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Uri Avnery, Israel
Carl-von-Ossietzky-Preisträger 2002

Der israelische Journalist Uri Avnery erhielt den Carl-von-Ossietzky-Preis 2002 der Stadt Oldenburg. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert. Mit dem Preis wird der Einsatz des 78-Jährigen für Frieden, Völkerverständigung und Menschenrechte gelobt, teilte die Stadt Oldenburg mit.
Der Carl-von-Ossietzky-Preis ist nach dem 1938 gestorbenen Friedensnobelpreisträger, Publizisten und Naziopfer von Ossietzky benannt und wird alle zwei Jahre vergeben.

Kurzbiographie (taz.de): Der langjährige taz-Autor Avnery wurde schon mehrfach ausgezeichnet. Im vorigen Jahr erhielt er mit seiner Frau Rachel und der Friedensgruppe Gusch Schalom den Stockholmer Alternativen Friedensnobelpreis. 1995 bekam er den Erich-Maria-Remarque-Preis und 1997 den Aachener Friedenspreis.
Avnery wurde 1923 als Sohn eines jüdischen Bankiers unter dem Namen Helmut Ostermann im westfälischen Beckum geboren. 1933 wanderte er mit seiner Familie nach Palästina aus. Bis 1948 kämpfte er im Untergrund für die Selbstständigkeit Israels.
1993 gründete Avnery mit Gleichgesinnten den Friedensblock Gusch Schalom. Die Organisation setzt sich für die Räumung der israelisch besetzten Gebiete sowie für Jerusalem als gemeinsame Hauptstadt von Israelis und Palästinensern ein.

Die Rede zur Preisverleihung
Uri Avnery

Im Dritten Reich war Carl von Ossietzky ein Verräter. Die Masse des Volkes lief einem Rattenfänger nach. Eine ungeheure Propagandamaschinerie trommelte zum Krieg. Andersdenken war Verrat. Auf Verrat stand Todesstrafe. Ossietzky wurde zu Tode gefoltert.

Heute, 64 Jahre später, ehren wir Carl von Ossietzky als den wahren deutschen Patrioten. Als einen Propheten der neuen Zeit. Als den Realisten, der seiner Zeit weit voraus war. Der nicht die Trommel der widerwärtigen Gegenwart, sondern die Musik der Zukunft hörte.

Für viele seiner Volksgenossen, vielleicht für beinahe alle, war er ein Verräter. Aber es gibt Zeiten, in denen ein anständiger Mensch eben ein Verräter sein muss. Zeiten, in denen wahrer Patriotismus und Verrat ein und dasselbe sind. In denen die Ehre eines Volkes von den wenigen Verrätern aufrecht erhalten wird, die den unglaublichen moralischen und physischen Mut haben, Nein zu sagen, wenn alle um sie herum Ja schreien. Die für den Frieden eintreten, wenn ein ganzes Volk vom Wahnsinn des Krieges besessen ist. Die gegen Rassenwahn und nationalen Sadismus auftreten, wenn die Demagogen des Hasses mit ihren hysterischen Stimmen die Luft verseuchen. Millionen von Menschen in Deutschland, in Europa, in der ganzen Welt mussten ihr Leben hergeben, wurden gefoltert, zerschossen, zerfetzt, verbrannt, vergast, bis endlich die Völker Europas sich im Frieden zusammenfanden, so wie Carl von Ossietzky es erhofft hatte.

Die Bibel erzählt, wie der Prophet Elia König Ahab traf: "Und als Ahab Elia sah, sprach Ahab zu ihm: 'Bist du es, der Verderber Israels?' Er aber sprach: 'Nicht ich bin der Verderber Israels, sondern du und deines Vaters Haus dadurch, dass ihr des Herrn Gebote verlassen habt und wandelt den Götzen nach!'"

Das ist für mich Carl von Ossietzky, ein deutscher Prophet, ein Mann, der der Generation meines Vaters angehörte, der im selben Jahr ins Konzentrationslager kam, in dem mein Vater mich, als neunjährigen Jungen, aus Deutschland rettete, um in Palästina ein neues Leben zu beginnen.

Ich komme aus einem Land, in dem in den letzten Wochen täglich schreckliche Dinge passieren. Die Armee, in der ich selbst vor 53 Jahren als Kommandosoldat gedient habe und schwer verwundet worden bin, führt Krieg. Kriegsgetöse bringt jede vernünftige Stimme zum Schweigen, Kampfbegeisterung "einigt" das Volk, Propaganda füllt unsere Medien, ein Mann der brutalen Gewalt ist am Steuer.

Es ist nicht leicht für die Wenigen - leider noch zu Wenigen -, auch in dieser Lage aufrecht zu stehen, zu protestieren, die Stimme der Vernunft und des Friedens zu erheben. Aber es gibt eine wachsende Friedensbewegung in Israel, die das tut.

Wir haben schon in der ersten Stunde der zweifelhaften so genannten "Operation Schutzschild" gegen sie protestiert. Tausende sind nach Dschenin und Ramallah marschiert, um Lebensmittel und Medizin in die belagerten palästinensischen Städte und Flüchtlingslager zu bringen. Man hat uns mit Tränengas und Gummikugeln beschossen. Aber schlimmer als dies war der Hass, dem wir begegnet sind, das Geschrei unserer hasserfüllten, gehirngewaschenen Mitbürger, die uns als Verräter und Nestbeschmutzer beschimpfen und uns Todesdrohungen zuschicken. Wir halten Stand, weil wir sicher sind, dass wir die wahren Patrioten Israels sind, dass wir die Ehre unseres Volkes aufrecht erhalten, dass unsere Stimmen am Ende die Trommeln des Hasses und der nationalen Überheblichkeit besiegen werden.

Für Israel und für Palästina

Es ist für viele Menschen, und besonders für Deutsche, schwer, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu verstehen. Manche stellen sich ganz auf die Seite Israels, in dem Glauben, dass sie damit die Sünden der schrecklichen Vergangenheit sühnen. Andere verdammen Israel und stellen sich ganz auf die Seite der Palästinenser. Wir aber sagen: Sie brauchen nicht zwischen den beiden zu wählen, sie können für beide sein, für Israel und für Palästina, für den Frieden zwischen beiden Völkern, für die Versöhnung, für die gemeinsame Zukunft.

Der Historiker Isaac Deutscher hat diesen Konflikt so zu beschreiben versucht: Ein Mensch wohnt im oberen Stockwerk eines Hauses, in dem ein Brand entsteht. Um sich zu retten, springt er aus dem Fenster und landet auf dem Kopf eines Passanten, der auf diese Weise zum Invaliden wird. Zwischen den beiden entsteht ein lebenslanger Konflikt. Wer von ihnen hat Recht?

Die zionistische Bewegung ist im deutschen Kulturkreis entstanden. Der Gründer der Bewegung, der Schriftsteller und Journalist Theodor Herzl, lebte in Wien - in der Stadt, in der zum ersten Mal in Europa ein eingefleischter Antisemit zum Bürgermeister gewählt wurde. Er sah, wie am Ende des 19.Jahrhunderts in ganz Europa nationale Bewegungen die Oberhand gewannen, in denen für Juden kein Platz mehr war. Von den Pogromen im zaristischen Russland bis zu den Ausschreitungen der Dreyfus-Affaire in Frankreich - überall waren die Juden durch diesen modernen Antisemitismus gefährdet.

Die zionistische Antwort hat Leben gerettet

Die zionistische Antwort war: Wenn für uns kein Platz in den Nationen Europas ist, dann konstituieren wir Juden uns als eine separate Nation und gründen unseren eigenen Staat, in dem wir unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen können. Es war eine richtige Antwort, und sie hat vielen von uns - auch mir - das Leben gerettet.

Die Schattenseite war, dass der Zionismus, der sich in Palästina etablierte, die Tatsache ignorierte, dass im Lande seit vielen Jahrhunderten ein anderes Volk lebte. Das einheimische, arabisch-palästinensische Volk wehrte sich, ganz natürlich, gegen die fremden Eindringlinge, wie es jedes andere Volk getan hätte. So entstand der Konflikt, der uneingeschränkt bis heute - und besonders heute - weitergeht; ein Konflikt, in den schon die fünfte Generation hineingeboren ist und der unser ganzes Leben bestimmt.

Er begann mit Stöcken und Steinen. Als ich mit 15 Jahren einer terroristischen Untergrundorganisation beitrat, um gegen die britische Kolonialregierung zu kämpfen, hatten wir schon Pistolen. Heutzutage setzt unsere Armee Panzer, Kanonen, Kampfflugzeuge und Hubschrauber ein, und die Palästinenser Selbstmordbomber. Und überall im Nahen Osten warten die Massenvernichtungswaffen, biologische, chemische und atomare.

So ein Konflikt erzeugt Hass, Vorurteile und Angst, hauptsächlich Angst. Jede Seite verteufelt die andere, Propaganda ersetzt die Vernunft, Mythen entstellen die Wahrheit. Jede Seite sieht nur die Greueltaten der anderen und ignoriert die eigenen, jede glaubt an ihr absolutes Recht und an das absolute Unrecht der anderen.

Der erste Schritt zum Frieden ist,
das Leiden des anderen zu verstehen

Der erste Schritt zum Frieden ist, die Traumata, die Ängste, die Hoffnungen der anderen Seite zu verstehen. Für die Palästinenser bedeutet das, die Nachwirkungen des Holocausts auf die Seele der Israelis zu begreifen; für uns bedeutet das, die Nachwirkungen der Nakbah, d.h. der Katastrophe, der Massenvertreibung von 1948, auf die Seele der Palästinenser zu verinnerlichen.

Der zweite Schritt ist, eine Vision des Friedens zu zeichnen, die die gerechten Ansprüche und Aspirationen beider Seiten berücksichtigt.
Der dritte Schritt ist, die moralischen und politischen Kräfte zu entwickeln, um diesen Frieden zu verwirklichen, nicht nur in Israel und Palästina, sondern in der ganzen Welt, in Amerika, in Europa, auch in Deutschland, vielleicht besonders in Deutschland.

Keiner kann und darf vergessen, was in Deutschland geschehen ist. Was in Deutschland vor 60 Jahren passiert ist, hat einen großen Einfluss auf das gehabt, was heute in unserem Lande passiert. Das darf nicht dazu führen, dass Deutsche sich jeder moralischen Kritik gegenüber Israel enthalten. Ganz im Gegenteil - das wäre genauso unmoralisch wie antisemitische Hetze.

Weder die Israelis
noch die Palästinenser sind Nazis

Das Gedächtnis des Holocausts darf nicht manipuliert werden, um Unrecht zu rechtfertigen. Der Holocaust ist einmalig, er darf nicht für aktuelle Politik benutzt werden. Weder die Israelis noch die Palästinenser sind Nazis. Jeder Antisemitismus ist abscheulich, ganz egal, gegen welches semitische Volk er gerichtet ist - der alte antijüdische Antisemitismus genauso wie der neue anti-arabische, anti-islamische Antisemitismus.

Seit mehr als 50 Jahren setze ich mich für eine Friedenslösung ein, die das Recht beider Seiten auf Freiheit, Selbstständigkeit und Gerechtigkeit berücksichtigt. Natürlich besteht keine Symmetrie zwischen den beiden Seiten - wir sind die Besetzer, sie sind die Besetzten, wir haben eine gewaltige Übermacht, sie haben die Hartnäckigkeit eines bedrohten Volkes. Aber so viel Blut auch fließt, so viel abscheuliche Dinge auch passieren, am Ende werden unsere beiden Völker in diesem kleinen Lande nebeneinander und zusammen leben müssen, weil jede andere Lösung zu schrecklich ist, um auch nur an sie zu denken.

So dunkel auch die Gegenwart aussieht, ich glaube, dass wir heute dem Frieden näher sind als je. Auf beiden Seiten besteht eine große Mehrheit, die den Frieden will, sie glaubt aber nicht, dass der Frieden möglich ist. Die Verteufelung des Feindes, die Angst vor dem Fremden, das Unverständnis für das Recht des Anderen - sie führen dazu, dass dieser Friedenswille nicht zum Ausdruck kommt.

Wir in der israelischen Friedensbewegung, und besonders in Gusch Schalom - dem Friedensblock, in dem ich wirke -, betrachten es als unsere Aufgabe, auch in den schwersten Zeiten und unter den schwersten Bedingungen dieses Ziel klar im Auge zu behalten. Wir sind engagiert, um unser Volk, das Volk Israels, zu überzeugen, dass der Frieden möglich ist, dass der Preis des Friedens viel, viel billiger ist als der Preis des Krieges, nämlich: ein freier Staat Palästina in allen besetzten Gebieten des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt Israels und Palästinas, die Auflösung aller israelischen Siedlungen in den palästinensischen Gebieten und eine gerechte, praktische und vereinbarte Lösung für die Tragödie der palästinensischen Flüchtlinge.

Wenn das Verrat ist, dann sind wir Verräter. Wenn es Patriotismus ist, sind wir Patrioten. Jedenfalls sind wir keine Träumer. Wir sagen unserem Volk, was der Gründer des Zionismus vor 100 Jahren gesagt hat: Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.

Weitere Auszeichnungen:

  • Ehrenbürgerschaft des Dorfes Abu-Ghosh bei Jerusalem,
    in Anerkennung seines Anteils an der Verhinderung der Vertreibung des Dorfes, 12.12.53.
  • Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück, 21.6.95.
  • Ehrenbürgerschaft der Stadt Kafr Kassem,
    in Anerkennung seines Anteils an der Aufdeckung des Massakers, verliehen am 40. Jahrestag, 31.10.96.
  • Aachener Friedenspreis (zusammen mit Gusch Schalom), 1.9.97.
  • Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte, 22.1.98.
  • Niedersachsen-Preis für hervorragende publizistische Leistungen, 11.2.98.
  • Palästinensischer Preis für Menschenrechte,
    verliehen von LAW, die palästinensische Gesellschaft für Menschenrechte, Jerusalem 7.6.98.
  • Alternativer Nobelpreis (Right Livelihood Award 2001), Uri und Rachel Avnery und Gush Shalom, 4.10.01, Verleihung 7.12.01.
  • Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg, Verleihung 4.5.02.
  • Lew-Kopelew-Preis, Köln, Verleihung März 2003.

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