"Jerusalemer Umschlag", kurz vor der Vollendung:
Ein Schlag gegen die Mauer
Entlang der Route des mächtigen "Jerusalemer Umschlages", kurz vor der
Vollendung
von Gideon Levy, Ha' aretz
Bald wird das Tor verschlossen sein. Auch dieses. Eine
riesige Platte wird mit der anderen verbunden, wie Legoblöcke. Und der Beton
wird alles absperren. Hier gibt es keine Debatte: das ist eine Mauer – kein
Trennungszaun. Eine Mauer. Ein mächtiges Bauwerk – zweimal so hoch wie seine
historische Schwester, die Berliner Mauer.
Warum diese Höhe? Über 8 Meter. Hat das etwas mit dem
Größenwahnsinn seiner Erbauer zu tun? Ein unersättlicher Wunsch zu
demütigen? Um ihnen ihren Platz anzuweisen: wie kleine Insekten vor einer
kolossalen Mauer. Um sie vor unseren Blicken verschwinden zu lassen und so
den letzten israelischen Traum der „Trennung“ zu verwirklichen? Glauben zu
machen, dass wenn wir sie hinter der Mauer verstecken – wir sie nicht mehr
sehen, dass sie aufhören zu existieren? Eine Mauer mitten in der Stadt, die
Abu Dis in zwei Teile teilt. Keiner fragt warum – warum gerade hier, mitten
in der Stadt? Und warum diese unmenschliche Höhe? Keiner ist interessiert,
keiner macht sich die Mühe, dies zu erklären. Der „Jerusalem-Umschlag“. Noch
ein euphemistischer, abmildernder Ausdruck für einen anderen Schrecken der
Besatzung.
Bald wird das Tor verschlossen sein, wenn der letzte palästinensische
Arbeiter den letzten Riegel ihres Käfigs installiert hat. Wir hier – sie
dort, und wir natürlich auch dort: herumstöbern, ausreißen, demolieren,
pflastern, graben, Zement gießen, aufbauen, gerade machen, Schrauben
anziehen, mit einander verbinden, schützen – bis wir eine Mauer haben, eine
Apartheidmauer.
Vielleicht wird der Tag kommen, an dem diese Mauer in kleinen Stücken in
Souvenirläden in Jerusalems Altstadt, im Jeniner Flüchtlingslager und in der
Casbah von Nablus verkauft werden wird. In dieser Woche erscheint dieser Tag
in weiter Ferne. Vorläufig leuchtet der Felsendom mit goldener Kuppel in der
Sonne und überschaut die Aktivitäten hier. Bald wird auch er vor den Augen
der Bewohner von Abu Dis verschwunden sein, die sich so daran gewöhnt haben,
ihn zu sehen. Jerusalems Schönheit wird immer obskurer.
Ein palästinensischer Fahrer bewegt einen Kran mit riesigem panzerartigen
Fahrwerk im Rückwärtsgang, hebt langsam die Betonplatten und sperrt nach und
nach sein eigenes Volk ein. Platte um Platte wird gehoben und auf den für
die Mauer aufgerissenen Grund gesetzt. Noch eine Platte für den Käfig und
noch eine, 24 Stunden lang an einem Tag. Es wird so schnell als möglich
gearbeitet, rund um die Uhr. Er muss vor der Anhörung in Den Haag fertig
sein. Dicht, grau, glatter Beton – der große Sieg über den Terror. Trennung
zwischen Palästinensern und Palästinensern, zwischen den „Guten“ und den
„Bösen“. Obwohl keiner sagen kann, warum gerade diese gut sind und die
andern nicht, nach welchen Kriterien wird beurteilt? Was haben die einen
getan, um Freiheit zu erhalten und welche Sünde haben die eingesperrten
begangen, dass sie dieses Schicksal verdienen?
Trennung eines Bauers von seinem Land, eines Lehrers von seinen Studenten,
der Patienten von ihrem Arzt, Trennung der Geschwister. Wohngebiete werden
auseinander gerissen, Familien geteilt, obwohl sie alle zum selben Dorf
gehören: Abu Dis. Meter um Meter windet sich die Mauer den Berg hoch und ins
Tal hinab. Was ( vor hundert Jahren R.) mit der „Eroberung der Arbeit“ und
den „Palisaden und Türmen“ begann, wird nun zur Eroberung eines Volkes und
zu einer Palisade ohne einen Turm. Aber keine Sorge: Die Türme werden nach
dem ersten Terroranschlag auch hier wachsen . Dann kommen die
Schmuggeltunnels wie in Rafah und in Sarajewo - wie an jedem Ort, der durch
eine Mauer getrennt wird. Dann wird das Zerstören von Häusern folgen, und
die Bäume werden verschwinden – natürlich alles begleitet von Blutvergießen.
Blut wird dort vergossen, wo Betonmauern provozieren und einsperren. Die
Häuser neben der Mauer, die also an die Mauer anstoßen, haben am längsten da
gestanden. Wenn die Besitzer erst einmal die Nase voll haben von der
Grenzpolizei in ihrem Hof und den Soldaten an der Haustür, werden die Häuser
bald „verlassen sein“ und dann plötzlich als „verlassenes Eigentum“
betrachtet werden. Dann können wir damit machen, was wir wollen. „An diesem
Morgen zerstörten die IDF noch eine Reihe verlassener Häuser in Abu Dis“,
wird der lakonische Nachrichtenreporter verkünden, genau so wie die fast
täglichen Berichte von den vergessenen Killing-Fields in Rafah.
Land der Mauern
Also sollten wir zum Abschied noch einen letzten Blick auf die Häuser
werfen, solange sie noch stehen. Mit der im Winde flatternden Wäsche und den
Menschen darin. Es sind ihre letzten Tage zu Hause. Uns war immer gesagt
worden, dass eine Stadt mit einer Mauer eine schlechte Sache sei, dass
Jerusalem auf ewig vereint sein wird.
Ein Land, das immer mehr Mauern errichtet, kann kein Vorbild sein. Denn die
Mauer ist nicht nur hier, entlang der Trans-Israel-Autobahn gibt es sie auch
und zwischen Caesarea und Jisr al Zarqa steht noch eine. Dies hier wird ein
Land der Mauern. Das „verheißene Land“ wird in Beton gehüllt,
zusammengedrängt hinter dicken Betonmauern wie „die Eiserne Mauer“ Zeev
Jabotinskys. Dahinter wird ein Volk eingekerkert, das Land und seine
Bewohner verletzt; ein übler Zaun wird gebaut, der so noch gefährlichere
Nachbarn schafft. Und alles wird auf Land gebaut, das uns nicht gehört. Eine
Reihe Olivenbäume entlang der Straße wartet auf den Tag, bis sie aus diesem
Land ausgerissen wird. Ihre Zeit ist vorbei. Noch ein paar Tage und sie
werden abgesägt worden sein. Ein kalter Wind pfeift durch sie und lässt die
Blätter noch einmal rascheln. Seit Jahrzehnten stehen sie da. Vielleicht
werden sie am jüdischen Fest des Baumes ausgerissen. Vielleicht werden
Schulkinder, in Weiß und Blau gekleidet, hergebracht, um ihnen zu zeigen,
wie Olivenbäume abgeschlagen werden, so wie wir einmal hinausgingen und an
diesem Feiertag aufgeregt Bäume pflanzten.
Die Bewohner von Abu Dis überqueren schnell den Graben, in den die
Betonplatten bald eingesetzt werden, um in diesen letzten Tagen noch einmal
die Freiheit zu genießen, die Stadt durchqueren zu können. Die letzten
Augenblicke der Freiheit, bevor das Tor verschlossen ist. Keine Gebete
gelangen über diese Mauer, die Mauer von Angst und Hass. Es wird der Tag
kommen, an dem die Bewohner ihren Kindern von der Zeit erzählen werden, in
der dieses Monstrum noch nicht hier war und in der sie immer, wann sie
wollten, in die Stadt gehen konnten. Die Kinder werden es ihnen kaum
glauben. Was – Abu Dis ohne Mauer? So dass man direkt von zu Hause aus zur
Schule gehen konnte. Es gab niemals so etwas wie die Maginot Linie in Abu
Dis, diese Berliner Mauer des vereinten Jerusalem. Zuerst nehmen wir Abu Dis
und dann Al-Ram, der nächste Halt des „Sicherheits-Umschlages“ von
Jerusalem. Wie viele Israelis haben sie gesehen? Und wie viele wollen sie
sehen? Wie viele werden verstehen, was wir hier einem Volk antun, dem wir
seit 37 Jahren immer mehr die Luft zum Atmen nehmen (anders kann ich es
nicht ausdrücken) – und nun noch diese Mauer zu allem übrigen. Hierher
sollten Schulklassen auf ihrem Schulausflug gebracht werden – damit sie
sehen. Je näher man zur Mauer kommt, um so kleiner fühlt man sich. Stell
dich daneben – und du fühlst dich nur noch wie ein winziges menschliches
Etwas.
Die Mauer windet sich durch die Landschaft und wir folgen ihr. Ein LKW von
„Ackerman-Industrie, Logistics und Installationen“ parkt an der Seite. Sonst
baut sie Straßen in den Vorstädten. Nun diese Mauer. Anstelle der früheren
hebräischen Arbeitsbrigaden, haben wir die Arbeitsbrigaden von Yata und
Gaza. Ein erstes Graffiti im Beton: „Arafat wird Sharon ficken!“
Ein Minarett trotzt
Ein Brunnen, der über 300 Jahre alt sein soll. Die Bulldozer haben seine
Öffnung in ein weit klaffendes Loch verwandelt. Die abstürzenden Steine
hinterlassen Spuren. Es ist der Brunnen der Erekat-Familie, deren Haus
direkt neben der Mauer steht. Das Haus steht auf der einen Seite der Mauer,
die 14 Dunum (3,5acres) Land liegen auf der anderen Seite. Der Brunnen liegt
zwischen Haus und Mauer. Eine ältere Frau sprengt die Stufen vor dem
Eingang, um den Staub von der Steinbrucharbeit im Hof wegzuwischen. Das
halbe Haus liegt in den besetzen Gebieten, die andere Hälfte liegt im
vereinigten Jerusalem. Die Bewohner der Räume auf der Jerusalemseite zahlen
Gemeindesteuern – obwohl es sehr unklar ist, für welche Dienste eigentlich.
Vielleicht für das Recht, die Stadt betreten zu dürfen. Die anderen sind von
der Steuer befreit. Aber es ist ihnen verboten, die Stadt zu betreten. Sie
gehören aber alle zu einer Familie. Der winzige Garten ist gut gepflegt. Er
gehört zum ganzen Haus und erstreckt sich von den besetzten Gebieten bis zur
Hauptstadt. Das weiße Haus gegenüber sollte abgerissen werden, bis das
Gericht intervenierte und dies zunächst mal verhinderte. „Was können wir
tun?“ fragt die alte Frau –Fatma Erekat, 74. Der Menschenrechtler Bassam
Eid, der uns begleitet, sagt mit einem Lächeln, dass alle Frauen ihrer
Generation entweder Fatma oder Maryam heißen. Fatma lächelt. Ihre Schwester
heißt Maryam. Sie hat acht Töchter und vier Söhne und viel mehr Enkel und
Urenkel. Sie kann sich nicht erinnern, wie viele. „Ich kann weder lesen noch
schreiben“, sagt sie. „Aber die ganze Welt weiß, was 1948 geschehen ist.
Auch 1967. Einige flohen – wir blieben.“ Die Betonplatten lehnen an
einander. Eine TV-Garnitur steht auf dem Steinbalkon der Erekats. Vielleicht
als Ersatz für den prächtigen Blick, der nun abhanden gekommen ist. Statt
den Blick auf die Al-Aqsa-Moschee zu haben, sieht man jetzt al Jazeera. Von
beiden Seiten der Mauer hört man die Rufe der Muezzins. Der Fahrer der
orangenen Maschine, die die Betonplatten holt, stoppt den Motor, breitet
eine gelbe Matte auf dem schmutzigen Boden aus und verrichtet sein
Mittagsgebet in Richtung der Mauer, die auch die Richtung nach Mekka ist.
Das Minarett der örtlichen Moschee ist noch höher als die Mauer und scheint
ihr zu trotzen.
Die Arbeiter aus Gaza verließen ihre Wohnungen um 11 Uhr in der Nacht, um
hier um 7 Uhr am Morgen zu sein. Um 4 Uhr nachmittags endet ihr Arbeitstag,
um 7 Uhr abends sind sie wieder zu Hause, um 4 Stunden später wieder
aufzubrechen. Tag um Tag, Nacht um Nacht - um Israels Sicherheit willen.
Einer von ihnen trägt eine US-Flotten-Kappe. Er fragt, ob wir nicht ein Foto
von ihnen machen könnten. Sie sind nicht glücklich mit dieser Arbeit.
„Palästinensische Entschlossenheit wird 1000 Zäune zerstören“, steht auf
einem Blatt Papier, das an der Abu Dis-Seite der Mauer angeheftet war. 1000
Zäune – und jetzt ist in der Mitte der Stadt nur ein kleiner offener Spalt
in der Mauer. Und die Bewohner klettern noch über die Betonblöcke, um von zu
Hause zum Lebensmittelladen zu gelangen. Alles ist relativ. Bald werden sie
Heimweh nach diesen Tagen haben. Die Al-Razali Schreinerei hatte ihren
Eingang direkt an der Mauer. Sie hat schon zugemacht. Denn wer würde hierher
kommen, um ein Möbelstück fürs Wohnzimmer zu bestellen? „Wer sperrt Menschen
in dieser Weise ein?“ fragt ein Passant. „Sperre einen Hund in der Weise
ein, dann wird er zu einem Raubtier.“ Kameras aus aller Welt dokumentieren
dies. „Abu Dis-Ghetto“ steht schon in roter Schrift auf dem Beton.
Zum Thema Sicherheitszaun:
Über die Sicht der Dinge:
Die Geschichte von
zwei Zäunen
Als Medienkonsumenten brauchen die Amerikaner und
die Europäer weniger Israel und mehr Welt, anderenfalls werden auch wir von
einem Zaun umgeben, der unsere Sicht der Angelegenheiten der wirklichen Welt
blockiert...
The Separation Wall in Abu Dis:
The Walls of Hurt
M.J. Rosenberg, Director of Policy Analysis for Israel
Policy Forum and former editor of AIPAC’s (The American Israel Public
Affairs Committee) Near East Report, reflects on his recent visit to Israel
and recounts his impressions while visiting the separation wall Israel is
building in the Jerusalem neighbourhood of Abu Dis...
Video: "Das Recht zu leben" - der Zaun gegen den Terror...
real-v 1.8mb /
wmf 5.8mb
Video: Erfolgreiche Hausdurchsuchung in Bitunia, die zur
Beschlagnahme von Sprengstoff führt...
real-v 0.7mb /
wmf
1.6mb
Zauberlösung für das Übel des Terrorismus?
"Trennzaun" oder "Apartheids-Mauer"
Für die Israelis ist es ein "Trennzaun", für die
Palästinenser eine "Apartheids-Mauer". Für die Israelis scheint es ideal,
für die Palästinenser eine existenzielle Bedrohung...
hagalil.com 22-02-2004 |