Uri Avnery 15-11-02
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Rache an einem Kind
Seit letztem Sonntag, geht mir eine Frage nicht mehr aus dem Kopf und
quält mich selbst im Schlafe noch. Was bringt einen jungen Palästinenser,
der in den Kibbuz Metzer einbrach, dahin, mit seiner Waffe auf eine Mutter
und ihre beiden kleinen Kinder zu zielen und sie zu töten?
Selbst in einem Krieg tötet man keine Kinder. Das ist ein fundamentaler
menschlicher Instinkt, der allen Völkern und Kulturen gemeinsam ist. Selbst
ein Palästinenser, der Rache nehmen möchte für die Hunderte von der
israelischen Armee getöteten Kinder, sollte sich nicht an Kindern rächen.
Es gibt kein moralisches Gebot: "Kind um Kind" .
Leute, die so etwas tun, sind nicht von Geburt an als irre Killer oder als
blutdürstig bekannt. In fast allen Interviews mit Verwandten und Nachbarn
werden sie als ganz gewöhnliche, nicht gewalttätige Individuen beschrieben.
Viele von ihnen sind keine religiösen Fanatiker. Sirhan Sirhan, der
tatsächlich diese Tat in Metzer getan hat, gehört der Fatah, einer säkularen
Bewegung, an.
Diese Leute gehören zu allen sozialen Klassen, einige kommen aus armen
Familien, die an der Schwelle der Hungersnot stehen, andere kommen aus der
Mittelklasse, sind Studenten, gebildete Leute. Ihre Gene sind nicht anders
als die unsrigen.
Was bringt sie nun aber dazu, solche grausamen Dinge zu tun? Wie kommt es,
dass andere Palästinenser ihr Tun rechtfertigen?
Um damit fertigzuwerden, muss man verstehen --- was nicht rechtfertigen
heißt.
Nichts in der Welt rechtfertigt einen Palästinenser, der ein Kind auf dem
Schoße seiner Mutter erschießt - genau so wie nichts einen Israeli
rechtfertigt, der eine Bombe auf ein Haus wirft, in dem ein Kind in seinem
Bett schläft. Es ist so, wie der jüdische Dichter Bialik vor hundert Jahren
nach dem Kishinev Pogrom schrieb: "Nicht einmal der Satan hat die Rache für
das Blut eines Kindes erfunden."
Ohne Verständnis kann man mit dieser Sache nicht fertig werden. Die Militärs
haben eine einfache Lösung: zuschlagen, zuschlagen, zuschlagen! Tötet die
Angreifer! Tötet ihre Befehlshaber! Tötet die Führer ihrer Organisationen!
Zerstört die Häuser ihrer Familien und weist ihre Verwandten aus dem Lande!
Doch welch ein Wunder! Diese Methoden erreichen genau das Gegenteil. Nachdem
der riesige IDF-Bulldozer die "Terrorinfrastruktur" dem Erdboden gleich
gemacht hat, alles, was in seinem Wege stand, zerstört, getötet, ausgerissen
hat, gab es innerhalb weniger Tage eine neue "Infrastruktur". Nach den
Meldungen der IDF selbst hat es seit der Operation "Schutzschild" schon
wieder täglich etwa 50 Warnungen vor drohenden Angriffen gegeben.
Den Grund dafür, könnte man in einem Wort zusammenfassen: Wut.
Eine schreckliche Wut, die die Seele eines Menschen so sehr erfüllt, dass
kein Platz mehr für etwas anderes bleibt. Wut, die das ganze Leben eines
Menschen beherrscht, so dass das Leben als solches unwichtig wird. Eine Wut,
die alle Beschränkungen aufhebt, alle Werte auslöscht, alle Familienbande
bricht, auch die der Verantwortung. Eine Wut, mit der jemand am Morgen
aufwacht und am Abend zu Bett geht und nachts noch davon träumt.
Es ist eine Wut, die zu jemandem sagt: steh auf, nimm eine Waffe oder einen
Gürtel voller Sprengstoff, und geh zu ihren Häusern und töte, töte, töte!
Ganz egal, welche Folgen es hat.
Ein normaler Israeli, der niemals in den palästinensischen Gebieten war,
kann sich die Gründe der Wut überhaupt nicht vorstellen. Unsere Medien
ignorieren total, was dort geschieht oder beschreiben dies nur in
abgeschwächter, dosierter Form. Der durchschnittliche Israeli weiß
irgendwie, dass die Palästinenser leiden (natürlich ist es ihre eigene
Schuld), aber er hat keine Ahnung, was dort wirklich geschieht. Irgendwie
betrifft ihn das nicht.
Häuser werden zerstört. Ein Kaufmann, ein Anwalt, ein gewöhnlicher
Handwerker, der in seiner Gemeinde respektiert wird, wird übernacht ein
Obdachloser, er und seine Kinder und seine Enkel. Jeder ein potentieller
Attentäter.
Fruchtbäume werden zu Tausenden ausgerissen. Für den Offizier sind es nur
Bäume, Hindernisse. Für den Besitzer ist es das Herzblut, das Erbe seiner
Vorfahren, jahrelange, schwere Arbeit, der Lebensunterhalt der Familie.
Jeder ein potentieller Selbstmordattentäter.
Auf einem Hügel zwischen den Dörfern hat eine Bande von Siedlern einen sog.
Außenposten errichtet. Die Armee erscheint und verteidigt sie. Wenn die
Dorfbewohner kommen, um ihr Land zu bearbeiten, werden sie beschossen. Es
wird ihnen verboten, innerhalb eines 1-2 km breiten Streifens auf ihrem Land
zu arbeiten, damit die Sicherheit des Außenpostens nicht gefährdet wird. Mit
Wehmut sehen die Bauern von ferne, wie die Früchte an ihren Bäumen
verfaulen, wie auf ihren Feldern Disteln und Dornen hoch wachsen, während
ihre Kinder nichts zu essen haben. Jeder ein potentieller
Selbstmordattentäter.
Leute werden getötet. Ihre zerrissenen Körper liegen auf der Straße - für
jeden sichtbar. Einige von ihnen sind "Märtyrer", die sich ihr Schicksal
gewählt haben. Aber viele andere - Männer, Frauen und Kinder - werden auf
Grund eines "Fehlers", "versehentlich" getötet oder weil "sie zu fliehen
versuchten" oder weil sie "in die Schusslinie" gerieten . Es gibt dafür
hundert und ein Vorwände für die professionellen Sprecher. Die IDF
entschuldigt sich nicht, Offiziere und Soldaten werden niemals für schuldig
erklärt. "Im Krieg läuft es nun mal so!" Aber jeder der Getöteten hat
Eltern, Geschwister, Cousins. Jeder ein potentieller Selbstmordattentäter.
Außer all dem leben die Familien am Rande einer Hungersnot, und Kinder
leiden an schwerer Unterernährung. Die Väter, die ihren Kindern nichts zu
essen geben können, sind verzweifelt. Jeder von ihnen ein potentieller
Selbstmordattentäter.
Hunderttausende werden wochen- ja monatelang unter Ausgangssperre
festgehalten, acht Personen zusammengepfercht in ein, zwei Räumen. Eine
Hölle, wie man sie sich schwer vorstellen kann. Währenddessen amüsieren sich
die Siedler auf der Straße und werden von den Soldaten noch beschützt.
Ein Teufelskreis: Die Attentäter von gestern verursachen die Ausgangssperre,
die Ausgangssperre schafft die Attentäter von morgen.
Dazu kommt die totale Demütigung, die jeder einzelne Palästinenser ohne
Unterschied des Alters, des Geschlechtes, der sozialen Schicht in jedem
Augenblick seines Lebens erfährt. Das ist keine abstrakte Demütigung,
sondern eine sehr konkrete. Auf Tod und Leben von den Launen eines
achtzehnjährigen Soldaten auf der Straße oder an den unzähligen
Kontrollpunkten abhängig sein, an Straßensperren, die ein Palästinenser
passieren muss, egal, wohin er will, während Banden von Siedlern
unkontrolliert vorbeifahren oder palästinensische Dörfer "besuchen", Besitz
beschädigen, die Oliven der Dörfler ernten oder deren Bäume in Brand setzen
dürfen.
Ein Israeli, der dies nicht gesehen hat, kann sich solch ein Leben "der
Sklave Herr geworden ist", eine Situation bestenfalls voller Flüche und
Stöße, in vielen Fällen aber Drohungen mit Waffen, zuweilen mit
tatsächlichem Schießen. Damit sind noch nicht die Kranken auf dem Weg zur
Dialyse erwähnt, die hochschwangeren Frauen auf dem Weg zum Krankenhaus, die
Studenten und Schüler, die ihren Unterricht, die Kinder, die ihre Schule
nicht erreichen können. Die Jungen, die ihren verehrten Großvater von einem
Jungen in Uniform mit Rotznase öffentlich gedemütigt sehen. Jeder ein
potentieller Selbstmordattentäter.
Ein normaler Israeli kann sich all dies nicht vorstellen. Schließlich sind
die Soldaten doch nette Jungs, unsere Söhne, gestern waren sie doch noch
Schüler. Aber wenn man diese netten Jungs in Uniformen steckt, durch die
Militärmaschine zieht und in die Situation der Besatzung bringt, dann
geschieht etwas mit ihnen. Viele versuchen ihr menschliches Antlitz auch
unter unmöglichen Situationen zu bewahren, viele andere werden zu Robotern,
die Befehle ausführen. Und immer gibt es - in jeder Kompanie - einige
psychisch gestörte Leute, die in solch einer Situation aufblühen und
widerliche Dinge tun, weil sie auch wissen, dass ihre Offiziere ein Auge
zudrücken oder einen anerkennenden Wink geben.
All dies rechtfertigt das Töten von Kindern in den Armen ihrer Mütter nicht.
Aber es hilft zu begreifen, warum dies geschieht, und warum dies so
weitergehen wird, solange die Besatzung besteht.
(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und vom Verfasser autorisiert)
erstellt am 16.11.2002
Revenge of a Child
Since last Sunday, a question
has been running around in my head and troubling my sleep: What induced the
young Palestinian, who broke into Kibbutz Metzer, to aim his weapon at a
mother and her two little children and kill them?
In war one does not kill
children. That is a fundamental human instinct, common to all peoples and
all cultures. Even a Palestinian who wants to take revenge for the hundreds
of children killed by the Israeli army should not take revenge on children.
No moral commandment says “a child for a child”.
The persons who do these things
are not known as crazy killers, blood-thirsty from birth. In almost all
interviews with relatives and neighbors they are described as quite
ordinary, non-violent individuals. Many of them are not religious fanatics.
Indeed, Sirkhan Sirkhan, the man who committed the deed in Metzer, belonged
to Fatah, a secular movement.
These persons belong to all
social classes; some come from poor families who have reached the threshold
of hunger, but others come from middle class families, university students,
educated people. Their genes are not different from ours.
So what makes them do these
things?
What makes other Palestinians justify them?
In order to cope, one has to
understand, and that does not mean to justify. Nothing in the world can
justify a Palestinian who shoots at a child in his mother’s embrace, just as
nothing can justify an Israeli who drops a bomb on a house in which a child
is sleeping in his bed. As the Hebrew poet Bialik wrote a hundred years ago,
after the Kishinev pogrom: “Even Satan has not yet invented the revenge for
the blood of a little child.”
But without understanding, it is
impossible to cope. The chiefs of the IDF have a simple solution: hit, hit,
hit. Kill the attackers. Kill their commanders. Kill the leaders of their
organizations. Demolish the homes of their families and exile their
relatives. But, wonder of wonders, these methods achieve the opposite. After
the huge IDF bulldozer flattens the “terrorist infrastructure”,
destroying-killing-uprooting everything on its way, within days a new
“infrastructure” comes into being. According to the announcements of the IDF
itself, since operation “Protective Shield” there have been some fifty
warnings of imminent attacks every day.
The reason for this can be summed
up in one word: rage.
Terrible rage, that fills the
soul of a human being, leaving no space for anything else. Rage that
dominates the person’s whole life, making life itself unimportant. Rage that
wipes out all limitations, eclipses all values, breaks the chains of family
and responsibility. Rage that a person wakes up with in the morning, goes to
sleep with in the evening, dreams about at night. Rage that tells a person:
get up, take a weapon or an explosive belt, go to their homes and kill,
kill, kill, no matter what the consequences.
An ordinary Israeli, who has
never been in the Palestinian territories, cannot even imagine the reasons
for this rage. Our media totally ignore the events there, or describe them
in small, sweetened doses. The average Israeli knows somehow that the
Palestinians suffer (it’s their own fault, of course), but he has no idea
what’s really happening there. It doesn’t concern him, anyhow.
Homes are demolished. A merchant,
lawyer, ordinary craftsman, respected in his community, turns overnight into
a “homeless”, he and his children and grandchildren. Each one of them a
potential suicide bomber.
Fruit-trees are being uprooted in
their thousands. For the officer, it’s just a tree, an obstacle. For the
owners, it’s the blood of his heart, the heritage of his forefathers, years
of toil, the livelihood of his family. Each one of them a potential suicide
bomber.
On a hill between the villages a
gang of thugs has put up an “outpost”. The army arrives to defend them. When
the villagers come to till their fields, they are shot at. They are
forbidden to work in all fields and groves within a one or two kilometers
range, so that the security of the outpost will not be endangered. The
peasants see from afar, with longing eyes, how their fruit is rotting on the
trees, how their fields are being covered by thorns and thistles waist high,
while their children have nothing to eat. Each one of them a potential
suicide bomber.
People are killed. Their torn
bodies lie in the streets, for everyone to see. Some of them are “martyrs”
who chose their lot. But many others - men, women, children - are killed “by
mistake”, “accidentally”, “trying to escape”, “were close to the source of
fire” - and all the hundred and one pretexts of professional spokesmen. The
IDF does not apologize, officers and soldiers are never convicted, because
“that’s how things are in war”. But each of the people killed has parents,
brothers, sons, cousins. Each one of them a potential suicide bomber.
Beyond these are the families
living on the fringes of hunger, suffering from severe malnutrition. Fathers
who cannot bring food to their children feel despair. Each one of them a
potential suicide bomber.
Hundred of thousands are kept
under curfew for weeks and months on end, eight persons cooped up in two or
three rooms, a living hell difficult to imagine, while outside the settlers
have a ball, protected by the soldiers. A vicious circle: yesterday’s
bombers caused the curfew, the curfew creates the bombers of tomorrow.
And beyond all these, the total
humiliation which every Palestinian, without distinction of age, gender or
social standing, experiences every moment of his life. Not an abstract
humiliation, but an altogether concrete one. To be dependent for life and
death on the whim of an 18-year old boy in the street and at one of the
innumerable checkpoints that a Palestinian has to pass wherever he goes,
while gangs of settlers pass freely and “visit” their villages, damage
property, pick the olives in their groves, set fire to the trees.
An Israeli who has not seen it
cannot imagine such a life, a situation of “every bastard a king” and “the
slave who has becomes master”, a situation of curses and pushes at best,
threats with weapons in many cases, actual shooting in some. Not to mention
the sick on the way to dialysis, the pregnant women on the way to hospital,
students who don’t get to their classes, children who can’t reach their
schools. The youngsters who see their venerable grandfather publicly
humiliated by some boy in uniform with a runny nose. Each one of them a
potential suicide bomber.
A normal Israeli cannot imagine
all this. After all, the soldiers are nice boys, the sons of all of us, only
yesterday they were schoolboys. But when one takes these nice boys and puts
them in uniforms, pushes them through the military machine and puts them
into a situation of occupation, something happens to them. Many try to keep
their human face in impossible circumstances, many others become
order-fulfilling robots. And always, in every company, there are some
disturbed people who flourish in this situation and do repulsive things,
knowing that their officers will turn a blind eye or wink approvingly.
All this does not justify the
killing of children in the arms of their mother. But it helps to grasp why
this is happening, and why this will go on happening as long as the
occupation lasts.
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