
Am Vorabend der Wahl in Israel am
28.01.2003:
Wen soll man wählen?
Uri Avnery
Was für eine seltsame, unheimliche Stille!
Fünfzehnmal haben Israelis bisher für die Knesset gewählt, und jedes Mal war
die Wahlkampagne stürmisch, rau, ja sogar aggressiv gewesen. Keiner konnte
sich dem entziehen, selbst wenn man es wollte. Von jeder Mauer schrie es:
wähle mich!
Dieses Mal befindet sich die Wählerschaft in
einer tiefen Depression, eine Art stiller Verzweiflung: die Situation ist
verheerend. Doch können wir nichts daran ändern. Es gibt keine Lösung. Es
gibt keine Hoffnung. Was soll man also machen? Nichts. Resignieren.
Nicht eine einzige Partei war in der Lage, Freiwillige auf die Straßen zu
schicken, um Straßenkreuzungen zur Verteilung von Flugblättern zu besetzen,
so wie in früheren Zeiten. Die Slogans sind langweilig, die Poster nichts
sagend, selbst die Werbesongs jämmerlich.
Eine Orgie von Wirklichkeitsflucht
Jemand, der mit seiner Situation nicht mehr fertig werden kann, flieht in
eine Scheinwelt. Ein anderer schaltet ab und beschäftigt sich nur noch mit
trivialen Dingen und verweigert sich der erschreckenden Realität.
Die Realität ist der blutige israelisch-palästinensische Konflikt. Jeder Tag
hat seine Opfer, israelische und palästinensische. Jeder Tag hat seine
Grausamkeiten, hier wie dort. Alle andern Probleme sind damit verknüpft: die
Wirtschaft schliddert auf einen Abgrund zu, die soziale Schere öffnet sich
immer weiter, die Kultur ist auf einem Nullpunkt angelangt. Die
verzweifelten Menschen versuchen, all dies zu ignorieren.
Aus diesem Grund ist die Shinui-Partei (Shinui= Wechsel) zum Hit dieser
Wahlkampagne geworden. Shinui ist eine Orgie von Wirklichkeitsflucht, wie
ein Tanz auf dem Deck der Titanic. Es stimmt, sie hat in ihre Agenda zwei
beunruhigende Probleme aufgenommen: die wachsende Macht des orthodoxen
Establishments und die Notlage der Mittelschicht. Doch ihre Lösung - selbst
wenn möglich - wird die nahende Katastrophe nicht abwenden. Ihr
Erkennungszeichen ist die Flucht aus der Realität, und die Folge davon ist
die Schwächung der Linken und eine Stärkung der Rechten, so wie es 1977
geschah, als ihr Vorgänger, die Dash-Partei, einen überraschenden Sieg
errang. Für den, der Frieden sucht, kommt Shinui nicht in Frage.
Reifeprüfungen
Das große Dilemma dieser Wahl betrifft die Laborpartei.
Wahlen sind wie Reifeprüfungen. Prüfungen belegen, was der Schüler während
der vergangenen Jahre gelernt hat. Wenn er nichts gelernt hat, kann er dies
nicht im Prüfungsraum nachholen.
Als diese Wahlen „ausbrachen“, war die Laborpartei praktisch nackt und bloß.
Zwei Jahre lang hatte sie Sharon als Kurtisane gedient, indem sie seine
Aktionen rechtfertigte und seine Verantwortung für all die Gräueltaten und
Versäumnisse mittrug. Während der ganzen Zeit hat die Partei die
Allgemeinheit vollkommen vernachlässigt, besonders die jungen Leute, die
„Russen“ und die orientalischen Juden in den sogenannten
„Entwicklungsstädten“.
Im allerletzten Augenblick setzte die Partei Amram Mitzna an ihre Spitze,
einen Mann, der sich nicht an der Orgie der Unverantwortlichkeit beteiligt
hatte, der nun eine Botschaft hatte, die genau entgegengesetzt zu dem war,
was die Partei zwei Jahre lang tat.
Er hätte ein Wunder benötigt und die uneingeschränkte Unterstützung seiner
Parteikollegen. Das Wunder ereignete sich nicht, und die Parteigenossen
haben seine Wahlkampagne bei jeder Runde sabotiert. Falls morgen kein Wunder
geschieht, wird die Partei verlieren. Eine Zeit der Rehabilitation braucht
sie. Sie muss in die Opposition gehen, um sich selbst von der letzten
Vergangenheit zu reinigen; sie muss eine konsequente Botschaft des Friedens
und der sozialen Gerechtigkeit sich zu eigen machen, und Mitzna erlauben,
das Vertrauen der Öffentlichkeit zu gewinnen. Falls sie jedoch im Gegenteil
wieder Sharons Konkubine wird, wird sie noch mehr an Wert verlieren,
verachtet und politisch unbedeutend sein.
Die Wähler könnten die Rückkehr der Partei in die Einheitsregierung
verhindern: Wenn die Partei eine große Schlappe erleidet, wird Mitzna
hinausgeworfen, und seine Parteirivalen werden zu Sharon zurücklaufen.
Sollte die Partei jedoch trotz der widrigen Umstände wenigstens ein
respektables Ergebnis vorweisen können, so würde dies Mitzna stärken und ihn
befähigen, seine Partei in die Opposition zu führen.
So oder so, das Schicksal der Laborpartei ist das zentrale Problem dieser
Wahlen. Sollte Mitzna, der Mann des Friedens, Unglück über seine Partei
bringen, dann wird es für Labor lange, lange keine Chance mehr geben, eine
Rolle im Kampf für den Frieden zu spielen.
Dem Anschein nach wäre dies ein guter Grund, Labor zu wählen. Die Sache hat
aber einen Haken. Falls Sharons Anhänger in der Laborpartei in die
Scharon-Regierung zurückkkehren, werden die Stimmen der Friedensfreunde
Ben-Eliezer & Co dienen und damit indirekt Sharon.
Jeder Wähler muss dies mit seinem Gewissen ausmachen.
Ein sicherer Zufluchtsort?
Wenn der Wähler denkt, dass das Risiko zu groß ist, kann er einen sicheren
Zufluchtsort bei der benachbarten Partei finden, bei Meretz.
Das Argument, für Meretz zu wählen, ist einfach: es ist ziemlich sicher,
dass sie nicht mit der Sharon-Regierung zusammengehen wird. Das ist schon
eine Menge wert. Die meisten ihrer Botschaften und die meisten ihrer
Kandidaten sind attraktiv. Man kann sie wählen, ohne zu viel Bauchschmerzen
zu bekommen.
Doch die Frage ist die: genügt das? Während der letzten zwei Jahre hat
Meretz keine hervorragende Arbeit geleistet, und das ist noch ein
Understatement. Ihre politische Botschaft war verschwommen. Yossi Sarid
stimmte in den allgemeinen Chor des Hasses gegen Arafat mit ein. Er
wiederholte das fatale und verlogene Mantra „es gebe keinen, mit dem man
verhandeln könne“, was Sharon als Feigenblatt diente, und es diente ihm gut.
Er ist auch ein begeisterter Unterstützer der „Trennungsmauer“ im Sinne von
„Raus aus unserm Blickfeld!“
Das Problem von Meretz ist , dass es eine Ein-Mann-Partei ist. Sarid
erfreute sich offensichtlich des offiziellen Titels “Chef der Opposition“
und ist bekannt für seine kurzen bissigen Bemerkungen. Aber in der Knesset
und in der Öffentlichkeit wurde keine politische Opposition erkennbar. Das
ist einer der Gründe für den augenblicklichen Zustand allgemeiner
Depression. (Wirksame Opposition hängt nicht von der Größe einer Partei ab.
Meine eigene Partei „Haolam Hazeh - Neue Kraft-Bewegung“ hat zu ihrer Zeit
gezeigt, dass sogar eine parlamentarische Ein-Mann-Partei einen hartnäckigen
Oppositionskampf ausfechten kann. Trotzdem, viele aus dem Friedenslager
werden diesmal Meretz als das kleinere Übel und als mögliche Adresse
betrachten.
Hadash?
Eine andere Option ist Hadash, eine Koalition, die sich rund um die
Kommunistische Partei gebildet hat. In den letzten Jahren gelang es dieser
Partei, sich zu rehabilitieren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind
die Umstände der stalinistischen Jahre, die die Partei hassenswert machte,
nach und nach vergessen worden. Die fruchtbare parlamentarische Tätigkeit
der Knessetabgeordneten Tamar Gojanski hat ihr Legitimität und Sympathie
erworben.
Unter allen Parteien ist Hadash der zentralen Botschaft des Friedenslagers
am nächsten. Seit 30 Jahren unterstützt sie konsequent das Prinzip von „Zwei
Staaten für zwei Völker“. Sie hielt fest an der Überzeugung, dass die
Palästinensische Behörde unter Yassir Arafat die Adresse für Verhandlungen
ist. Auch wenn die überwältigende Mehrheit ihrer Wähler Araber sind, hat sie
das Prinzip und die Praxis einer jüdisch-arabischen Kooperation
aufrechterhalten.
Nun haben sich Zweifel gemeldet. Falls Hadash drei Sitze gewinnt, wie die
Volksbefragung vorhersagt, wird sie nur arabische Knessetmitglieder haben.
Das wird der jüdischen Öffentlichkeit und den „jüdischen“ Parteien erlauben,
ihre Existenz in der Knesset zu ignorieren und so zu tun, als gebe es nur
110 Mitglieder. Das mag ein Argument sein, diese Partei zu wählen, um sicher
zu gehen, dass der vierte Kandidat, Dov Hanin, eine ehrenwerte und
intelligente Person, gewählt wird.
Balad?
In letzter Zeit ist noch eine andere Option umfassend diskutiert worden:
Balad. In Kreisen des radikalen Friedenslagers ist dies sogar eine Art Mode
geworden.
Zweifellos stellt die intellektuelle Kapazität des Dr. Azmi Bishara die
meisten Knessetmitglieder - ob jüdisch oder arabisch - in den Schatten. Der
zweite Kandidat, der charismatische Dr. Jamal Zahalka mit seiner lächelnden
Angriffslust, wird das Niveau der Knessetdebatten anheben. Balad verdient
dafür Lob, dass es grundsätzliche Fragen über den Status der arabischen
Bürger in Israel stellt.
Das Problem ist, dass die Botschaften von Balad weit davon entfernt sind,
ganz klar zu sein. Sie spricht davon, Israel im Rahmen einer
Zweistaatenlösung in „einen Staat für alle seine Bürger“ zu wandeln, aber
nur als eine zeitweilige, praktische Lösung. Bishara und andere Mitglieder
seiner Partei hätten als langfristiges Ziel lieber die Schaffung eines
einzigen bi-nationalen Staates zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan. Sie
sind stolz darauf, dass sie von Anfang an gegen das Oslo-Abkommen waren als
auch gegen die Führungsrolle von Arafat und die Einberufung der Camp
David-Konferenz. Balads Fähigkeit, irgendeinen Einfluss in Richtung Frieden
in der jüdischen öffentlichen Meinung zu haben, ist gering oder gar nicht
vorhanden.
Eine Stimme für diese wäre eine extreme Form von Protest gegen das
israelisch-jüdische Establishment. Im Friedenslager wird sie einige Stimmen
anziehen, andere abschrecken.
Dies ist also die Wahl, die das Friedenslager hat: Labor, Meretz, Hadash und
Balad. Jeder Wähler, jede Wählerin muss für sich selbst die Partei
herauspicken, die ihm oder ihr am meisten zusagt. Zusammen stellen sie den
„Präventivblock“ gegen Sharon dar.
Und was werde ich selbst wählen? Nun ....
(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
uri-avnery.de /
avnery-news.co.il
27.01.03
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hagalil.com 27.01.03 |