1948:
Was lehrte Sie der Krieg?
Von Uri Avnery
Ich hoffe, dass wir eines Tages „eine
Wahrheits- und Versöhnungskommission“ nach südafrikanischem Vorbild haben
werden. Sie sollte aus israelischen, palästinensischen und internationalen
Historikern zusammengesetzt sein, deren Aufgabe es wäre, herauszufinden, was
sich 1948 in diesem Lande tatsächlich zugetragen hat.
In den 60 Jahren, die seitdem vergangen sind, sind die Ereignisse dieses
Krieges unter vielen Schichten israelischer, jüdischer und arabischer
Propaganda begraben worden. Eine quasi-archäologische Ausgrabung ist
notwendig, um die untersten Schichten wieder zutage zu fördern. Selbst die
noch lebenden Augenzeugen, haben Probleme, zwischen dem, was sie tatsächlich
sahen und den Mythen zu unterscheiden, die die Ereignisse von damals so
verdreht und verfälscht haben, dass sie kaum noch zu erkennen sind.
Ich bin einer der Augenzeugen. Im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag haben
mich Dutzende von Radio- und Fernsehinterviewern in den letzten paar Tagen
darum gebeten, das zu beschreiben, was wirklich geschehen ist. Hier sind
einige dieser Fragen und meine Antworten dazu. ( Sollte ich Dinge
wiederholen, die ich schon früher beschrieben habe, dann bitte ich hiermit
um Entschuldigung).
- In was unterscheidet sich dieser Krieg von anderen?
Zunächst einmal war es nicht ein Krieg, sondern zwei Kriege, die ohne Bruch
auf einander folgten.
Zunächst war es ein Krieg, der zwischen Juden und Arabern im Lande
ausgefochten wurde. Er begann am Morgen nach der UN-Vollversammlung am 29.
November 1947, die die Resolution zur Teilung Palästinas in einen jüdischen
und arabischen Staat verkündigte. Dieser Krieg dauerte bis zur Ausrufung des
Staates Israel am 14. Mai 1948. An jenem Tag begann der zweite Krieg – der
zwischen dem Staat Israel und den benachbarten Ländern, die ihre Armeen in
die Schlacht warfen.
Es war kein Krieg zwischen zwei Ländern um ein Stück Land zwischen ihnen,
wie die Kriege zwischen Deutschland und Frankreich um das Elsass. Es war
auch kein Bruderkrieg wie der amerikanische Bürgerkrieg, wo beide Seiten zur
selben Nation gehörten. Ich möchte ihn als einen „ethnischen Krieg“
bezeichnen.
Solch ein Krieg wird zwischen zwei Völkern ausgefochten, die auf demselben
Land leben und die beide das ganze Land für sich beanspruchen. In solch
einem Krieg geht es nicht nur darum, einen militärischen Sieg zu erringen,
sondern auch darum, so viel Land wie möglich - dies aber ohne die
Bevölkerung der anderen Seite - in Besitz zu nehmen. Genau das geschah, als
Jugoslawien auseinanderbrach und als dabei– keineswegs zufällig – der
hässliche Ausdruck „ethnische Säuberung“ entstand.
- Wäre der Krieg vermeidbar gewesen?
In jener Zeit hoffte ich bis zum letzten Augenblick, dass er vermieden
werden könne (darüber später). Im Rückblick ist mir klar geworden, dass es
zu diesem Zeitpunkt zu spät war.
Die jüdische Seite war entschlossen, einen eigenen Staat zu gründen. Dies
war eines der fundamentalen Ziele der zionistischen Bewegung, die vor 50
Jahren entstanden war. Diese Bestrebung wurde nach dem Holocaust, der ja
erst zwei ein halb Jahre vorher geendet hatte, um das hundertfache
verstärkt.
Die arabische Seite war entschlossen, die Errichtung eines jüdischen Staates
im Lande, das sie (zurecht) als ein arabisches Land betrachteten, zu
verhindern. Deshalb begannen die Araber den Krieg.
(damals nannte man die Araber im Lande noch nicht „Palästinenser“, da ja
beide Seiten Einwohner Palästinas – also alle Palästinenser - waren)
- Was habt Ihr, die Juden, gedacht, als Ihr in den Krieg gingt?
Als ich mich zu Beginn des Krieges meldete, waren wir vollkommen davon
überzeugt, dass wir vor der Gefahr der Vernichtung standen und dass wir uns,
unsere Familien und die ganze hebräische Gemeinde verteidigen mussten. Der
Satz „Es gibt keine Alternative“ war kein Slogan, sondern eine tief
empfundene Überzeugung. (Wenn ich „wir“ sage, meine ich das Gefühl der
jüdischen Gemeinschaft allgemein und insbesondere das der Soldaten ). Ich
denke nicht, dass die arabische Seite von genau derselben Überzeugung
erfüllt war. Das war ihr Verderben.
Dies erklärt, warum die jüdische Gemeinschaft vom ersten Augenblick an total
mobilisiert war. Wir hatten eine geeinte Führung (selbst die Irgun und die
Sterngruppe akzeptierten ihre Autorität) und eine geeinte militärische
Kraft, die sehr schnell die Eigenschaften einer regulären Armee annahm.
Auf der arabischen Seite geschah nichts Derartiges. Sie hatten keine
vereinigte Führung, keine vereinigte arabisch-palästinensische Armee. Das
bedeutet, sie konnte ihre Kräfte nicht an den entscheidenden Stellen
konzentrieren. Wir erfuhren dies aber erst nach dem Krieg.
- Dachtet Ihr, Ihr wäret die stärkere Seite?
Überhaupt nicht. Damals waren die Juden nur ein Drittel der Bevölkerung des
Landes. Hunderte von arabischen Dörfern im ganzen Land beherrschten die
Hauptverbindungsstraßen, die für unser Überleben wichtig waren. Bei unseren
Bemühungen, diese Verbindungen – besonders die Straße nach Jerusalem - offen
zu halten, hatten wir große Verluste. Ehrlich gesagt, empfanden wir es so:
„wir wenige gegen so viele.“
Langsam veränderte sich das Machtverhältnis. Unsere Armee organisierte sich
besser und sammelte Erfahrungen, während die arabische Seite noch von der „faz’ah“
abhing, der einmaligen Mobilisierung von lokalen Dorfbewohnern, die nur mit
ihren eigenen alten Waffen ausgerüstet waren. Ab April 1948 erhielten wir
große Mengen leichter Waffen aus der Tschechoslowakei, die uns auf Stalins
Befehl gesandt wurden. Mitte Mai, als wir mit einer Intervention arabischer
Armeen rechneten, waren wir aber schon in Besitz eines zusammenhängenden
Gebietes.
- Mit anderen Worten, Ihr habt die Araber vertrieben?
Dies war noch keine „ethnische Säuberung“, sondern ein Neben-Produkt des
Krieges. Unsere Seite war auf einen massiven Angriff arabischer Armeen
vorbereitet und konnte keine feindliche Bevölkerung in unserm Rücken lassen.
Diese militärische Notwendigkeit war natürlich mit der mehr oder weniger
bewussten Tendenz verbunden, ein homogenes jüdisches Territorium zu
schaffen.
Im Laufe der Jahre haben Gegner Israels einen Verschwörungsmythos über den
„Plan Dalet“ geschaffen, als ob dieser die Ursache für die ethnische
Säuberung gewesen wäre. In Wirklichkeit war er ein militärischer Plan, um
ein zusammenhängendes Gebiet unter unserer Kontrolle zu schaffen, um die
entscheidende Konfrontation mit den arabischen Armeen vorzubereiten.
- Wollen Sie damit sagen, dass es in diesem Stadium noch keine
grundsätzliche Entscheidung gab, alle Araber zu vertreiben?
Man muss sich an die politische Situation erinnern: nach der UN-Resolution
sollte der „jüdische Staat“ mehr als die Hälfte Palästinas umfassen ( so wie
es 1947 unter britischem Mandat bestand). Auf diesem Gebiet war mehr als 40%
der Bevölkerung arabisch. Die arabischen Sprecher vertraten den Standpunkt,
es sei unmöglich, einen jüdischen Staat dort entstehen zu lassen, wo fast
die Hälfte der Bevölkerung arabisch sei und verlangten die Rücknahme der
Teilungsresolution. Die jüdische Seite, die an der Teilungsresolution
festhielt, wollte beweisen, dass es möglich sei. So gab es einige Bemühungen
(z.B. in Haifa), die Araber davon zu überzeugen, ihre Häuser nicht zu
verlassen. Aber die Realität des Krieges selbst verursachte den
Massenexodus.
Es muss festgestellt werden: In keinem Stadium „flohen die Araber aus dem
Land“. Im allgemeinen geschah es so: im Laufe des Kampfes kam ein Dorf unter
schweren Beschuss. Seine Einwohner – Männer, Frauen und Kinder – flohen
natürlich ins nächste Dorf. Wenn wir auf das nächste Dorf schossen, flohen
sie ins übernächste usw. bis der Waffenstillstand in Kraft trat und es
plötzlich eine Grenze – die Grüne Linie – zwischen ihnen und ihren Häusern
gab. Das Deir Yassin-Massaker veranlasste andere zur schnellen Flucht.
Selbst die Einwohner von Jaffa verließen das Land nicht – schließlich war
der Gazastreifen, in den sie flohen, ein Teil Palästinas.
- Wenn dem so ist, wann begann die „ethnische Säuberung“, von der Sie schon
sprachen?
In der zweiten Hälfte des Krieges, nachdem das Vordringen der arabischen
Armeen gestoppt worden war, wurde eine bewusste Politik der Vertreibung der
Araber ein Kriegsziel für sich.
Um der Wahrheit willen muss man daran erinnern, dass dies nicht einseitig
war. Nicht viele Araber blieben in den Gebieten, die von uns erobert wurden.
Aber kein Jude blieb in den Gebieten, die von den Arabern erobert wurden,
wie die Kibbuzim im Gush Ezion und das jüdische Viertel in der Altstadt
Jerusalems. Die jüdischen Bewohner wurden getötet oder vertrieben. Der
Unterschied war ein qualitativer, weil die jüdische Seite große Strecken
Land eroberten. Der arabischen Seite gelang es, nur kleine Landgebiete zu
erobern.
Die wirkliche Entscheidung kam nach dem Krieg: den 750 000 arabischen
Flüchtlingen nicht zu erlauben, zurückzukehren.
- Was geschah, als die arabischen Armeen eingesetzt wurden?
Anfangs sah unsere Situation verzweifelt aus. Die arabischen Armeen waren
reguläre Truppen, gut trainiert (meistens von den Briten), und sie waren mit
schweren Waffen ausgerüstet: mit Kampfflugzeugen, Panzern und Artillerie,
während wir nur leichte Waffen hatten, Gewehre, Maschinengewehre, leichte
Mörsergranaten und einige unwirksame Antipanzerwaffen. Erst ab Juni
erreichten uns schwere Waffen.
Ich selbst beteiligte mich am Ausladen der ersten Kampfflugzeuge, die aus
der Tschechoslowakei kamen. Sie waren für die deutsche Wehrmacht produziert
worden. Über unsere Köpfe flogen „deutsche“ Flugzeuge auf unserer Seite
(Messerschmidts) gegen britische Flugzeuge, die von Ägyptern geflogen wurden
( Spitfires).
- Warum unterstützte Stalin die jüdische Seite?
Am Vorabend der UN-Resolution hielt der sowjetische Vertreter, Andrej
Gromyko, eine leidenschaftliche zionistische Rede. Das direkte Ziel Stalins
war, die Briten aus Palästina zu treiben, wo sie möglicherweise
amerikanische Raketen hätten stationieren können. Eine zuweilen vergessene
Tatsache sollte hier erwähnt werden: die Sowjetunion war der erste Staat,
der Israel nach der Ausrufung des Staates de jure anerkannt hatte, die USA
erkannte damals Israel nur de facto an.
Stalin kehrte Israel erst dann den Rücken , als dieses sich einige Jahre
später offen dem amerikanischen Block anschloss. Zu jener Zeit wurde Stalins
antisemitische Paranoia offenkundig. Die Verantwortlichen für Moskaus
Politik waren damals der Meinung, dass es für sie besser wäre, auf den
wachsenden arabischen Nationalismus zu setzen .
- Was empfanden sie selbst während des Krieges?
Am Vorabend des Krieges glaubte ich noch an eine „semitische“ Partnerschaft
aller Bewohner des Landes. Einen Monat vor Ausbruch des Krieges,
veröffentlichte ich eine Broschüre „Krieg oder Frieden in der semitischen
Region“, in der ich diese Idee darlegte. Im Rückblick ist mir klar, dass
dies viel zu spät war.
Als der Krieg ausbrach, schloss ich mich sofort einer Kampfbrigade (Givati)
an. In den letzten Tagen, bevor ich einberufen wurde, gelang es mir - mit
einigen Freunden – noch eine zweite Broschüre herauszugeben „Von der
Verteidigung zum Krieg“, in der ich vorschlug, den Krieg so zu führen, dass
er zu dem erwünschten Friedensabkommen führt (Ich war sehr vom britischen
Militärkommentator Basil Liddell Hart beeinflusst, der solch einen Kurs
während des 2. Weltkrieges verfolgte).
Meine Freunde jener Zeit versuchten, mich davon zu überzeugen, mich nicht
bei der Armee zu melden. So könnte ich für die Aufgabe frei bleiben, die
viel wichtiger wäre, und meine Meinung während des Krieges äußern. Ich hatte
das Gefühl, dass sie nicht Recht hatten – dass der Platz eines jeden
anständigen jungen und gesunden Mannes in solch einer Zeit bei den
Kampftruppen ist. Wie hätte ich zu Hause bleiben können, wenn Tausende
meiner Altersgruppe Tag und Nacht ihr Leben riskierten? Und außerdem, wer
würde schon auf meine Stimme hören, wenn ich in solch einem entscheidenden
Augenblick unserer nationalen Existenz nicht meine Pflicht erfüllen würde?
Zu Beginn des Krieges war ich ein gemeiner Infanteriesoldat und kämpfte um
die Straße nach Jerusalem. In der zweiten Hälfte diente ich in der
motorisierten Kommandoeinheit „Samsons Füchse“ an der ägyptischen Front. Das
erlaubte mir, den Krieg von vielen verschiedenen Punkten zu erleben.
Während des Krieges schrieb ich meine Erfahrungen auf. Meine Berichte
erschienen in den Zeitungen und wurden später in einem Buch mit dem Titel
zusammengefasst: „In
den Feldern der Philister, 1948“ . Der militärische Zensor erlaubte
mir nicht, Negatives zu äußern. Deshalb schrieb ich direkt nach dem Krieg
ein zweites Buch „Die Kehrseite der Medaille“ , als literarisches Werk
getarnt, damit ich mich der Militärzensur entziehen konnte. Dort berichtete
ich unter anderem, dass wir Befehle erhalten hatten, jeden Araber zu töten,
der versuchte, zu seinem Haus zurückzukehren.
- Was lehrte Sie der Krieg?
Die Brutalitäten, derer ich Zeugen wurde, machten mich zu einem überzeugten
Friedensaktivisten. Der Krieg lehrte mich, dass es ein palästinensisches
Volk gibt und dass wir niemals Frieden erlangen werden, wenn es nicht einen
palästinensischen Staat neben unserm Staat geben wird. Dass dies noch nicht
geschehen ist, ist einer der Gründe, dass der Krieg von 1948 bis zum
heutigen Tag weitergeht.
(Aus dem Englischen Ellen Rohlfs/ Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)
hagalil.com 13-05-2008 |