Jüdisches Leben in EuropaMit der Hilfe des Himmels

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Ein historischer Zeuge

Oder: Wie sich Israels Ministerpräsident bei einem Zitat von Flavius Josephus irrte

English: The Murder of Arafat

Von Uri Avnery
Junge Welt, 24.09.2002

Eine Person, die vor 1900 Jahren starb, wurde kürzlich von Israels Ministerpräsidenten Ariel Scharon aufgefordert, vor seinem verbalen Femegericht zu erscheinen. Das überrascht an sich nicht. Im jüdischen Bewußtsein gibt es keine klare Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wie es auch keine Grenze zwischen Geschichte und Mythos gibt. Juden haben sich in der Debatte über die Zukunft angewöhnt, Personen aus entfernter Vergangenheit mit einzubeziehen.

Joseph Ben Mattathias, eher unter seinem römischen Namen Flavius Josephus bekannt, war ein Sproß aus einer Jerusalemer Priesterfamilie. Beim Ausbruch des jüdischen Aufstandes gegen Rom im Jahre 66 n. u. Z. wurde er zum Oberbefehlshaber von Galiläa ernannt. Als die Römer die Region wieder eroberten, saß er in der befestigten Stadt Jotapata fest. Aber er rettete sich mit einem Trick. Die Stadtverteidiger entschieden, sich gegenseitig zu töten, so wie die Verteidiger von Massada es später taten. Mit Losen wurde festgestellt, wer wen tötete. Joseph brachte es fertig, der Letzte zu sein, der am Leben blieb. Er ergab sich den Römern und wurde so der Historiker des Kaiserhofes.

Sein Buch »Der Jüdische Krieg« ist der bedeutendste Bericht über den Fall Jerusalems und die Zerstörung des jüdischen Tempels - ein traumatisches Ereignis, das einen tiefen Eindruck im jüdischen Bewußtsein bis auf den heutigen Tag hinterlassen hat. In jedem Jahr sind die Juden verpflichtet, die Zerstörung des Tempels zu betrauern. Der Anspruch israelischer Herrschaft über den Tempelberg ist sogar eines der Haupthindernisse für einen israelisch-palästinensischen Frieden.

Vor ein paar Tagen, am jüdischen Neujahrsfest, hatte sich Ariel Scharon selbst zu einem feierlichen Interview im staatseigenen Radio »Die Stimme Israel« mit handverlesenen Gesprächspartnern eingeladen. Im Laufe des Gesprächs wurde Scharon zu den Gush-Shalom-Aktivisten gefragt, die, wie der Interviewer sich ausdrückte, dabei sind, Material über die israelischen Soldaten zu sammeln, um es dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag weiterzureichen. Das war eine offensichtlich vorbereitete Frage, die Scharon zu diesem Interview mitgebracht hatte.

Zunächst klagte Scharon die Gush-Aktivisten - also auch mich - des Verrates und der Spionage in Kriegszeiten an. Nach ihm würden wir Namen der Offiziere und Soldaten sammeln, um sie bei den »Feinden Israels« zu denunzieren, nämlich bei den Richtern in Den Haag. Nachdem er behauptet hatte, die Gush-Aktivisten würden Mißstimmung innerhalb unserer Militärränge verbreiten, las er die lange Passage von Flavius vor, die er mitgebracht hatte: »Sie, die Verteidiger von Jerusalem, kämpften gegeneinander, und ihre Aktionen erfreuten die Belagerer. Tatsächlich war das Übel, das die Römer der Stadt brachten, nicht schlimmer als das, was die Verteidiger einander zufügten. Der Fall der Stadt war nur ein zusätzliches Unglück. Das Unheil, das die Stadt vor dem Fall heimgesucht hatte, war so schrecklich, daß man sagen möchte, daß der Streit die Stadt erobert hat und die Römer nur den Streit bezwungen haben, der stärker als die befestigten Mauern war.«

Das Problem: Die Assistenten, die das Zitat für Scharon vorbereiteten, scheinen von der Gegenwart keine Ahnung zu haben. Erstens: Keiner belagert uns. Wir belagern die Palästinenser. In dieser Geschichte sind wir die Römer, und die Palästinenser sind die Juden. Zweitens: Der schreckliche Bürgerkrieg, der innerhalb der belagerten Stadt ausbrach, war nicht zwischen denen, die den Aufstand unterstützten und jenen, die gegen ihn waren, also zwischen Extremisten und Moderaten oder in der heutigen Terminologie zwischen Rechten und Linken. Er brach unter den Zeloten selbst aus oder - wieder in unserer Sprache - zwischen den extrem Rechten (Scharon) und den noch extremeren Rechten (Effi Eitan und seinesgleichen). Die Moderaten, die darlegten, daß ein Krieg gegen das Römische Kaiserreich hoffnungslos wäre, waren von den Zeloten längst vorher liquidiert worden. Die Rabins jener Zeit waren einer nach dem anderen ermordet worden.

Drittens: Die verrückten Zeloten brachten sich tatsächlich innerhalb der belagerten Stadt um. Sie zerstörten die verbliebenen Nahrungsvorräte und demoralisierten die vor Hunger sterbende Bevölkerung. Aber die Stadt fiel nicht wegen des Streites innerhalb der Stadt. Selbst wenn die Verteidiger wie ein Mann hinter Scharon und Ben Elieser - Verzeihung, hinter Jochanan von Giscala und Schimon Bar-Giora - gestanden hätten, hätten die Römer die Mauern bezwungen.

Es war der Aufstand als solcher, der ein Akt des Wahnsinns war. Das Ende des jüdischen Gemeinwesens in Palästina war unvermeidlich, als die Zeloten die Kontrolle über dieses übernahmen. Um so mehr, als auch die Juden außerhalb Palästinas - schon zwei Drittel des jüdischen Volkes - sich nicht dem Aufstand anschlossen.

Übrigens: Scharons Angriff gegen Gush Shalom war für seine Lakaien derart wichtig, daß sie diesen in fünf hintereinander folgenden Radionachrichtensendungen am nächsten Morgen brachten. Alle seine anderen Statements im Interview wurden übergangen. Das mag auf Zukünftiges hinweisen. Scharon plant einen Frontalangriff gegen Gush Shalom und das ganze ernsthafte Friedenslager, um alle Kritik zum Schweigen zu bringen und andere Gegner abzuschrecken.

Was ängstigt denn Scharon so sehr? Es scheint, daß die Gush-Shalom-Aktivität viele Soldaten zum ersten Mal zum Nachdenken anregt, ob gewisse Aktionen nicht nur unmoralisch sind und alle Chancen für Frieden sabotieren, sondern selbst auch israelische und internationale Gesetze verletzen, womöglich gar Kriegsverbrechen darstellen. Denn trotz allem besteht die Mehrheit der Soldaten aus vernünftigen Personen. Scharon hört das Echo. Um die Botschaft zum Schweigen zu bringen, bringt er die Botschafter zum Schweigen.

(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs)

hagalil.com 24-09-2002

 

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