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"Israelisches Roulette":
Soldaten auf Wache in Siedlungen

Uri Avnery

Im 6-Tage-Krieg wurden Hunderte von israelischen Soldaten bei der Erstürmung der Wüste Sinai, der West Bank und der Golan Höhen ermordet. Im Yom-Kippur-Krieg wurden 2000 israelische Soldaten bei der Verteidigung der eroberten Gebiete ermordet. In dem 18 Jahre dauernden Libanon-Krieg wurden mehr als 1000 israelische Soldaten bei der Eroberung und Besetzung des südlichen Libanons ermordet.

Sie wären überrascht gewesen zu erfahren, sie seien "ermordet" worden. Vielleicht wären sie beleidigt gewesen. Denn schließlich waren sie keine hilflosen Juden im Ghetto, die während eines Pogroms durch betrunkene Kosaken getötet wurden. Sie fielen als Soldaten im Krieg.

Jetzt sind wir zurück im Ghetto. Wieder sind wir arme, ängstliche Juden. Sogar, wenn wir in Uniform sind. Sogar, wenn wir bis zu den Zähnen bewaffnet sind. Sogar, wenn wir Panzer, Flugzeuge, Raketen und die Nuklearoption besitzen. Wir werden leider ermordet.

Die Verwendung des Verbs "ermorden" für aktive Soldaten, die im Kampf fallen, ist eine semantische Neuheit der gegenwärtigen Intifada in der Sharon-Ära. Das wurde im Gefolge zweier militärischer Zwischenfälle letzte Woche sehr deutlich.

Im palästinensischen Dorf Ein Yabroud wurden drei Soldaten aus dem Hinterhalt überfallen und getötet. Ihre Aufgabe bestand darin, die Straße zu der nahe gelegenen Siedlung Ofra, nördlich von Ramallah, zu schützen. Sie patrouillierten die Hauptstraße des Dorfes zu Fuß und folgten ihrer regulären Route. Auf dem Rückweg lagen drei palästinensische Kämpfer in Wartestellung, töteten drei von ihnen und verwundeten einen. Die Angreifer entkamen.

Eine klassische Guerilla-Aktion. Kein Terrorismus. Kein Angriff auf Zivilisten. Die Aktion von Guerillakämpfern gegen bewaffnete Soldaten in einem besetzten Gebiet. Wären deutsche Soldaten in Frankreich oder französische Soldaten in Algerien betroffen gewesen, dann hätte niemand davon geträumt zu sagen, sie seien "ermordet" worden. Aber in unserem Fernsehen sprachen Militärkorrespondenten davon, die drei seien durch "Terroristen ermordet" worden.

Einige Tage später passierte ein noch schockierendes Ereignis. Einem einzelnen palästinensischen Kämpfer gelang es, den Zaun der Netzarim-Siedlung im Gazastreifen zu durchschneiden, er drang in ein Militärlager ein und tötete zwei Soldatinnen und einen Soldaten. Er wurde verfolgt und getötet.

Im Zusammenhang mit diesem Ereignis sprachen die Militärkorrespondenten im Fernsehen auch ohne mit den Augen zu zwinkern, die drei seien durch "Terroristen" während einer "terroristischen" Aktion "ermordet" worden. Mord? Terrorismus? Gegen Soldaten in Uniform? Innerhalb einer befestigten Siedlung? Es lohnt sich, diesen Vorfall zu analysieren, um die gegenwärtige Militärkampagne als Ganzes zu verstehen.

Netzarim ist eine kleine abgelegene Siedlung an der Meeresküste im Herzen des Gazastreifens, weit entfernt von jeder anderen Siedlung. Sie wurde mitten in einem Gebiet, in dem eineinviertel Millionen Palästinenser leben, von denen die Hälfte Flüchtige sind, an dem am dichtesten bewohnten Ort der Erde, eingepflanzt. Ein ganzes Bataillon der IDF (Israel Defense Force) verteidigt sie. Wenn man sie von Israel aus erreichen will, muss man die ganze Breite des Gazastreifens durchqueren. Der gesamte Verkehr besteht aus gepanzerten Fahrzeugen. Bis heute sind mehr als zwanzig Soldaten bei der Verteidigung der Siedlung und der Straße, die dorthin führt, getötet worden.

Verrückt? Die Siedler selbst halten daran fest, dass es die Armee war, die gefordert hatte, die Siedlung als Basis zur Bewachung und Kontrolle zu errichten. Die fanatischen nationalreligiösen Gründer sind seitdem verschwunden und ihren Platz haben Abenteurer eingenommen, die ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder riskieren - ganz zu schweigen von den Soldatinnen und Soldaten, die keine andere Wahl haben. Die Regierung opfert sie auf dem Altar der Siedlung.

Die Palästinenser leiden natürlich mehr als sonst jemand. Jeder, der sich der Siedlung nähert, wird erschossen. Alles, was in der Nähe oder entlang der Straße stand oder wuchs, wurde vor langer Zeit zerstört oder herausgerissen. In dieser Woche zerstörte die Armee zwei palästinensische Hochhäuser, jedes von ihnen 12 Etagen hoch, einige hundert Meter von der Siedlung entfernt, weil man von dort aus die Vorgänge in der Siedlung "beobachten" konnte.

Der Prozess kann wie folgt skizziert werden: (1) Auf einem Gipfel wird ein "Außenposten", der aus einem oder zwei Mobilhäusern besteht, ohne Genehmigung der Regierung, errichtet. (2) Die Regierung erklärt, dass sie solche illegalen Aktionen nicht tolerieren werde und spricht davon, sie zu entfernen. (3) Die Armee schickt Soldaten, um den Außenposten zu verteidigen und erklärt, sie könne Juden nicht in einer feindlichen Region ohne Schutz zurücklassen, solange sie sich dort, wenn auch illegal, aufhielten. (4) Aus dem gleichem Grund wird der Außenposten an das Wasser-, Strom- und Telefonnetz angeschlossen. (5) Die Diskussion in der Regierung wird verschoben und in der Zwischenzeit dehnt sich die Siedlung aus. (6) Die Regierung entscheidet, die vollendete Tatsache zu akzeptieren und aus dem Außenposten wird eine legale Siedlung. (7) Der Militärgouverneur enteignet große Flächen kultivierten Landes für den Ausbau der Siedlung. (8) Eine Umgehungsstraße wird gebaut, damit es den Siedlern und Soldaten gestattet wird, sicher vorzurücken. Aus diesem Grund enteignet die Armee weitere Flächen kultivierten Landes von benachbarten palästinensischen Dörfern. Die Straße einschließlich ihrer "Sicherheitszone" ist 60 bis 80 Meter breit. (9) Palästinenser versuchen, die Siedlung, die auf ihrem Land steht, anzugreifen. (10) Um Angriffe auf die Siedlung zu verhindern, wird ein 400 Meter breites Gebiet zur "Sicherheitszone" erklärt, deren Zugang Palästinensern nicht gestattet ist. Die Besitzer verlieren die Olivenhaine und Felder. (11) Dies erzeugt die Motivation für weitere Angriffe. (12) Aus Sicherheitsgründen reißt die Armee alle Bäume heraus, die eine mögliche Deckung bei einem Angriff auf die Siedlung oder die Straße, die dorthin führt, bieten könnten. Die Armee hat sogar ein neues hebräisches Wort dafür erfunden, etwas wie "Entblößung". (13) Die Armee zerstört sämtliche Gebäude, von denen aus die Siedlung oder die Straße angegriffen werden können. (14) Obendrein werden alle auch Gebäude, von denen man die Siedlung beobachten kann, zerstört. (15) Jeder, der sich der Siedlung nähert, wird unter dem Verdacht erschossen, er sei gekommen zu spionieren oder anzugreifen.

Dieser Prozess vollzieht sich in allen besetzten Gebieten schon seit Jahrzehnten. Er geht langsam, kontinuierlich, alltäglich widerlich und von israelischen Augen nicht wahrgenommen. Im letzten Jahr kam der "Trennungszaun" hinzu, ein Monster, das seinen Weg tief in die West Bank hinein schlängelt, um die Siedlungen zu "verteidigen". Er macht das Leben Hunderttausender Palästinenser beinahe unmöglich.

Es wird angenommen, dass der Zaun 10 Billionen Schekel kostet (mehr als zwei Billionen Dollar). Es ist unmöglich, die Kosten für die Siedlungen selbst zu berechnen, die sich sicherlich jedes Jahr auf mehrere Billionen belaufen. Es ist einfacher den Preis mit Menschenleben zu berechnen. Das Töten der drei Soldaten in Netzarim hat einen Schock verursacht. Viele Israelis fangen - vielleicht zum ersten Mal - an
zu fragen: Warum? Wofür?

Der Vater eines der in Ein Yabroud getöteten Soldaten nannte es "israelisches Roulette". Die Mutter einer in Hebron getöteten Soldatin ließ ihrer Wut im Fernsehen freien Lauf: "Sie starb wegen der Siedler!" Es gibt viele Anzeichen einer allgemeinen Ernüchterung, sogar in der Armeeführung. Ist das der Beginn für einen Wandel in der öffentlichen Meinung? Es könnte sein.

(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und vom Verfasser autorisiert)
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