Uri Avnery
Ein Klopfen um Mitternacht
Es war eine fast unglaubliche Zeitungsstory: um die Staatskasse in Ordnung
zu bringen, hat das Erziehungsministerium entschieden, Hunderte von Lehrern
zu entlassen. Eine private Gesellschaft erhielt den Auftrag, den entlassenen
Lehrern die bittere Nachricht zu überbringen.
Zwei Tage vor Pessach, einem der Höhepunkte des jüdischen Kalenders - für
religiöse genau so wie für nicht religiöse Juden - dann, wenn die Familien
für eine fröhliche Sederfeier um den Tisch versammelt sind, zogen die Boten
der Gesellschaft hinaus, um ihren Job zu tun. Sie klopften um Mitternacht an
die Türen und überbrachten die Kündigung.
Selbst die israelische Öffentlichkeit, die sich schon kaum mehr über etwas
aufregt, war einen Augenblick lang schockiert. Wie konnte so etwas
passieren? Hätte man nicht bis nach dem Fest warten können? Was für eine
Gemeinheit!
Für mich bedeutete dies mehr als nur einen Fehler irgend eines
Regierungsbüros. Es ist gleichsam ein symbolischer Akt, der all das
widerspiegelt, was im heutigen Israel nicht in Ordnung ist.
Zunächst die Grausamkeit. Natürlich war es nicht absichtlich. Die Ministerin
für Bildung und Erziehung hat dem privaten Unternehmer nicht gesagt,
überreicht das Kündigungsschreiben in möglichst schmerzvoller Weise. Die
Unternehmer hatten sich nicht zusammengesetzt und entschieden: machen wir
dies kurz vor Pessach, und klopfen wir in der Mitte der Nacht an ihre Türen,
so wie Stalins Geheimpolizei oder wie die israelischen Soldaten der
Spezialeinheiten in Nablus.
Nein, keiner hat dies entschieden. Keiner hat darüber nachgedacht. Genau das
ist das Erschreckende: die totale Gefühllosigkeit.
Das wäre vor drei oder vier Jahren noch unmöglich gewesen. Irgend jemand
hätte beizeiten interveniert und geschrieen: Was macht ihr eigentlich? Seid
ihr verrückt geworden?
Die Juden haben sich selbst immer als „ mitleidende Kinder der Mitleidenden“
empfunden. Sie glaubten immer, dass Mitleid eine jüdische Erfindung sei und
zitierten die alten Texte (wie das ausdrückliche Sabbatgebot in den Zehn
Geboten, das den Juden befiehlt, auch ihre Sklaven und die Tiere an jedem
7.Tag ruhen zu lassen.) Nietzsche, der Mitleid verabscheute, klagte das
Judentum an, eine Mitleidsmoral geschaffen zu haben.
Die neue hebräische Gesellschaft, die in diesem Lande aufgebaut wurde, war
immer stolz auf ihre „Verantwortung für einander“, die Tatsache, dass keiner
in unserer Gesellschaft hungert, dass die Behinderten, Kranken, Alten und
Arbeitslosen von der ganzen Gesellschaft mitgetragen werden. Als ich einmal
gefragt wurde, was es mir in meiner Kindheit bedeutet hat, Jude zu sein,
nannte ich das Mitleid, verbunden mit dem Bemühen um Gerechtigkeit, Gewalt
zu verabscheuen, für den Frieden zu kämpfen und Bildung zu schätzen.
So ist es nicht mehr. Nach zwei Jahren der Al Aksa-Intifada sind die Gefühle
der israelischen Gesellschaft fast vollkommen abgestumpft. Die schrecklichen
Dinge, die täglich geschehen in den besetzten Gebieten, passieren, ohne
Erwähnung zu finden. „Absperrungen“ und Ausgangssperren, die monatelang
dauern, Hunger und Durst, Kranke sterben wegen mangelnder medizinischer
Behandlung, die Zerstörung von Häusern und das Entwurzeln ganzer Olivenhaine
- dies sind Peanuts, Routineangelegenheiten. Von Scharfschützen in ihren
Wohnungen oder auf den Straßen erschossene Männer, Frauen und Kinder?
Wen kümmert das schon?“ Die von einem riesigen Bulldozer zermalmte junge
Amerikanerin, als sie versuchte, die Zerstörung eines palästinensischen
Hauses zu verhindern? Na und. Sie hat es verdient. Ein Steine werfender
palästinensischer Junge von einem Panzer aus erschossen? Drei Zeilen in der
Zeitung - vielleicht nicht einmal das.
Die Gefühllosigkeit hat sich aus den besetzten Gebieten nun nach Israel
selbst ausgebreitet. Zeitungsfotos zeigen, wie Menschen in Abfallbehältern
herumwühlen. Nun, so ist es eben. Schicken Regierungsbüros hungrige, arme
Leute zu einer kostenlosen Mahlzeit zu privaten Wohlfahrtseinrichtungen? Wer
kümmert sich schon darum.
Der neue Finanzminister, Binyamin Netanyahu, der für einen einzigen Vortrag
in den USA 50000 Dollar Honorar erhält, hat einen Wirtschaftsplan vorgelegt,
der die Ärmsten der Armen schmerzhaft trifft. Er reduziert die monatliche
Altersrente (auf weniger als 300 Euro), die Kinderbeilage, die
Arbeitslosenrente, den Zuschuss für Heimunterbringung zurückgebliebener
Kinder und der Alten, auch das Erziehungs- und Gesundheitsbudget.
Revoltiert die Öffentlichkeit? Gehen die Studenten en masse auf die Straße?
Explodieren die Medien deshalb vor Wut? Setzt die Opposition in der Knesset
- falls es so etwas überhaupt gibt - Himmel und Erde in Bewegung? Überhaupt
nicht. Die Histadrut ( Vereinigte Gewerkschaften), die die stärksten und
reichsten Arbeiterkomitees vertritt, droht mit einem Generalstreik. Was
noch? Hier und da gibt ein Politiker ein Statement von sich und hofft so, in
die Schlagzeilen zu kommen. Hier und da protestieren eine Handvoll Leute,
die ein Gewissen haben. Ab und zu schreibt ein Kolumnist einen empörten
Artikel. Und das ist es dann. So werden die Armen etwas ärmer und die
Reichen etwas reicher. Ist das etwas Neues?
Als Nethanyahu selbst nach diesem Plan befragt wurde, hielt er sich an die
wohl bewährte israelische Linie: „Es gibt keine Alternative.“ Die
israelische Wirtschaft geht abwärts. Das ist die Schuld Arafats. Die
Intifada hat unsere Wirtschaft zerstört.
Und das ist neu und insgesamt mit weit reichenden Folgen.
Dies muss erklärt werden: Länger als fünf Jahrzehnte erfreute sich die
israelische Gesellschaft der angenehmen Illusion, dass es überhaupt keine
Verbindung gäbe zwischen unserer Politik gegenüber den Arabern und unserer
wirtschaftlichen Situation. Das war ein Grundstein unseres nationalen
Bewusstseins.
Während meiner zehn Jahre als Knessetabgeordneter hielt ich wenigstens
hundert Reden genau über dieses Problem. In Debatten über die Wirtschaft
wies ich auf die Sicherheitspolitik und die Besatzung hin. In Debatten über
die Sicherheitspolitik stellte ich Fragen zu den wirtschaftliche Kosten.
Jede dieser Reden verursachte wütende und ungeduldige Reaktionen aus allen
Teilen des Hohen Hauses. Während Sicherheitsdebatten schrie man mich an:
„Was hat das mit unserer Wirtschaft zu tun? Wir reden jetzt über
Terrorismus!“ In Debatten um die Wirtschaft schrie man: „Wir reden über
Wirtschaft. Warum bringst du jetzt deine Palästinenser hier herein?“ (Nur
einmal in all den Jahren zog mich ein Stellvertreter des Finanzministers im
Flur beiseite und sagte: „Sie sind der einzige, der vernünftig redet.“ (Ich
bin kein Wirtschaftsfachmann. Ich fühlte mich geschmeichelt.)
Dieses Ignorieren der Kosten des Krieges und der Besatzung hat seltsame
Resultate gehabt: die ärmsten Leute, die Arbeitslosen und die Bewohner der
heruntergekommenen, sog. „Entwicklungsstädte“ haben immer den Likud gewählt.
Bei den letzten Wahlen wählten sie einstimmig Sharon. Sie haben nur zwei
Forderungen: die Araber niederzuschlagen und die wirtschaftliche Krise zu
beenden. Sie sahen zwischen den beiden keinen Widerspruch und keinen
Zusammenhang.
Aber seit einigen Monaten verändert sich etwas im öffentlichen Bewusstsein.
Um der Klage, die Wirtschaftspolitik der Regierung hätte die Depression
verursacht, entgegenzutreten, mussten die Sharonleute zugeben, dass die
Intifada die Hauptursache sei, auch wenn die weltweite Krisis noch dazu
kommt. Die Intifada hat der Tourismusbranche, einem der wichtigsten Sektoren
unserer Wirtschaft, einen schweren Schlag versetzt. Ausländische
Investitionen, die wesentlich für das ökonomische Wachstum sind, sind zum
Erliegen gekommen. Die riesige Armee, die für den Kampf gegen die Intifada
nötig ist, verschlingt - zusammen mit den Siedlern - einen ungeheuren Teil
unseres Sozialproduktes (viele Male mehr pro Kopf als in den USA).
Einige Leute hoffen, dass bei sich ausweitender Depression , die „schwachen
Schichten“ (wie die Armen in Israel genannt werden) sich eines Tages gegen
die Sharonregierung erheben; die Massen die Straßen füllen und die Regierung
stürzen werden. Das mag zu optimistisch klingen. Aber wenigstens kann man
von der Nacht träumen, wenn um Mitternacht die Leute an die Tür der
Regierung klopfen und ihr die Entlassungsurkunde aushändigen.
(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
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23.04.03
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23-04-2003 |