Verdammt noch mal:
Was ist mit dieser Armee los?
Uri Avnery
WAS IST eigentlich mit dieser Armee los?
Diese Frage wird jetzt nicht nur immer stärker in der Weltgemeinschaft
gestellt, sondern auch in Israel selbst. Ganz offensichtlich besteht ein
starker Kontrast zwischen der prahlenden Arroganz der Armee, mit der
Generationen von Israelis aufgewachsen sind, und dem Bild, das sich durch
den jetzigen Krieg ergibt.
Bevor nun aber der Chor der Generäle in das zu erwartende Wehgeschrei à la
Dolchstoßlegende verfällt - „Die Regierung hat uns die Hände gebunden! Die
Politiker haben die Armee nicht siegen lassen! Die politische Führung ist
für all das verantwortlich zu machen!“ - lohnt es sich, diesen Krieg einmal
unter einem professionellen militärischen Gesichtspunkt* zu betrachten.
Die Fakten sprechen für sich selbst:
- Am 32. Kriegstag, ist die Hisbollah immer noch intakt
und kämpft. Das ist an sich bereits eine verblüffende Tatsache: eine
kleine Guerilla-Organisation mit ein paar tausend Kämpfern wagt es, sich
gegen eine der stärksten Armeen der Welt zu erheben und ist auch nach
einem Monat des bombenden „Pulverisierens“ ungebrochen. Von 1948 an,
wurden die Armeen Ägyptens, Syriens und Jordaniens in wesentlich
kürzeren Kriegen geschlagen.
Wie ich bereits schon einmal formuliert habe: wenn ein Boxer der
Federgewichtsklasse in einem Kampf mit einem Meister der
Schwergewichtsklasse in der 12. Runde immer noch steht, dann ist der
Sieg sein – egal was die Punktewertung im Einzelnen besagt.
- Bei einer Auswertung der Ergebnisse – und das ist das
Einzige, was im Krieg zählt – muss die strategische und taktische
Kommandoführung der Hisbollah als besser bewertet werden, als die
unserer Armee. Von Anfang an, war die Strategie unserer Armee primitiv,
brutal und grobschlächtig.
- Ganz offensichtlich hat sich die Hisbollah gut auf
diesen Krieg vorbereitet – während die israelische Kommandoführung sich
wohl auf eine andere Art von Krieg eingestellt hatte.
- Auf der Ebene der Einzelkämpfer, stehen die
Hisbollahkämpfer unseren Soldaten in nichts nach – weder was den Mut
noch den Kampfgeist angeht.
DIE HAUPTSCHULD für das Versagen muss General Dan Halutz
zugesprochen werden. Ich sage bewusst „Schuld“ und nicht nur
„Verantwortung“, die natürlich sowieso immer beim Oberkommandierenden der
Armee liegt. Er ist der lebende Beweis dafür, dass ein aufgeblasenes Ego und
eine brutale Vorgehensweise keinen kompetenten Oberbefehlshaber machen –
während sehr wohl das Gegenteil richtig sein könnte.
Halutz erreichte eine traurige Berühmtheit, als er gefragt wurde, was er
spürt, wenn er eine 1-Tonnen-Bombe über einem Wohngebiet ausklinkt und
darauf antwortete: „eine leichte Vibration am entsprechenden Flügel“. Er
fügte hinzu, dass er nach solchen Einsätzen nachts sehr gut schlafen könne.
(Im selben Interview nannte er meine Freunde und mich „Verräter“, die
gerichtlich verfolgt werden sollten).
Mittlerweile ist klar geworden – wiederum bezogen auf die Ergebnisse – dass
Dan Halutz der schlechteste Oberbefehlshaber in den Annalen der israelischen
Armee ist und komplett inkompetent für diesen Job.
Vor kurzem hat er die blaue Luftwaffen-Uniform gegen die grüne der
Bodentruppen eingetauscht. Zu spät.
Halutz begann diesen Krieg mit dem Übermut eines Luftwaffen-Soldaten. Er
glaubte, dass es möglich sei, die Hisbollah durch Luftbombardements,
kombiniert mit Artilleriefeuer von Land und See, zu zermalmen. Er glaubte,
wenn er Städte, Stadtviertel, Straßen und Brücken des Libanon zerstöre, dass
dann das libanesische Volk sich erheben und seine Regierung zwingen würde,
die Hisbollah zu entfernen. Eine Woche lang verwüstete und tötete er, bis es
auch dem Letzten klar wurde, dass er das Gegenteil damit erreichte – nämlich
die Stärkung der Hisbollah, die Schwächung ihrer Gegner im Libanon und der
ganzen arabischen Welt und die Ruinierung der weltweiten Sympathie, die
Israel noch zu Anfang des Krieges genoss.
Als er diesen Punkt erreicht hatte, wusste Halutz nicht mehr weiter. Für
weitere drei Wochen, schickte er seine Soldaten auf sinn- und hoffnungslose
Missionen in den Libanon, ohne irgendetwas damit zu erreichen. Selbst in den
Kämpfen, die in Dörfern in unmittelbarer Grenznähe tobten, wurden keine
bemerkenswerten Siege errungen. Nach Ablauf der vierten Woche, gebeten, der
Regierung einen Plan vorzulegen, legte er einen solchen vor – einen Plan von
schier unglaublicher Primitivität.
Wenn der „Feind“ eine reguläre Armee wäre, wäre der Plan ein schlechter -
denn den Feind einfach nur zurückzuschieben, ist keine gute Strategie. Aber
wenn auf der anderen Seite eine Guerilla-Truppe steht, ist diese Idee
geradezu dumm. Umgesetzt, wird dieser Plan möglicherweise zum Tod vieler
Soldaten führen, und das ohne jegliches Resultat.
Nun versucht er, einen Ersatzsieg zu erringen, indem er leeren Raum
möglichst weit entfernt von der Grenze besetzen lässt, nachdem die UN schon
zu einem Ende der Feindseligkeiten aufgerufen hat. Hinter dieser Linie
bleibt die Hisbollah in ihren Bunkern intakt.
WIE AUCH immer, der Oberbefehlshaber agiert nicht in einem luftleeren Raum.
Als Oberbefehlshaber hat er einen riesigen Einfluss und ist doch zugleich
nur die Spitze der militärischen Pyramide.
Dieser Krieg wirft einen gewaltigen Schatten auf das gesamte
Führungspersonal unserer Armee. Ich nehme an, dass es einige talentierte
Offiziere darin gibt, aber der Gesamteindruck ist der von
Durchschnittlichkeit, grau in grau, ohne jegliche Originalität. Beinahe alle
Offiziere, die im Fernsehen so zahlreich erscheinen, sind weder
beeindruckend, noch inspirierend – einfach Handwerker auf die Deckung ihrer
Hintermänner bedacht, stetig leere Phrasen dreschend, Papageien.
Die Ex-Generäle, die jedermann sonst aus den TV- und Rundfunk-Studios
verdrängt haben, überraschten meist durch ihre Niveaulosigkeit, begrenzte
Intelligenz und allgemeine Unwissenheit. Es verdichtet sich der Eindruck,
dass sie keinerlei Bücher über Kriegsgeschichte gelesen haben und diese
Lücke nun mit leeren Phrasen füllen.
Mehr als einmal wurde es in diesen Artikeln bereits gesagt: eine Armee, die
seit Jahren als koloniale Polizeitruppe gegen die palästinensische
Bevölkerung agiert – gegen „Terroristen“, Frauen und Kinder – und ihre Zeit
damit verbringt, hinter Steine werfenden Jungen hinterherzulaufen, kann
keine effiziente Armee bleiben. Die Überprüfung der bisherigen Resultate
bestätigt das.
NACH JEDEM Fehlschlag des Militärs, ist der Nachrichtendienst darum bemüht,
möglichst schnell seine Blöße zu bedecken. Ihre leitenden Vorgesetzten geben
bekannt, alles gewusst zu haben, dass sie die Truppen mit vollständigen und
genauen Informationen beliefert haben, und dass nicht sie zu beschuldigen
sind, wenn die Armee nicht entsprechend handelt.
Das ist nicht glaubwürdig. Wenn man die Reaktionen der Kommandanten im Feld
betrachtet, schienen diese vom Verteidigungssystem der Hisbollah im
Südlibanon tatsächlich komplett überrascht zu sein. Die komplexe
Infrastruktur der verborgenen Bunker, gefüllt mit moderner Ausstattung,
Nahrung und Waffen, überraschte die Armee vollkommen. Für diese Bunker,
einschließlich derer, die zwei oder drei Kilometer von der Grenze entfernt
sind, war sie nicht gewappnet. Sie ähneln den Tunneln in Vietnam.
Der Nachrichtendienst war durch die lange Besetzung der palästinensischen
Gebiete korrumpiert worden. Sie war daran gewöhnt, sich auf Tausende von
Kollaborateuren zu verlassen, die sie im Laufe von 39 Jahren durch Folter,
Bestechung und Erpressung gewonnen hatten. (Drogenabhängige benötigen
Drogen, andere bettelten darum, ihre sterbende Mutter besuchen zu dürfen,
ein anderer wollte nur ein Stück vom Korruptionskuchen abhaben etc.) Hier
wurde deutlich, dass unter den Hisbollah keine Kollaborateure gefunden
wurden. Und ohne sie ist der Geheimdienst blind.
Es ist auch klar, dass sowohl der Geheimdienst, als auch die Armee
allgemein, nicht auf die tödliche Effizienz der panzerbrechenden Waffen der
Hisbollah eingestellt waren. Kaum zu glauben, aber nach offiziellen Angaben,
wurden mehr als 20 Panzer getroffen.
Der Panzer Merkava ist der Stolz der Armee. General Israel Tal, der Vater
des Merkava und siegreicher Panzerkommandeur, wollte damit nicht nur den
weltweit hochentwickeltsten Panzer bauen, sondern zugleich seine Besatzung
mit bestem Schutz versehen. Jetzt scheint es so zu sein, dass relativ simple
panzerbrechende Waffen, die in großer Anzahl verfügbar sind, einen Panzer
zerstören und die Insassen töten und schwer verwunden können.
DER GEMEINSAME Nenner all dieses Versagens ist die abwertende Ignoranz
gegenüber den Arabern, eine Verachtung, die fürchterliche Konsequenzen hat.
Sie hat totales Missverständnis verursacht, eine Art Blindheit für die
Motive der Hisbollah, ihre Haltung und ihre Stellung innerhalb der
libanesischen Gesellschaft etc.
Ich bin der Überzeugung, dass die heutigen Soldaten ihren Vorgängern in
keiner Weise unterlegen sind. Ihre Motivation ist hoch, sie haben großen Mut
bei der Bergung verletzter Kameraden unter feindlichem Feuer bewiesen. (Ich
schätze das in besonderem Maße, wurde doch mein eigenes Leben nach einer
Verwundung unter solchen Umständen von anderen Soldaten, die dabei ihr Leben
riskierten, gerettet.) Aber auch die besten Soldaten können nicht
erfolgreich sein, wenn ihre Kommandeure unfähig sind.
Die Geschichte lehrt, dass eine Niederlage für eine Armee ein Segen sein
kann. Eine siegreiche Armee ruht sich auf ihren Lorbeeren aus, sie hat keine
Motivation, sich selbst zu kritisieren, sie degeneriert, ihre Kommandeure
werden unvorsichtig und verlieren den nächsten Krieg (siehe hierzu den
Sechs-Tage-Krieg, auf den der Jom-Kippur-Krieg folgte.) Eine besiegte Armee
hingegen weiß, dass sie sich rehabilitieren muss. Unter einer Bedingung:
dass sie die Niederlage zugibt.
Nach diesem Krieg, muss der Oberbefehlshaber entlassen und die Gruppe der
leitenden Kommandeure umgekrempelt werden. Zu diesem Zweck wird ein
Verteidigungsminister gebraucht, der mehr ist, als eine Marionette des
Oberbefehlshabers. (Aber das betrifft die politische Führungsriege, zu deren
Versagen und Sünden ich mich ein anderes Mal äußern werde).
Wir als Friedensanhänger haben ein großes Interesse an der Auswechslung der
militärischen Führung. Erstens, weil sie großen Einfluss auf die Bildung der
politischen Agenda hat, und unverantwortliche Generäle - wie wir gesehen
haben – in der Lage sind, eine Regierung mit Leichtigkeit in gefährliche
Abenteuer mitzureißen. Und zweitens, weil wir selbst nach dem Erreichen
eines Friedens, auf eine effektive Armee angewiesen sein werden – zumindest
bis der Wolf sich zum Schafe legt, wie es der Prophet Jesaja formuliert hat.
(Und dies nicht im Sinne der israelischen Version: „ Kein Problem. Es muss
dann nur jeden Tag ein neues Schaf gebracht werden.“)
DIE HAUPTLEKTION dieses Krieges, jenseits aller militärischen Analyse, kommt
in den fünf Worten zum Ausdruck, die wir vom aller ersten Tag an als Slogan
hoch gehalten haben: „Es gibt keine militärische Lösung!“.
Selbst eine starke Armee kann eine Guerilla-Organisation nicht besiegen,
denn die Guerilla ist ein politisches Phänomen. Vielleicht ist das Gegenteil
wahr: je stärker die Armee, je besser sie mit high-tech Material
ausgestattet ist, desto geringer ist ihre Chance, in einer solchen
Konfrontation zu gewinnen. Unser Konflikt – im Norden, im Zentrum und im
Süden – ist ein politischer und kann als solcher nur mit politischen Mitteln
gelöst werden. Die Armee ist das unpassendste Instrument für diese Aufgabe.
Der Krieg hat bewiesen, dass die Hisbollah ein starker Gegner ist, und
jeglicher Lösungsvorschlag für den Norden muss sie berücksichtigen. Syrien
ist ein starker Verbündeter der Hisbollah, und daher muss eine solche Lösung
auch Syrien miteinbeziehen. Der ausgehandelte Kompromiss muss sich auch für
die Syrer lohnen, sonst wird der Frieden nicht von Dauer sein.
Der Preis besteht in der Rückgabe der Golanhöhen.
Was für den Norden zutrifft, gilt genauso für den Süden. Die Armee wird die
Palästinenser nicht besiegen, weil ein solcher Sieg komplett unmöglich ist.
Wenn man der Armee etwas Gutes tun will, muss man sie aus diesem Sumpf
herausholen.
Wenn dies endlich in das Bewusstsein der israelischen Öffentlichkeit Eingang
finden würde, könnte sogar dieser Krieg noch eine positive Seite haben.
(Es ist an dieser Stelle vielleicht angebracht, eine
persönliche Anmerkung einzufügen. Wer bin ich, dass ich über
Militärstrategie sprechen dürfte? Bin ich etwa ein General? Nun, ich war 16
Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Ich entschloss mich, die
theoretische Militärliteratur zu studieren, um in der Lage zu sein, den
Geschehnissen folgen zu können. Ich las einige hundert Bücher –von Sun Tzu
über Klausewitz zu Liddel-Hart und so weiter. Später, im 1948-er Krieg
lernte ich die Kehrseite der Medaille als Soldat und Zugführer kennen. Ich
habe zwei Bücher über diesen Krieg geschrieben. Das macht keinen großen
Strategen aus mir, aber erlaubt mir wohl, eine Meinung zu äußern.)
(Aus dem Englischen: Christoph Glanz, Ellen Rohlfs, vom
Verfasser autorisiert)
uri-avnery.de /
avnery-news.co.il
To discus this article:
hagalil.com/forum
Aus der Rede von Uri Avnery, Demonstration 5.8.06 in
Tel Aviv
Man sagt, wir wären eine Randgruppe, Außenseiter.
Und ich sage: ja wir sind Außenseiter, wie sind die Wenigen, die der
kriegsbegeisterten Mehrheit gegenüber stehen. Aber im nächsten Monat oder
nächstes Jahr wird jeder von uns stolz erklären: ich war hier. Ich rief mit
dazu auf, diesen verfluchten Krieg zu beenden.
Und Tausende, die uns jetzt verfluchen, werden im nächsten Monat oder
nächstes Jahr dann behaupten, sie seien auch hier gewesen, auch sie seien
gegen diesen wahnsinnigen Krieg gewesen.
Hier stehe ich und im Namen der Demonstranten sage ich zu Ehud Olmert: Höre
mit diesem Wahnsinn auf! Der Krieg ist dir zu Kopf gestiegen! ... Ein Krieg,
aus dem nichts Gutes entstehen kann. Hör mit ihm auf, bevor es zu spät ist!
Im Namen der Demonstranten sage ich zu Amir Peretz:
Viele, die hier stehen, haben dich gewählt. Du hast sie belogen! Du hast sie
betrogen! Du gabst vor, ein Sozialreformer zu sein; du hast versprochen,
mehr Geld für Bildung und Wohlfahrt anstelle für die Armee auszugeben...
Hör auf, bevor es zu spät ist!
Im Namen der Demonstranten stehe ich hier und sage zu Hassan Nasrallah:
Du hast eine gefährliche Provokation durchgeführt, den Kriegstreibern hast
du einen Vorwand geliefert; du hast ihr Spiel gespielt. Lass uns jetzt
aufhören!
Lass uns anfangen, zu verhandeln – Israel, Libanon und Syrien – Gefangene
austauschen, lasst uns aufhören, Bomben und Raketen abzufeuern.
Im Namen der Demonstranten stehe ich hier und sage zu unseren
palästinensischen Partnern:
Wir haben Euch nicht vergessen!!! Wir wissen ... was in Gaza geschieht und
in den anderen besetzten Gebieten. Wir müssen zusammenarbeiten, um diesen
Krieg zu beenden, Gefangene auszutauschen, um Frieden zwischen unseren
beiden Völkern zu stiften.
Im Namen der Demonstranten stehe ich hier und sage dem libanesischen Volk:
Als Israeli schäme ich mich zutiefst, für all das, was wir Euch antun, für
all die Verwüstung, die wir Euch antun, schäme ich mich abgrundtief.
Wenn dieser Wahnsinn endlich zu Ende ist, werden wir gemeinsam kämpfen –
Israelis und Palästinenser, Syrer und Libanesen, jüdische und arabische
Bürger Israels, um gemeinsam ein normales Leben zu führen, jeder in seinem
freien Staat, Seite an Seite in Frieden!
hagalil.com 14-08-2006 |