Abzugsplan:
Bestechung der Siedler
Uri Avnery
Es mag Länder geben, in denen die in Staus geratenen Autofahrer sich
nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sie wissen, sie können nichts tun und
warten darum geduldig. Sie hängen ihren Gedanken nach, lauschen der Musik im
Radio oder lesen Zeitung, bis sich der Stau aufgelöst hat.
Wir Israelis sind nicht so. Wir sind eine nervöse Gesellschaft. Wir haben
keine Geduld. Wenn wir in einem Stau stecken, verfluchen wir die Welt und
die Regierung, verlangen eine Lösung, vielleicht auch eine unbefestigte
Straße, über die wir entwischen können.
Deshalb kann ich die Taktik der Siedler so schwer verstehen, die den
Verkehrsstau als ihre Hauptwaffe benützen. Wenn sie glauben, dass sie mit
dem Blockieren der Hauptverkehrsadern , mit dem Verbrennen von Autoreifen
und dem Schaffen von Verkehrsstaus überall im Lande, die Sympathie der
Öffentlichkeit gewinnen – dann haben sie sich sogar noch mehr von der
Realität entfernt, als es sowieso schon schien.
Tatsächlich ist das Blockieren der Straßen eine Kriegserklärung an die
israelische Öffentlichkeit. Eine klare Front wird so markiert: die Siedler
und ihre Anhänger auf der einen Seite und die Mehrheit der Bevölkerung auf
der anderen Seite.
Das ist in der Tat die wirkliche Frontlinie. Ihre dumme Taktik bestätigt
dies. Sie spüren, dass die große Mehrheit gegen sie ist, und sagen im
Wesentlichen: wenn ihr uns nicht liebt, dann fürchtet uns wenigstens. Wenn
ihr uns nicht unterstützt, dann machen wir euer Leben zur Hölle.
Sogar das Ausland, das die Ereignisse auf dem Fernsehschirm verfolgt, kann
zwischen den Verursachern dieses Chaos und den normalen Israelis
unterscheiden: fast alle Aufständischen sind gehäkelte Kipoth tragende
religiöse Jugendliche, die Früchte der
religiös-messianisch-nationalistisch-fanatisch erzieherischen Treibhäuser.
Dies ist eine Minderheit, etwa zwischen 15-25% der Bevölkerung. Aber eine
gut organisierte Minderheit. Ihr harter Kern ist in den Siedlungen und den
Yeshivot (religiöse Seminare) konzentriert und ist leicht zu mobilisieren.
Sie haben Führer von absoluter Autorität, die im Grunde über dem Gesetz
stehen. Ihre totale Disziplin findet in Wahlzeiten ihren besonderen
Ausdruck, wenn 99% der Stimmen in religiösen Stadtteilen an den Kandidaten
gehen, den der Rabbiner ausgewählt hat.
Solche Leute verleihen dieser Minderheit eine Macht, die ihrer Zahl
keineswegs entspricht – besonders dann, wenn sie einer wankelmütigen,
diffusen, apathischen, unorganisierten Mehrheit ohne klare Ziele und Werte
gegenüber steht. Das ist eine klassische Situation, die in anderen Ländern
schon zur faschistischen Diktatur geführt hat, errichtet auf den Ruinen
einer Demokratie, für die niemand einzutreten bereit war.
Auch der zur Zeit in israelischen Kinos laufende deutsche Film "Der
Untergang", zeigt, dass Adolf Hitler selbst in den letzten Stunden seines
Lebens nichts als Verachtung für die "degenerierten Demokratien" zum
Ausdruck brachte. Die historische Wahrheit ist jedoch, dass sich ihm gerade
die "degenerierten Demokratien" mutig entgegenstellten. Es mag sein, dass
England und die USA vor 60 Jahren Hitler nicht ohne die totalitäre Sowjet
Union an ihrer Seite besiegt hätten. Aber sie bewiesen, dass man sich in der
Stunde der Wahrheit auf das demokratische Regime verlassen kann, es sich
selbst mobilisiert und sogar härter kämpft als die totalitären Staaten. Auch
der sogenannte "Kalte Krieg", hat dies wieder bewiesen.
Ist die israelische Demokratie auf der Höhe?
Ein alter israelischer Witz erzählt von einem von Kannibalen gefangenen
Israeli. Sie steckten ihn in einen Topf und begannen damit, das Feuer
darunter zu entfachen. "Wartet noch!" schrie er, "zunächst mal müsst ihr
mich verprügeln!" Als sie das machten, sprang er aus dem Topf, ergriff seine
Waffe und erschoss sie alle. "Aber wenn du eine Waffe hast, warum hast du
sie nicht vorher benützt?" wird er gefragt. "Ich kann nur schießen, wenn ich
wütend bin," antwortete er.
Vielleicht stimmt das für alle gewöhnlichen Israelis. Um gegen die Siedler
anzutreten, müssen sie erst wütend sein. Und die Siedler tun in ihrer für
Fanatiker typischen Blindheit alles nur Mögliche, um sie wütend zu machen.
Ihre Erfahrung aus den vergangenen 37 Jahren hat sie glauben lassen, dass es
für die Feigheit, die Gleichgültigkeit und die Geduld der Mehrheit keine
Grenzen gibt.
Sie haben eine Menge Beweise für diesen Glauben, da sich alle Medien in
willige Propagandaorgane für diese diktatorische Minderheit verwandelt
haben, die der Regierung, der Knesset und dem ganzen demokratischen System
den Krieg erklärt hat.
Wir haben dieses Phänomen schon einmal erläutert: in jedem
Nachrichtenprogramm, in allen Fernsehkanälen füllen die Siedler wenigstens
50% der Zeit mit einer unendlichen Reihe von Tricks und Knüllern. In der
absoluten Mehrheit der Fälle wird keine gegenteilige Stimme gehört, nicht
einmal um der "Balance" willen. Der so entstandene Eindruck ist, es handle
sich um einen privaten Krieg zwischen den Siedlern und dem Ministerpräsiden
(den die Siedler auf einigen Graffiti schon als "Nachfolger von Hitler"
beleidigen) und nicht die Allgemeinheit beträfe.
Die Höhe der Absurdität leistet sich das Staatsfernsehen, das jeder Bürger
nach dem Gesetz finanziell unterstützen muss: das ganze Volk zahlt für
etwas, das praktisch Anti-Staats-Propaganda ist.
Während der letzten Jahre der deutschen Weimarer Republik war einer der
bemerkenswerten Züge die tolerante Haltung der Gerichthöfe gegenüber den
Nazi-Schlägern, die Krawalle begannen, Passanten verprügelten, wenn sie
"jüdisch aussahen", sich Straßenschlachten mit Kommunisten lieferten,
verwundeten und töteten. Sie kamen immer nur mit leichten Strafen davon. Die
Richter behandelten sie wie fehl geleitete, gute Jungs, wirkliche Patrioten,
die ein bisschen übertreiben, Hitz- oder Wirrköpfe, vielleicht. Anti-Nazis
dagegen, wenn sie wegen der gleichen Taten angeklagt wurden, erhielten harte
Strafen. Damals sprach man von der "Blindheit auf dem rechten Auge".
Und wie die Richter - so die Polizisten.
Wie kommt es, dass die Polizei, wenn sie mit Aufständischen vom rechten
Flügel konfrontiert wird, nie Tränengas, gummi-ummantelte Kugeln, Salzkugeln
oder Wasserkanonen verwendet, diese aber ganz selbstverständlich gegen
jüdische Friedensdemonstranten einsetzt, ganz zu schweigen gegen Araber, auf
die sogar scharf geschossen wird.
All dies ist für den normalen Israeli - wenigstens bis jetzt - nicht zu
viel. Es ist aber sehr gut möglich, dass das Geld hier eine Grenze setzt.
Die Siedler spielen ein sehr raffiniertes, doppeltes Spiel. Ihre Führer
drohen mit einem Bürgerkrieg. Auf den Mauern erscheinen Graffiti, die
ankünden: "Wir haben Rabin getötet, wir werden auch Sharon töten!" (Rabins
Mörder kam tatsächlich aus diesem Lager; aber seit Jahren wurden wir
ermahnt, dies nicht zu erwähnen, weil sonst die "Nation gespalten wird").
Jeden Tag benützen Siedler-Sprecher die Medien, um grauenhafte Szenarien zu
malen: Massen von Sympathisanten werden nach Gush Kativ marschieren; im
ganzen Land wird der Verkehr lahm gelegt; die Dinge werden außer Kontrolle
geraten; Blut wird fließen.
Zur selben Zeit verhandeln die Vertreter der Siedler um die Kompensation,
die für ihr "Herausreißen" gezahlt werden soll. Es beginnt bei 400.000
Dollar und mag bis zu mehreren Millionen pro Familie reichen. Sie werden zur
vorübergehenden Versorgung auch eine luxuriöse, "mobile Villa" erhalten, die
eine halbe Million Schekel wert ist. Und es soll ihre bleiben, selbst wenn
die Regierung ihnen ein dauerhaftes Heim gebaut haben wird. Es gibt auch
Pläne dafür, den Siedlern nördlich von Aschkalon einen Streifen Land zu
geben, wo sie sich einer Art lokaler Autonomie erfreuen dürfen. Es wird
vorgeschlagen, ihnen 2 Dunum Land zu geben, das von Kibbuzim und Moschavim
genommen wird. Eine der Siedlerinnen rühmte sich vor dem Fernsehen ihrer 35
Gewächshäuser, von denen jedes 200.000 Dollar wert sei – sie erwarte für
diese volle Kompensation.
Die Fanatiker erklären, sie nähmen nicht das Geld, sie kämpften bis zum
letzten Blutstropfen.
In Wirklichkeit lässt jede Drohung den Preis steigen. Je extremer die
Sprache der Siedler ist, um so mehr bringt sie die Regierung
schreckenshalber dazu, mehr Geld anzubieten. Hundert Tausende wollen nach
Gush Kativ marschieren? 50 Tausend Dollar mehr pro Familie? Tausende
Soldaten wollen den Dienst verweigern? Noch mal 100.000 Dollar. Blut wird
fließen? Zweihundert Tausend mehr. Der Himmel ist die Grenze.
Aber diese Oper haben wir schon einmal gesehen. Wir erinnern uns an die
Evakuierung der Yamit-Region im Norden des Sinai, 1982. Die Siedler drohten
mit Selbstmord in einem Bunker. Das neue Massada! Tzahi Hanegbi (jetzt ein
Minister) und seine Kameraden kletterten auf einen hohen Turm, Zeloten
versprachen gewalttätigen Widerstand. Er endete mit einer Farce von weißem
Schaum auf den Dächern. Und wie war es mit dem Geld? Am Ende weigerte sich
nicht ein einziger Siedler, die fette Kompensation anzunehmen.
Einige von ihnen siedelten sich im Gush Kativ zum 2. Mal an und werden nun
eine 2. Kompensation erhalten. Wenn sie schlau genug sind und in eine
Westbanksiedlung umziehen, könnten sie tatsächlich als sehr reiche Leute
enden.
All dies geschieht während Tausende von Lehrern aus Mangel an Geld
entlassen, lebensnotwendige Wohlfahrtsinstitutionen geschlossen werden,
Krebspatienten und andere zum Tode verurteilt sind, weil ihre Medikamente
aus dem "Gesundheitspaket" herausfallen, das vom Staat subventioniert wird.
Und das mag am Ende selbst die apathische Mehrheit zu einem Aufstand
bringen. Der Augenblick wird kommen, dass sie aufsteht und sagen wird:
Genug! Wenn man genau hinsieht, kann man schon jetzt Anzeichen wachsenden
Unmutes erkennen.
Das könnte im Zusammenhang mit dem Abzugsplan noch das Positivste sein. Die
Kluft zwischen den Siedlern und der allgemeinen Bevölkerung wird immer
breiter. In ihrer grenzenlosen Habgier und in ihrem Rowdytum tragen sie
selbst dazu bei. Nichts symbolisiert dies besser, als das Blockieren von
Straßen.
Zur Zeit läuft Dienstags in Israels populärster TV-Sendung (2. Programm)
eine fünfteilige Serie mit Israels beliebtestem Moderator Haim Yavin, einem
wirklichen "Mister Konsens", der die Siedler mit Worten eines prominenten
Kritikers "als fanatische, verrückte, rassistische, widerliche und
gewalttätige Sekte beschreibt".
Der Konsens scheint sich zu verändern.
(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
uri-avnery.de /
avnery-news.co.il
28.05.2005
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hagalil.com/forum
hagalil.com 26-06-2005 |