Ist Friede möglich?
Die Mutter aller Vorwände
Veranstaltungshinweis: Am 16. Oktober spricht Uri Avnery in München,
19.00 Uhr Völkerkundemuseum zum Thema: "Israel und Palästina: Ist Friede
möglich?"
von
Uri Avnery,
13.10.07
WENN ICH vom "Zusammenprall der Kulturen" höre, weiß ich nicht, ob ich
lachen oder weinen soll. Lachen: weil diese Idee solch eine unsinnige
Vorstellung ist. Weinen: weil sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zu
unsäglichen Katastrophen führen wird.
Noch mehr weinen, weil unsere Führung diesen Slogan als Vorwand benützt, um
Chancen für eine israelisch-palästinensische Versöhnung nicht ungenutzt
verstreichen zu lassen. Dabei handelt es sich um einen von vielen
Ausflüchten in einer langen Reihe von Vorgängern.
WARUM benötigt die zionistische Bewegung Entschuldigungen, um die Art und
Weise zu rechtfertigen, in der sie mit dem palästinensischen Volk umgeht ?
Am Anfang war sie eine idealistische Bewegung. Sie legte großes Gewicht auf
ihre moralisch-ethische Grundlage. Nicht nur, um die Welt zu überzeugen,
sondern vor allem, um ihres eigenen Selbstbildes willen.
Von früher Kindheit an lernten wir über die Pioniere, viele von ihnen Söhne
und Töchter aus wohlsituierten und hochgebildeten Familien, die ein bequemes
Leben in Europa hinter sich ließen, um ein neues Leben in einem weit
entfernten Land und - was den damaligen Lebensstandard betrifft - primitiven
Land zu beginnen. In einem rauen, ungewohnten Klima waren sie oft hungrig
und krank und vollbrachten schwerste knochenbrecherische Arbeit unter
sengender Sonne.
Dazu brauchten sie einen absoluten Glauben an die Rechtmäßigkeit ihrer
Sache. Sie glaubten nicht nur an die Notwendigkeit, die Juden Europas vor
der Verfolgung und den Pogromen zu retten, sondern auch an die Schaffung
einer Gesellschaft, die sein sollte, wie nie zuvor eine gewesen ist - eine
Gesellschaft der Gleichheit als Modell für die ganze Welt. Leo Tolstoi war
für sie genau so wichtig wie Theodor Herzl. Der Kibbuz und der Moshav waren
Symbole des ganzen Unternehmens.
Aber diese idealistische Bewegung hatte vor, ein Land, in dem ein anderes
Volk lebte, zu besiedeln. Wie sollte solch ein Widerspruch zwischen solch
hehren Idealen und der Tatsache, dass die Realisierung derselben die
Vertreibung eines Volkes aus seinem Land notwendig machte, überbrückt
werden?
Der einfachste Weg wäre gewesen, das Problem als Ganzes zu verdrängen, indem
man seine bloße Existenz ignoriert: Das Land - so sagten wir uns - war leer;
es gab überhaupt kein Volk, das dort lebte. Das war die Rechtfertigung, die
als Brücke über den moralischen Abgrund diente.
Nur einer der Gründungsväter der zionistischen Bewegung war mutig genug, die
Dinge beim Namen zu nennen: Ze’ev Jabotinsky schrieb schon vor 80 Jahren,
dass es unmöglich sei, das palästinensische Volk zu täuschen (dessen
Existenz er anerkannte) und dessen Einverständnis mit zionistischen Zielen
zu erkaufen. Wir sind weiße Siedler, die das Land des einheimischen Volkes
kolonisieren wollen, sagte er, und da gibt es keine Möglichkeit, dass die
Einheimischen sich diesem Ansinnen freiwillig unterwerfen. Sie werden
Widerstand leisten, wie alle Eingeborenen in den europäischen Kolonien.
Deshalb brauchen wir eine "eiserne Mauer", um das zionistische Unternehmen
zu schützen.
Als Jabotinsky gesagt wurde, dass diese Herangehensweise unmoralisch sei,
antwortete er, dass die Juden sich selbst vor dem drohenden Untergang in
Europa zu retten versuchten und deshalb ihre Moral die Moral der Araber von
Palästina übertrumpfe.
Die meisten Zionisten waren nicht bereit, diese gewaltorientierte Theorie zu
übernehmen. Sie suchten eifrig nach einer moralischen Rechtfertigung, mit
der sie leben konnten.
So begann die lange Suche nach Rechtfertigungen - und jeder Vorwand
verdrängte den vorherigen, immer in Entsprechung zu den Moden des
Zeitgeistes.
DIE ERSTE Rechtfertigung war genau diejenige, über die sich Jabotinsky
mokierte: Tatsächlich sind wir doch gekommen, um auch den Arabern allerlei
Vorteile zu bringen. Wir werden sie von ihren primitiven Lebensbedingungen,
ihrer Ignoranz und ihren Krankheiten befreien. Wir werden sie moderne
Methoden der Bodenbearbeitung lehren und fortschrittliche Medizin bringen.
Alles - abgesehen von Arbeit, weil wir alle Arbeitsstellen für Juden
benötigen, die wir hierher bringen; denn wir wollen aus Ghettojuden ein Volk
von Arbeitern und Bauern machen.
Da die undankbaren Araber sich unserem großen Projekt trotz aller Vorteile,
die wir ihnen angeblich brachten, widersetzten, fanden wir eine marxistische
Rechtfertigung:
Es sind nicht die Araber, die gegen uns sind, sondern ihre "Effendis". Die
reichen Araber, die großen Landbesitzer, fürchten, dass das leuchtende
Beispiel unserer egalitären hebräischen Gemeinschaft das ausgebeutete
arabische Proletariat anziehen könnte und sie schließlich sogar motivieren,
sich gegen ihre Unterdrücker zu erheben.
Doch auch dies wirkte nicht, vielleicht weil die Araber sahen, dass die
Zionisten das Land genau von diesen "Effendis" kauften und die Pächter
vertrieben, die das Land seit Generationen bearbeiteten.
Als die Nazis in Europa ans Ruder kamen, wanderten Massen von Juden ins
Land. Die arabische Öffentlichkeit sah, wie ihr das Land unter den Füßen
weggezogen wurde und begann 1936 eine Rebellion gegen Briten und Juden.
Warum sollten sie für die Verfolgung der Juden durch die Europäer zahlen?
Aber die arabische Revolte gab uns eine neue Rechtfertigung: Die Araber
unterstützten die Nazis. Und tatsächlich wurde der Grußmufti von Jerusalem,
Hajj Amin al-Husseini neben Hitler photographiert. Einige Leute
"entdeckten", dass der Mufti der wirkliche Anstifter des Holocaust wäre.
(Viele Jahre später wurde aufgedeckt, dass Hitler den Mufti verabscheute und
dass dieser keinerlei Einfluss auf die Nazis hatte.)
Es könnte gefragt werden, warum wurde den Flüchtlingen nicht gestattet, in
ihre Heimat zurückzukehren, als der Krieg schließlich vorbei war? Nun sie
waren es ja schließlich, die 1947 den Teilungsplan der UN zurückgewiesen und
den Krieg begannen. Wenn sie nun deswegen 78 % ihres Landes verloren haben,
dann müssen sie sich schon selbst dafür verantwortlich machen.
Dann kam das Ende des 2. Weltkriegs, dem der 1948er Krieg folgte. Die Hälfte
des besiegten palästinensischen Volkes wurde zu Flüchtlingen. Das
beunruhigte das zionistische Gewissen nicht, weil es jeder wusste. Sie
liefen freiwillig weg; ihre Führung hatte sie aufgerufen, ihre Häuser zu
verlassen, um später mit den siegreichen arabischen Armeen zurückzukehren.
Es gab auch andere Gründe und andere Berichte, aber diese Behauptung
genügte, um unser Gewissen damit bis heute zu besänftigen.
Dann kam der kalte Krieg. Wir waren natürlich auf Seiten der "freien Welt",
während die großen arabischen Führer, wie z.B. Gamal Abd-al-Nassar ihre
Waffen vom Sowjet-Block erhielten.
( Während des 1948er-Krieges kamen zwar die Sowjet-Waffen in Mengen zu uns -
aber das ist hier nicht weiter wichtig.) Es war ganz klar: Es hat keinen
Sinn, mit den Arabern zu reden, weil sie die kommunistische Tyrannei
unterstützen.
Doch der Sowjetblock brach zusammen. "Die terroristische Organisation PLO",
wie Menachem Begin sie zu nennen pflegte, erkannte Israel an und
unterzeichnete das Oslo-Abkommen. Nun musste eine neue Rechtfertigung für
unsere Unwilligkeit, die besetzten Gebiete dem palästinensischen Volk
zurückzugeben, gefunden werden.
Die Rettung kam aus Amerika: ein Professor mit Namen Samuel Huntington
schrieb ein Buch über den "Zusammenprall der Kulturen" ( Engl.: "The Clash
of Civilisations"). Und so fanden wir die Mutter aller Vorwände.
DER ERZFEIND ist nach dieser Theorie der Islam. Die westliche Kultur,
jüdisch-christlich, liberal, demokratisch, tolerant wird vom islamischen
Monster angegriffen, das fanatisch, terroristisch, mörderisch ist.
Es wird behauptet, der Islam sei von Natur aus mörderisch. Tatsächlich sind
"Muslim" und "Terrorist" Synonyme. Jeder Muslim ein Terrorist, jeder
Terrorist ein Muslim.
Ein Skeptiker mag fragen: Wie konnte es geschehen, dass die wunderbare
westliche Kultur die spanische Inquisition, die Pogrome, die
Hexenverbrennungen, die Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner, den
Holocaust, die ethnischen Säuberungen und andere unzählige Gräueltaten
hervorbrachte - aber das war eben in der Vergangenheit. Jetzt ist die
westliche Kultur die Verkörperung von Freiheit und Fortschritt.
Professor Huntington hat bei der Ausarbeitung seiner These nicht besonders
an uns gedacht. Seine Aufgabe war es, ein spezielles amerikanisches
Verlangen zu befriedigen: die amerikanische Weltmacht benötigt immer einen
wirklichen, weltweiten Feind, einen einzigen Feind, der alle Gegner der USA
rund um den Globus einschließt. Die Kommunisten lieferten früher diesen
Begründungszusammenhang - die ganze Welt wurde in die Guten (die Amerikaner
und ihre Unterstützer) und die Bösen (die Kommunisten) aufgeteilt. Jeder,
der gegen die amerikanischen Interessen war, war automatisch ein Kommunist -
Nelson Mandela in Süd-Afrika, Salvador Allende in Chile, Fidel Castro in
Cuba, während die Herren der Apartheid, die Todesschwadronen des Augusto
Pinochet und die Geheimpolizei des Schah wie wir zur freien Welt gehörten.
Als das kommunistische Reich zusammenbrach, hatte Amerika plötzlich keinen
weltweiten Feind mehr. Dieses Vakuum wird nun von den muslimischen
Terroristen ausgefüllt. Nicht nur Osama Bin Laden, sondern auch die
tschetschenischen Freiheitskämpfer, die wütende nordafrikanische Jugend der
Pariser Vororte, die iranischen Truppen der "Revolutionsgarden", die
Aufständischen auf den Philippinen.
So hat sich die amerikanische Welt selbst neu formiert: in eine gute Welt
(westliche Kultur) und in eine böse Welt (die islamische Kultur). Die
Diplomaten machen noch immer den Unterschied zwischen "radikalen Islamisten"
und "moderaten Muslimen" , aber das geschieht nur, um den Schein zu wahren.
Unter uns wissen wir natürlich, dass sie alle Osama bin Ladens sind. Sie
verstellen sich nur, eigentlich sind sie aber alle gleich.
Auf diese Weise wird ein großer Teil der Welt, der aus mannigfaltigen und
sehr verschiedenen Ländern, einer großen Religion und vielen verschiedenen,
sich oft auch widersprechenden Strömungen (die genau wie im Christentum und
im Judentum) besteht, und die der Welt unübertreffliche wissenschaftliche
und kulturelle Schätze geschenkt hat, alle in denselben Topf geworfen.
DIESE WELTSICHT ist genau auf uns zugeschnitten. Tatsächlich ist die Welt
der zusammenprallenden Zivilisationen für uns die beste aller Welten, denn
so ist der Kampf zwischen Israel und den Palästinensern nicht mehr ein
Konflikt zwischen der zionistischen Bewegung, die in das Land kam, um es zu
übernehmen, und dem palästinensischen Volk, das darin wohnte. Nein, es war
von Anfang an Teil eines weltweiten Kampfes, der nicht durch unser Streben
und Handeln verursacht wurde. Der Angriff des terroristischen Islam auf den
Westen ist die Ursache des Dilemmas und wir gehören zu den Guten dieser
Welt.
Und so lautet jetzt die Argumentationsschiene des offiziellen Israel: die
Palästinenser wählten die Hamas, eine mörderische islamische Bewegung .
(Wenn sie nicht existieren würde, dann müsste sie erfunden werden - und
tatsächlich behaupten einige Leute, sie sei von Anfang an von unserm
Geheimdienst geschaffen worden). Die Hamas ist terroristisch, genauso wie
die Hisbollah. Vielleicht ist Mahmoud Abbas selbst kein Terrorist, aber er
ist schwach, und die Hamas ist dabei, die alleinige Kontrolle über alle
palästinensischen Gebiete zu erlangen. Also können wir nicht mit ihnen
reden. Wir haben keinen Partner. Tatsächlich können wir gar keinen Partner
haben, weil wir zur westlichen Zivilisation gehören, die der Islam
auszulöschen droht.
THEODOR HERZL, der offizielle
"Prophet des Staates", prophezeite in seinem Buch "Der Judenstaat" auch
diese Entwicklung. So schrieb er 1896: "Für Europa würden wir dort ein Stück
des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur
gegen die Barbarei besorgen."
Herzl dachte an einen symbolischen Wall, aber mittlerweile haben wir einen
sehr realen aufgebaut. Für viele ist es nicht nur eine Trennungsmauer
zwischen Israel und Palästina. Er ist Teil einer weltweiten Mauer zwischen
dem Westen und dem Islam, die Front zwischen den zusammenprallenden
Kulturen. Jenseits der Mauer leben keine Männer, Frauen und Kinder, nicht
eine eroberte und unterdrückte palästinensische Bevölkerung, nicht
abgewürgte Städte und Dörfer wie Abu-Dis, A-Ram, Bil’in und Qalqilia. Nein,
jenseits der Mauer gibt es eine Milliarde Terroristen, Massen blutdurstiger
Muslime, die nur einen einzigen Lebenswunsch haben: uns ins Meer zu werfen,
nur weil wir Juden, nur weil wir Teil der jüdisch-christlichen Zivilisation
sind.
Mit einer offiziellen Position wie dieser - mit wem sollen wir dann noch
reden? Und worüber sollten wir reden? Welchen Sinn soll ein Treffen in
Annapolis (USA) oder anderswo überhaupt noch haben?
Und was bleibt uns übrig - zu weinen oder zu lachen?
Am 16. Oktober ist Uri Avnery auf Einladung der Gesellschaft für
Außenpolitik in München. Um 19 Uhr hält er im Museum für Völkerkunde einen
Vortrag über den Nahostkonflikt.
Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz
uri-avnery.de /
avnery-news.co.il
22.03.03
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