Uri Avnery
Die zweite Intifada ist vielleicht zu Ende. Vielleicht entwickelt sich
die Feuerpause im Gazastreifen zu einem allgemeinen, beidseitigen
Waffenstillstand. Für mich hat das Wort "Waffenruhe" einen besonderen Klang.
Als ich 1948 Soldat war, machte ich zweimal die Erfahrung, was es heißt, auf
eine Feuerpause zu warten. Jedes Mal waren wir nach schweren Kämpfen, in
denen viele Kameraden getötet oder verwundet wurden, total erschöpft.
Wir hofften aus tiefstem Herzen, dass es tatsächlich zu einer Feuerpause
kommen würde – erlaubten uns aber nicht, daran zu glauben. In beiden Fällen
brach entlang der ganzen Frontlinie in den wenigen Minuten vor dem
angegebenen Zeitpunkt eine wahnsinnige Schießerei aus; jeder schoss mit
allem, was er hatte. Anscheinend – wie sich später herausstellte - um im
letzten Augenblick noch ein paar Vorteile zu erhaschen. Und dann hörte das
Schießen plötzlich auf. Eine unheimliche Stille breitete sich aus. Wir
schauten einander an und sagten nicht, was in uns vorging: Wir sind
gerettet. Wir sind am Leben geblieben.
Ich verstehe deshalb die Gefühle der Kämpfer auf beiden Seiten, die nun
hoffen, dass die beidseitige Feuerpause in Kraft treten - und halten wird.
Nach vier und ein viertel Jahren Kampf ist jeder erschöpft.
Die erste Frage nach dem Ende eines Kampfes ist: Wer hat gewonnen?
Natürlich will jede Seite den Sieg für sich beanspruchen. Die
palästinensischen Organisationen werden erklären, dass nur die
Kassam-Raketen und die Mörsergranaten Israel zu einer Feuerpause gezwungen
hätten. Die Israelis werden behaupten, dass die israelische Armee den Terror
überwältigt und die Palästinenser gezwungen habe, aufzugeben. Wer hat also
gewonnen? Keiner. Der Kampf endete mit einem Unentschieden.
Die israelische Armee hat nicht gewonnen, da es ihr nicht gelungen ist,
den Angriffen ein Ende zu setzen, geschweige denn "die Infrastruktur des
Terror zu zerstören". Am Vorabend der Feuerpause haben die Kassam-Raketen
und die Mörsergranaten das Leben in der Stadt Sderot in eine Hölle
verwandelt. Die Einwohner gestanden ein, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch
stünden.
Außerdem hatten die palästinensischen Organisationen eine neue Stufe
erreicht, in der sie kompliziertere Angriffe, wirkliche Guerillaaktionen
ausführten. Dazu gehörte die Zerstörung eines Armeepostens an der
Philadelphi-Route, wo ein Tunnel darunter in die Luft gesprengt wurde und
der Posten selbst gestürmt wurde. Ähnlich war der Angriff auf den
Karni-Checkpoint mit einer kombinierten Sprengung der Mauer und einem
Angriff durch die Kämpfer. Diese Angriffe erinnern an Aktionen des Irgun und
der Sterngruppe in den letzten Jahren der britischen Mandatszeit.
Unsere Armee hatte keine Antwort auf die Kassam- und Guerilla-Aktionen.
Was war nicht alles versucht worden? Brutale Überfälle. Beschuss durch
Panzer. Die Tötung der Kämpfer und der zufällig in der Nähe Stehenden.
Zerstörung von Tausenden von Häusern. "Gezielte Liquidierungen".
Nichts half. Da blieb nur noch die vom Kabinettsminister Israel Katz im
Fernsehen vorgeschlagene Methode: die Städte des Gazastreifens zu
bombardieren, die Grenze nach Ägypten nur in einer Richtung zu öffnen und so
Hunderttausende von Einwohnern zur Flucht in die Sinaiwüste zu treiben. (Das
war es, was Moshe Dayan gegenüber den Städten am Suezkanal während des
Zermürbungskrieges in den späten 60ern tat.) Es ist berichtet worden, dass
Sharon selbst nach dem Karni-Vorfall vorschlug, die Städte und Dörfer im
Gazastreifen zu bombardieren. Aber heute ist so etwas nicht möglich: weder
die israelische noch die internationale Öffentlichkeit würde dies
tolerieren.
Unsere Generäle machten, wie viele Generäle vor ihnen, den begreiflichen
Fehler, in Begriffen des Krieges zu denken. Aber dies war kein
konventioneller Krieg. Ein Krieg ist eine Konfrontation zwischen zwei
Armeen, und es wird mit Methoden gekämpft, die sich im Laufe von
Jahrhunderten entwickelt haben. Die Konfrontation zwischen einer
Besatzungsarmee und Widerstandskräften ist ganz anders. Die Fakten, die
diese bestimmen, werden in keiner Offiziersschule gelehrt. Es stimmt, dass
die israelische Armee zu improvisieren versuchte und einige erhebliche
Erfolge erzielte. Aber sie konnte nicht gewinnen. Weil Sieg bedeutet, dass
der Wille des Gegners gebrochen wird und er den Widerstand aufgibt. Und
genau das geschah nicht.
Wenn dem so ist, haben dann die palästinensischen Organisationen
gewonnen? Interessant ist, dass diese Frage nicht offen gestellt wurde –
nicht einmal von den Palästinensern selbst. Zunächst einmal, weil es
weltweit akzeptiert wurde, dass der palästinensische Widerstand
"Terrorismus" ist, und wer würde behaupten wollen, dass der "Terrorismus"
gewonnen habe. Umso mehr, als die Palästinenser furchtbare Gräueltaten
begangen haben – genau wie die Israelis.
Für die Palästinenser ist das Unentschieden ein großer Erfolg. Die
Ungleichheit zwischen beiden Seiten ist immens. Wenn man allein die Stärke
der Waffen und die Größe der militärischen Kräfte berücksichtigt, ohne den
moralischen Faktor in Betracht zu ziehen, dann ist der israelische Vorteil
astronomisch. In solch einer Situation ist das Unentschieden ein Sieg für
die Schwachen.
Wir sollten dies ohne Zögern zugeben. Es ist nicht klug, die
palästinensische Seite als geschlagen und gebrochen darzustellen. Nicht nur,
weil es nicht stimmt, sondern weil es auch schädlich wäre. Die Prahlerei der
Armee-Propagandisten, Abu Mazen habe unter dem israelischen Druck
nachgegeben, ist bestenfalls dumm, im schlimmsten Fall ist sie dafür
bestimmt, die Palästinenser zu erniedrigen und zu neuer Gewalt (oder zu
Wahnsinnsakten) zu provozieren. Der ägyptische Sieg zu Beginn des 1973
Krieges machte es für Anwar Sadat leichter, mit Israel Frieden zu schließen.
Der palästinensische Stolz auf ihre Standhaftigkeit kann es für sie
annehmbarer machen, die Feuerpause einzuhalten.
Beide Seiten sind jetzt erschöpft. Das palästinensische Leiden ist
offenkundig. Das israelische Leiden ist weniger sichtbar, aber
nichtsdestoweniger real. Die Kosten der Besatzung steigen in die Milliarden,
hundert Tausende Israelis gerieten unter die Armutsgrenze, die sozialen
Dienste sind zusammengebrochen, die ausländischen Investitionen haben sich
nicht erholt, der Stand des Tourismus ist erbärmlich. Und noch bedeutsamer:
während der Intifada haben 4010 Palästinensern und 1050 Israelis ihr Leben
verloren.
Das ist der Hintergrund zu den letzten Ereignissen. Beide Seiten brauchen
die Feuerpause. Aber der Waffenstillstand ist nur eine Pause – kein Frieden
an sich. Wenn sich in Israel – weil es die stärkere Seite ist - die Weisheit
durchsetzen würde, würden sofort Verhandlungen über ein endgültiges Abkommen
beginnen mit einem im Voraus übereingekommenen Ziel: ein palästinensischer
Staat in den besetzten Gebieten der Westbank, dem Gazastreifen und
Ost-Jerusalem.
Wenn sich die Weisheit nicht durchsetzt (und in der Politik wäre der Sieg
der Weisheit etwas Neues) wird die Feuerpause enden wie viele Male vorher.
Dann wird sie nur ein Zwischenspiel zwischen zwei Kampfrunden sein. Vor uns
steht ein Schild, das in zwei entgegen gesetzte Richtungen weist: eine Seite
zeigt in Richtung Frieden, die andere in Richtung einer neuen gewalttätigen
Konfrontation.