Uri Avnery
Noch ist es keine Flutwelle. Aber es ist mehr als ein Plätschern. Es
ist der Anfang einer Welle. Während der letzten Monate ist in der
öffentlichen Meinung eine bemerkbare Wende eingetreten. Dies hat
verschiedene Gründe: allgemeine Müdigkeit der endlosen Spirale des
Blutvergießens, die Erkenntnis, dass es keine militärische Lösung gibt, die
Verschlechterung der wirtschaftlichen Krise, die unermüdliche Aktivität der
radikalen Friedensgruppen.
Die Liste der sich häufenden Symptome wird länger: die Bewegung der
jungen Leute, die den Armeedienst in den besetzten Gebieten verweigern; die
Revolte der 30 Luftwaffenpiloten; die Ayalon-Nusseibeh-Initiative; das
Statement der vier früheren Geheimdienstchefs; die Kritik vom
Generalstabschef und in dieser Woche der öffentliche Angriff der
Reserveoffiziere auf die fortdauernde Existenz der Siedlung Nezarim im
Gazastreifen.
Die Genfer Initiative gab dieser Wende in Israel einen großen Auftrieb – und
im Ausland ein eindrucksvolles Echo. Die Teilnahme von internationalen
Persönlichkeiten bei der feierlichen Zeremonie in der Schweiz verlieh ihr
Rang und Prestige. Die Entscheidung des US-Außenministers und des
Generalsekretärs der UN, die Verantwortlichen dieser Initiative zu
empfangen, war eine öffentliche Anerkennung der Friedensbewegung. (So war es
auch mit der warmen persönlichen Botschaft, die von Bundespräsident Rau bei
der Friedenspreisverleihung an Sari Nusseibeh und mich - in Köln am 16.11.-
vermittelt wurde)
Wenn sich die Windrichtung ändert, beginnt sich die Wetterfahne zu drehen.
Das geschieht in diesen Tagen. Einer der sensiblen Journalisten wie Yoel
Markus von der Tageszeitung Haaretz begann schon vor einigen Monaten damit,
Sharon anzugreifen. Nun wird es in den Medien zur Mode. Dieselben
Kommentatoren, die drei Jahre lang als Propagandaagenten der Regierung und
dem Armeekommando gedient hatten, haben auf einmal entdeckt, dass alles, was
in den letzten drei Jahren getan wurde, schließlich doch ein schrecklicher
Fehler war.
Den Experten folgten die Politiker. Die Funktionäre der Arbeitspartei, die
eine giftige Attacke gegen Beilin und Co. inszeniert hatten, haben von sich
aus ein Friedensprogramm veröffentlicht, das vom Genfer Dokument nicht sehr
abweicht. (Aber kaum einer nahm es zur Kenntnis). Das interessanteste
Phänomen jedoch ist die Wandlung Ehud Olmerts, des früheren Bürgermeisters
von Jerusalem.
Diejenigen, die seit langem Olmerts Karriere verfolgen, glauben, dass er das
Abbild eines politischen Opportunisten ist. Er möchte
Likud-Parteivorsitzender nach Sharon werden, dem er jetzt noch treu dient.
Sein Hauptkonkurrent Benjamin Netanyahu folgt einer extrem nationalistischen
Linie. Olmert, der dieselbe Linie verfolgte, hat plötzlich seine Hautfarbe
verändert. In der vergangenen Woche hat er eine überraschende Attacke auf
die Groß-Israel-Idee und die Siedler losgelassen und schlug einen
"einseitigen Rückzug" vor, indem er behauptete, dass die fortdauernde
Besatzung – Gott behüte! - zu einem bi-nationalen Staat führen würde. Er
ging, was Israels zukünftige Grenzen betraf, nicht ins Detail.
Klar, Olmerts empfindliche Nase hat den Wandel in der öffentlichen Meinung
gerochen. Aber der Likud-Kandidat für den Ministerpräsidenten wird von etwa
3000 Mitgliedern des Likudzentralkomitees nominiert, einer ausgesprochen
extrem rechten Körperschaft, die sogar Sharons sogenannte gemäßigte
Vorschläge abgewiesen hat. Es scheint, als ob Olmert glaube, dass auch diese
Körperschaft sich wandle.
Sharon hat sich nicht verändert. Für ihn gilt noch immer das Sprichwort von
den Flecken des Leoparden. Aber auch er findet es jetzt nötig, immer wieder
zu wiederholen, dass er für "schmerzvolle Zugeständnisse" bereit sei, und
deutet an, dass er für einen einseitigen Rückzug ( von wo? wohin?) und um
ein Treffen mit dem palästinensischen Ministerpräsident Abu-Ala ( wozu?)
bemüht ist. Das hindert ihn nicht daran, mit dem Bau der monströsen Mauer
fortzufahren, die palästinensisches Land in Stücke schneidet.
Die Palästinenser sind sich ihrerseits der Bedeutung des Wandels der
israelischen Meinung sehr bewusst. Abu-Alas Bemühungen, einen
Waffenstillstand zu erreichen, sind dafür bestimmt, diesen Prozess zu
unterstützen. Auch sie verstehen, dass ein Selbstmordattentäter, der ein
großes Blutbad in einer israelischen Stadt verursachen würde, den Aussichten
auf einen Wandel sehr schaden würde.
Die Richtung der palästinensischen Seite ist sehr wichtig. Ich erinnere mich
an ein Ereignis von vor 31 Jahren in Bologna. Dort fand die erste große
öffentliche israelisch-arabische Konferenz nach vielen Jahren der
Vorbereitung statt. Ich wurde dazu aufgefordert, die Eröffnungsrede für die
israelische Seite aus zu halten. Ich sagte: "Der Vietnamkrieg wird in der
amerikanischen Öffentlichkeit gewonnen, der algerische Krieg in der
französischen Öffentlichkeit, und der palästinensische Krieg wird in der
israelischen öffentlichen Meinung gewonnen werden."
Bevor ich diese Rede hielt, zeigte ich sie einem ranghohen arabischen
Vertreter, dem ägyptischen Führer der Linken, Khaled Mohei-al-Din, einem der
"freien Offiziere", die 1952 die Revolution ausführten. Er war mit mir
einverstanden. Aber nachdem ich die Rede gehalten hatte, kam ein zorniger
Palästinenser auf mich zu und protestierte: "Eure israelische Arroganz kennt
keine Grenzen! Glauben Sie denn, dass das, was in Israel geschieht,
wichtiger ist als der palästinensische Kampf?" Ich sagte ihm, dass
selbstverständlich ohne den tapferen Kampf der Vietnamesen und der Algerier
die amerikanische und französische öffentliche Meinung sich nicht geändert
hätten.
Zwei Jahre später erschienen palästinensische Führer, die dieselbe Meinung
äußerten. Said Hamami, der PLO-Führer, der die ersten geheimen Kontakte mit
uns begann, sagte zu seinen Kollegen: "Wenn die ganze Welt uns anerkennt
außer Israel, was haben wir dann gewonnen?" Issam Sartawi ging sogar noch
weiter und bat Arafat darum, sich darauf zu konzentrieren, die öffentliche
Meinung Israels zu ändern und alle Bemühungen diesem obersten Ziel
unterzuordnen.
Arafat verstand, dass eine Veränderung der öffentlichen Meinung Israels ein
wichtiges Ziel ist, aber akzeptierte dies nicht als das Allerwichtigste. Wir
haben darüber viele Male gesprochen. Es scheint, dass er die Bedeutung
dieser Bemühungen jetzt mehr als je anerkennt. Das zeigte sich daran, dass
er der palästinensischen Delegation in Genf seine Zustimmung gab.
Nun bleibt die Frage: Falls der Wandel der öffentlichen Meinung in Israel
tatsächlich in Bewegung gerät und zu einer großen Welle wird – wie kann dies
politisch umgesetzt werden? In anderen Worten, wie wird sie das politische
System verändern und in der Knesset eine Mehrheit gewinnen können?
Keine einzige Person in Israel kann diese Frage im Augenblick beantworten.
Yossi Beilin versucht, eine Partei zu gründen, die seine Gefolgschaft mit
der Meretzpartei vereinigt. Das könnte sich als großer Fehler erweisen.
Meretz wurde bei den letzten Wahlen hart geschlagen, verlor die Hälfte
seiner Kraft und erhielt nur etwa 5% an Stimmen. Sie wird als elitäre
Ashkenazi-(Israelis aus Europa) Partei angesehen, die weit entfernt ist von
den wichtigen Sektoren der orientalischen Juden, der russischen Immigranten,
der religiösen Juden und sogar der arabischen Bürger. Beilin, selbst ein
elitärer Ashkenazi, wird das öffentliche Image der Partei nicht ändern.
Wenn die Genfer Vereinbarungen zum Banner einer am Rande des politischen
Spektrums stehenden Partei wird, dann werden sie zu politischer
Unwirksamkeit verurteilt sein. Beilin selbst wird den Status eines Führers
einer kleinen Partei erlangen – falls er beim Wettbewerb um die Führung in
der Partei gewinnen wird, was noch keineswegs sicher ist. Vielleicht würde
es für ihn besser sein, den stolzen Status eines Trägers der nationalen
Botschaft zu halten, frei von Parteiinteressen.
Das zentrale Problem ist die Laborpartei. Sie reagierte auf die Genfer
Initiative sehr schäbig. Vom pathetischen Shimon Peres bis zur schrillen
Dalia Itzig - von Ehud Barak mit seinen persönlichen psychologischen
Problemen ganz zu schweigen - alle griffen Beilin, ihren früheren
Parteigenossen, an, den sie am Vorabend der letzten Wahlen hinausgestoßen
hatten.
Doch ohne die Laborpartei wird die Linke keine beherrschende politische
Kraft werden, um die nächsten Wahlen gewinnen zu können. Die Bildung eines
lebensfähigen Ersatzes wird viele Jahre dauern, und Beilins neue Partei wird
in absehbarer Zukunft nicht ihren Platz einnehmen können. Aber in der ganzen
Labor-Partei kann man nicht einmal am Horizont einen plausiblen Kandidaten
für das Amt des Ministerpräsidenten erkennen.
Das mag dem Likud noch einmal eine Chance geben. Es ist nicht unmöglich,
dass Sharon seine Wählerschaft noch einmal täuschen wird, wie er es bei den
letzten beiden Wahlen getan hat, als er sich selbst als "Mann des Friedens
und der Sicherheit" definierte. Er wird über "schmerzhafte Konzessionen"
reden und Fotos mit Abu-Ala zeigen. Es ist auch möglich, dass ein anderer
Likud-Kandidat ohne Prinzipien, wie Netanyahu oder Olmert, mit einer vagen
Friedensbotschaft Erfolg haben wird.
So oder so: wenn die israelische Linke nicht in der Lage ist, eine starke
politische Kraft zu werden, dann wird der Wandel der öffentlichen Meinung
ohne Folgen sein: wie ein mächtiger Wind, der in keine Segel bläst, wie
Dampf ohne Lokomotive.