Uri Avnery
Es gab zwei Zeremonien am selben Tag – doch was für ein Unterschied
zwischen ihnen! Auf einer israelischen Luftwaffenbasis fand im Zusammenhang
mit der Heimkehr von drei gefallenen Soldaten eine Feier statt. Sie waren an
der libanesischen Grenze getötet worden und ihre Leichen wurden drei Jahre
lang von der Hisbollah ("Partei Gottes") festgehalten. Mit ihnen kam auch
ein ziemlich zweifelhafter israelischer Geschäftsmann, der in Beirut
verhaftet wurde, zurück. Als Gegenleistung entließ die Sharon-Regierung 429
Gefangene, Palästinenser, Libanesen und andere und gab die Leichen von 60
libanesischen Militanten zurück, die vorübergehend in Israel beerdigt worden
waren.
Die von Israel entlassenen libanesischen Gefangenen kamen am Flughafen
Beirut genau zum selben Zeitpunkt an wie die Leichen der drei Soldaten auf
der israelischen Luftbasis. Das Fernsehen schuf eine virtuelle Realität: der
Zuschauer konnte bei beiden Zeremonien gleichzeitig dabei sein. Mit einer
einfachen Bewegung des Fingers konnte der Zuschauer im Bruchteil von
Sekunden von Israel in den Libanon und zurück gelangen.
In Israel wurde gesagt, der Deal sei nicht angemessen. Er werde zu
weiterem Kidnappen von Israelis ermuntern, um immer mehr Gefangene frei zu
pressen. Dies lasse das Prestige des Hisbollahführers Hassan Nasrallah
himmelhoch anwachsen. Sharon nützte dies aus, um die Aufmerksamkeit von der
Korruptionsaffäre, in die er und seine Söhne verwickelt sind, abzulenken.
Das stimmt alles - aber es fehlt ein wichtiger Gesichtspunkt. Es geht
nicht nur um drei Leichen. Es geht weit über die verschiedenen Umstände
hinaus. Der große Unterschied zwischen beiden Zeremonien macht das deutlich.
In Beirut gab es überschwängliche Freude. Alle Honoratioren des
libanesischen Staates wie auch die Führer der Hisbollah – die offiziell von
den USA als Terrororganisation definiert wird - waren anwesend. Während eine
libanesische Kapelle Marschmusik spielte, umarmte und küsste jeder jeden.
Das Al Jazeera-Fernsehen übertrug diese Szene live zu Hundert Millionen von
Zuschauern in der ganzen arabischen Welt.
Die israelische Feier war völlig anders: ein Bild des Trauerns und der
Tränen. Den lebenden Gefangenen, der mit den Toten zurückkehrte, ließ man
verschwinden. Die drei einfachen Kisten (1) - mit der Nationalflagge bedeckt
- standen vorne. Ihnen gegenüber saß eine Reihe von Persönlichkeiten mit von
Trauer gezeichneten Gesichtern, die so dem Ritual Würde verliehen.
Hinter ihnen saßen Hunderte von Politikern, Generäle und die Angehörigen
der trauernden Familien. Der Präsident von Israel, der Ministerpräsident,
der Verteidigungsminister und der Chef des Generalstabs hielten Reden, die
sich bemerkenswert ähnelten, als ob ein und dieselbe Person alle vier
geschrieben hätte. Sie sprachen von der "jüdischen Moral" und der "jüdischen
Seele". Sie deklamierten das alte Sprichwort: "Derjenige der einen Juden
rettet, wird wie jemand angesehen, als habe er die ganze Welt gerettet" -
damit war der zurückgekehrte Geschäftsmann gemeint - ("Ein Jude" nicht ein
Mensch – trotz der Tatsache, dass einer der gefallenen Soldaten kein Jude,
sondern ein israelischer Araber war). Die gefallenen Soldaten verteidigten
unser Leben. Der grausame Feind droht, uns alle zu vernichten.
Am selben Morgen wurden bei einem Selbstmordanschlag mitten in Jerusalem
zehn Israelis getötet und etwa fünfzig verletzt – nicht weit von der
offiziellen Residenz des Ministerpräsidenten. Während des ganzen Tages
brachte das israelische Fernsehen die Bilder davon, zusammen mit dem
Gefangenenaustausch. Beides verschmolz zu einer einzigen Geschichte: die
Toten in Jerusalem und die Toten, die aus dem Libanon zurückkamen, das
Stöhnen der Verwundeten und die Tränen der trauernden Familien bei der
Ankunft ihrer einst so geliebten und nun toten Söhne. Am nächsten Morgen
verkündete die Hauptschlagzeile in Yedioth Aharonot, der bei weitem größten
Tageszeitung in Israel, in großen Buchstaben: "Der Tag der Tränen". Ihr
Konkurrent, Ma'ariv, in gleich großer Schlagzeile: "Traurig und
schmerzvoll".
Die Botschaft war selbstverständlich: das jüdische Volk leidet. Aber das
jüdische Volk lebt. Sie versuchen, uns zu töten, aber wir machen weiter. Wir
sind ein moralisches Volk. Keiner ist so moralisch wie wir. Wir erlösen
unsere Brüder und Schwestern aus der Gefangenschaft – egal zu welchem Preis
(429 lebende Gefangene für drei Tote und einen Abenteurer). Nach einem alten
Sprichwort: "Das Volk von Israel ist für jeden einzelnen verantwortlich". So
verhält sich ein seit langem leidendes Volk, das Volk der Opfer.
Der Jerusalemer Anschlag erinnert uns wieder daran, dass der grausame
Feind uns vernichten will – und, so ist es immer gewesen. Er tötet uns, weil
wir Juden sind. (Die Armee verkündet, dass es absolut keine Verbindung gibt
zwischen dem Anschlag und der Tatsache, dass am Tag zuvor die Armee in Gaza
acht Palästinenser (2) getötet hätte, einschließlich eines 11 jährigen
Jungen und drei weiterer Zivilisten). Palästinenser töten Juden, und da gibt
es keinen Unterschied zwischen ihnen und den Kreuzfahrern, die die Juden auf
ihrem Weg ins Heilige Land schlachteten, der spanischen Inquisition, den
russischen Pogromen und dem Holocaust. Wir sind die Opfer, wir sind die
Opfer gewesen und werden immer die Opfer sein.
Zyniker werden sagen, das ist nichts als Propaganda, dafür bestimmt,
Sharons Ziele zu fördern. Nicht die Palästinenser sind die Opfer, sondern
wir. Wenn wir Palästinenser töten, die monströse Mauer errichten, Häuser
demolieren, Olivenhaine zerstören – dann tun wir das nur zu unserem Schutz;
denn ein Volk von Opfern muss sich selbst gegen jene verteidigen, die
aufstehen, um es zu morden. Dies ist tatsächlich Propaganda, hinter der aber
ein reales, psychologisches Bedürfnis versteckt ist. Die Rituale der
Hinterbliebenen, die Rituale der Trauer und das Gefühl, Opfer zu sein, worum
sich so viel im israelischen Leben dreht, sind tief in der nationalen Psyche
verwurzelt. Die Zeremonie auf der Luftwaffenbasis drückt dies sehr lebendig
aus. Sie vereinigt das "Volk in Israel" und verbindet es wieder mit der
jüdischen Existenz aller Jahrhunderte.
Der Zionismus wollte all dem ein Ende setzen. Er wollte uns aus einem
passiven Volk in ein aktives Volk verwandeln, aus einem hilflosen, leidenden
Volk in ein Volk, das sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt. Auf den
ersten Blick scheint uns dies, gelungen zu sein. Wir haben einen starken
Staat aufgebaut, wir haben eine ungeheure Militärmacht, aber die
Wirklichkeit hat unser Bewusstsein nicht verändert. Es ist noch immer das
Bewusstsein des hilflosen, leidenden Volkes geblieben, das auf die Kosaken
wartet, die es jeden Augenblick überfallen wollen.
Psychologen können dies sicher erklären. Die Juden haben sich daran
gewöhnt, Opfer zu sein. Diese Erkenntnis wird den Kindern in Israel mit
unzähligen Methoden eingeschärft, von den nationalen Feiertagen bis zu den
Besuchen in Auschwitz.
Eine bekannte Realität, selbst eine schlimme, verleiht einem ein Gefühl
der Orientierung. Man weiß, wo man ist, wer der Feind ist, wie man sich
verteidigen muss. Jede Versetzung von einer Realität in eine andere wirft
dieses Gefühl der Sicherheit um, es schafft ein Gefühl der Unsicherheit und
Ungewissheit. Man fühlt sich wie eine Person, die versehentlich ein fremdes
Land betritt, ohne Landkarten und Wegweiser. Eine erschreckende Erfahrung.
Diejenigen in unserem Land, die über einen "jüdischen Staat" reden – im
Gegensatz zu einem "israelischen Staat" - meinen genau dies auch. Der
Kommandeur einer Panzerdivision enthüllt, dass er der Sohn von
Holocaustüberlebenden ist, macht aber mit der Unterdrückung (des
palästinensischen Volkes) weiter. Bei der Feier für die gefallenen Soldaten
sprechen Würdenträger von der "jüdischen Seele" – und alle fühlen, dass sie
Mitglieder einer großen Familie sind, im Leiden und Trauern vereinigt und so
mit der früheren Generation verbunden.
Nonkonformisten mögen behaupten, dass wir schon vor langer Zeit zu einem
Volk von Besatzern geworden sind und dass die Bezeichnung "Volk der Opfer"
auf unsere Nachbarn übergegangen ist. Solche Rede empört die nationale
Psyche, sie regt sich auf und wird wütend. Sie verletzt das Gefühl der
Zusammengehörigkeit. Es gibt nur ein Volk der Opfer. Wenn jemand anders
diese Dornenkrone für sich beansprucht, dann müssen wir ihm eins
überschlagen.