbäumen, einem Balkon mit Grün, ein großes Haus an der Hauptstraße nach Khan Yunis, aber weit weg vom Tumult. Der Hausbesitzer sprüht Eau de Cologne über die Hände der Gäste und serviert frischen Orangensaft. Der 65Jährige zupft seine fleckenlose weiße Keffiye auf dem Kopf zurecht. Hundert Dunum Land, die seiner Familie gehören liegen in der Siedlung Neveh Dekalim. Das Hotel der Siedler liegt auf seinem Land, sagt er. Er möchte auch, dass die Häuser zerstört werden.

„Wir werden wieder Fruchtbäume pflanzen und die Häuser der Familien wieder aufbauen,“ lächelt der reiche, alte Mann, dem das Leben gut mitgespielt hat, selbst wenn ihm Land gestohlen worden war. Ara hat 38 Enkel, und er will sie alle auf das Land neben dem Meeresufer ansiedeln – in Neve Dekalim.

Khan Yunis mag die einzige Stadt auf der Welt sein, die am Ufer des Meeres liegt und deren Bewohner daran gehindert werden, sich ihm zu nähern. Für sie gibt es kein Meer und kein Fischen, weil die Siedlung die Küste vor der Stadt weggenommen hat. Auf dem Dach eines anderen Wohnhauses, das Aras großer Familie im Al Karara-Stadtteil am Rande Khan Yunis gehört, zeigt uns der alte Mann Ashour sein Land jenseits der Sanddünen und des Checkpoints.

Rechts ist Nezer Hazani, in der Mitte das Ghaneital und links Neve Dekalim, der große Kuhstall und die gut gepflegten Gewächshäuser. „Auf dieser Straße fuhren wir sonst zum Meer,“ sagte er voll schöner Erinnerungen. Bis zur Waffenruhe wagten sie nicht, auf dieses Dach zu gehen – es liegt gegenüber eines IDF-Militäraußenpostens. Fast 20 Bewohner dieses Stadtteils wurden während der Intifada getötet. „Bald werden wir zusammen zu unserem Land gehen und Sie werden sehen, was für einen wunderbaren Ort wir hatten,“ lächelte der alte Mann. Dann ging er zu der Aussichtsstelle im Hinterhof des Hauses zu den Aprikosenbäumen und bediente die Gäste mit noch einem Glas frischen Orangensaftes. Die Straßen von Khan Yunis - eine Region aus Sand und Verzweiflung. Der Al-Amal-Stadtteil, Stadtteil der Hoffnung, war für die eine Quelle der Hoffnung, die aus den städtischen Flüchtlingslagern evakuiert wurden. Aber jetzt nach der 2. Intifada sind Häuser dieses Stadtteils in Ruinen oder beschädigt. Aus jeder der sandigen Gassen kann man die Gush Kativ bewachenden IDF-Außenposten sehen, die nur Furcht verbreiten. Mit Tarnnetzen bedeckte Türme und unsichtbare Soldaten, die jeder Zeit losschießen können. Keiner wagt sich näher ´ran als an die letzte Häuserreihe. Ein sandiges Tal trennt den Ortsteil von der befestigten Siedlung. Ein israelisches Militärflugzeug braust über den Himmel. An einer Straßenecke haben die Bewohner aus Zementblöcken eine Schutzmauer gebaut, damit die in der Gasse Gehenden geschützt sind. Kinder des Meeres ohne Meer, 2km vom Strand entfernt. Über jedem Wachturm flattert eine israelische Flagge, die die Bewohner daran erinnert, wer die Herren im Land sind. Später werden sie überrascht sein, wenn nach der Evakuierung der Siedler die Leute auf ihren Dächern tanzen. ...

Eine Reihe Gebäudeskelette, jedes 5-6 Stockwerke hoch, sind dicht bewohnt. Diese Gebäude wurden nie vollendet. Die Obdachlosen aus dem nahen Flüchtlingslager hausen hier, nachdem ihre Hütten in den letzten 2 Jahren zerstört wurden. Da gibt es keine Fenster, keinen Verputz, die Strom- und Wasserleitung ist improvisiert, die Betonböden und grauen Backsteine vermitteln eine triste Atmosphäre. An Stelle von Fenstern ist Pappe und Stoff – nur wenige können sich wirklich installierte Fensterrahmen und Fenster leisten. ...

Die Wohnungen sind zum Bersten überfüllt. An einige Gebäude wurden Schuppen angebaut, um ein paar Kinder mehr unterzubringen. Um die nächste Umgebung etwas menschlicher zu machen, wurden mit jämmerlicher Bemühung vor einigen Gebäuden kleine und armselige Gärtchen angelegt. Es sind nur einige 100m nach Neve Dekalim – aber sie sehen nichts. Die Mauer schützt.

Tausende von Einschüssen

Wir klettern über einen Steinhaufen, der zu einer Treppe eines der Gebäude führt. In der untersten Etage lebt die Familie von Awad Sayed Zeidan. Früher lebten sie im Khan Yunis-Flüchtlingslager. Doch eine Rakete zerstörte ihre Hütte. Sie sind Flüchtlinge aus Jaffa. Mehrere Monate lebten sie bei Verwandten. Bis sie hörten, dass Leute in diesen Rohbauten Unterschlupf suchten. Zehn Kinder von 19 Monaten bis 15 Jahre alt, der Vater ist arbeitslos, seitdem Israel seit Beginn der Intifada seine Tore geschlossen hat. Die Wohnung stinkt. Die schmutzige Nische dient als Küche ...Ein Familienmitglied wurde durch eine Granate nahe am rechten Auge verletzt. Nun ist eine Narbe im Gesicht des Jungen. Er selbst war wie durch ein Wunder gerettet worden. Iman, die Mutter kehrt den Betonboden. Küken rennen durch den Flur. Ob sich ihr Leben nach der Evakuierung ( der Siedler) ändern wird . Awad lächelt verlegen: „ Vielleicht ist es ruhig. Vielleicht bauen sie ein Haus für uns. Vielleicht ist es dann für die Kinder ruhiger. Wir haben schon an die UNRWA geschrieben und darum gebeten, dass man uns ein Haus baut für das zerstörte“. „ Wartet bis nach dem Abzug“ dann werdet ihr vielleicht ein Stückchen Land bekommen, auf dem ihr ein Haus bauen könnt“, antwortete die internationale Organisation.

Zwei Mietshäuser mit je 20 Wohnungen stehen wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen. Die IDF sprengte sie vor einem Jahr in die Luft, weil sie zu nah an Neve Dekalim standen. So gab es 500 weitere Obdachlose – doch wen interessiert die Zahl ? Alle übrigen Mietshäuser in der 1.Reihe gegenüber dem unsichtbaren Neve Dekalim, sind teilweise zerstört. Tausende von Einschüssen und einige größere von Granatbeschuss zeugen von den Tagen des Schreckens. Hier herrschte Krieg. In den westlichen Räumen wagt keiner zu leben. Dort hängen nur Teppiche in der Luft. Die Familie drängt sich nur in den östlichen Räumen zusammen, auch heute während der Zeit der Feuerpause. Selbst jetzt ist es gefährlich hier – gegenüber dem Militärposten - zu stehen.

Wir betreten ein Mietshaus. Es ist gut eingerichtet: eine Haussprechanlage am Eingang, Stillampen im Empfangsbereich, Ornamente am Gebäude, Sattelitenfernsehantennen auf dem Dach. Es ist der Stadtteil der oberen Klasse von Khan Yunis. Aber einige der Wohnungen stehen leer. Wer kann, ist aus dem Inferno geflohen.

„Turmos,turmos!“ ( eine Art Bohnen) ruft ein Straßenverkäufer von seinem Dreirad... “ein Beutel für 1.5.Schekel!" Es gibt keine Käufer. ...

Im südlichsten Haus – gegenüber von noch einem IDF-Außenposten lebt Fuad H. Er sitzt im Sand vor seinem Haus im Schatten eines jungen Feigenbaumes. Die Zweige des Baumes verbergen uns vor den Soldaten im Militärposten, der sogar so beängstigend wirkt, auch wenn uns 200 m trennen. Die israelische Flagge mit dem Davidstern wirkte auf mich noch nie so bedrohend. H.’s Bein ist über dem Knie amputiert. Am 24.11. 2000 trat er vor die Tür und wurde ins Bein geschossen. Er ist 43 Jahre alt und hat 6 Kinder. Er hat keine Mittel, sich eine Prothese zu leisten. Bevor er verwundet wurde, arbeitete er in Israel. Er bat uns, nicht sein Gesicht zu fotografieren, weil er daran denkt, Israel wegen seiner Verletzung gerichtlich zu belangen. Sein Anwalt riet ihm, sich nicht fotografieren zu lassen. Im Augenblick zieht er drei Pfaue in einem Käfig groß. Ein Bein-Amputierter sitzt im Sand und schaut gelegentlich zum israelischen Militärposten, von wo in sein Bein geschossen wurde und gelegentlich zu seinen stolzen Pfauenvögel im Käfig. So verbringt er seine Zeit ...

Gideon Levy, haArez 20.05.2005, gekürzt von Ellen Rohlfs, http://www.zmag.de

hagalil.com 26-06-2005

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