Uri Avnery
Diese Sache klingt wie ein Witz, sie ist aber sehr ernst. Die
Regierung von Israel erkennt die israelische Nation nicht an. So etwas gäbe
es nicht. Könnte es für die französische Regierung möglich sein, die
Existenz der französischen Nation zu leugnen? Oder für die Regierung der
Vereinigten Staaten von Amerika, die amerikanische Nation nicht
anzuerkennen? Doch Israel ist das Land unbegrenzter Möglichkeiten.
Jede Person in Israel ist im Innenministerium im Einwohnerverzeichnis
registriert. Das Verzeichnis schließt den Punkt "Nation" ein. Dieser Punkt
erscheint auch auf der Identitätskarte, die jede Person in Israel immer bei
sich tragen muss. Oder sie riskiert eine strafrechtliche Verfolgung. Das
Innenministerium hat eine Liste von 140 anerkannten Nationen, die der Beamte
registrieren kann. Es handelt sich dabei nicht nur um etablierte Nationen (
wie "russisch", "deutsch", "französisch" usw.) sondern auch um "christlich",
"muslimisch", "drusisch" und andere. Die "Nation" des arabischen Bürgers in
Israel kann z.B. als "arabisch", "christlich", "katholisch", - aber nicht
als "palästinensisch" – registriert sein. Das Innenministerium weiß nichts
von der Existenz einer solchen Nation.
Die meisten israelischen Einwohner tragen eine Identitätskarte bei sich,
auf der natürlich unter "Nation" "jüdisch" steht. Dies wurde nun zum Thema
einer Debatte.
Eine Gruppe von 38 Israelis hat beantragt, die Eintragung "jüdisch" zu
streichen und durch "israelisch" zu ersetzen. Das Innenministerium weigerte
sich und behauptete, dass solch eine Nation nicht auf seiner Liste
erscheint. Diese Gruppe hat beim Obersten Zivilgericht einen Antrag gestellt
und darum gebeten, das Innenministerium zu informieren, man möge sie, da sie
sich zur "israelischen" Nation gehörig fühlen, auch als solche registrieren.
In dieser Woche kam dieser Fall vor Gericht.
Zu diesen 38 gehören einige der berühmtesten Professoren Israels
(Historiker, Philosophen, Soziologen und dgl.), bekannte öffentliche
Persönlichkeiten u.a. ( einschließlich meiner Wenigkeit). Einer der
Initiatoren ist ein Druse. Sie gehören keineswegs zu einem politischen Lager
- die Gruppe schließt tatsächlich Leute vom linken und rechten Lager ein.
Einer von ihnen ist Benny Peled, früherer Kommandant der Luftwaffe – er
stand sehr weit rechts und starb, nachdem die Petition beantragt war.
Das Oberste Gericht, in seiner Funktion als Oberes Zivilgericht,
behandelte den Fall wie eine heiße Kartoffel. (Selbst wenn der Richter
Mishal Cheshin sich darüber freute, im Verzeichnis des Ministeriums die
"Assyrische" Nation zu finden – in der Tat eine sehr kleine religiöse
Gemeinschaft - ein Rest aus der Antike, der noch einen aramäischen Dialekt
spricht.)
Um sich mit einer so tiefschürfenden Frage zu befassen – so sagten die
Richter des Zivilen Gerichtshofes, der sich gewöhnlich mit
Verwaltungsangelegenheiten befasst - seien sie nicht genügend ausgerüstet.
Er riet den Antragstellern, zum Distriktgericht zu gehen, wo eine
ausführliche Diskussion möglich wäre und Experten dazu gerufen werden
können. Die Antragsteller nahmen den Rat an. Und so wurde die Debatte zu
einem anderen juristischen Forum umgeleitet, das sich mit vielen Anhörungen
wird abgeben müssen.
Warum weigert sich die israelische Regierung, die israelische Nation
anzuerkennen? Nach ihrer offiziellen Doktrin gibt es eine "jüdische" Nation,
und der Staat gehört ihr. Es ist doch ein "jüdischer" Staat oder mit den
Worten eines der Gesetze: "es ist der Staat des jüdischen Volkes". Nach
derselben Doktrin ist es auch ein demokratischer Staat und alle seine Bürger
werden als gleichberechtigt angesehen, ungeachtet ihrer nationalen
Zugehörigkeit. Aber grundsätzlich ist der Staat "jüdisch". Nach dieser
Doktrin ist das Judentum beides: eine Nation und eine Religion.
In den ersten Jahren Israels war es üblich, wenn jemand - bona fide -
erklärte, dass er oder sie jüdisch sei, er oder sie als solche registriert
wurden. Aber als das religiöse Lager mehr Macht erhielt, wurde das Gesetz
verändert: von da an wurde eine Person nur dann unter "Nation: jüdisch"
registriert, wenn sie eine jüdische Mutter hatte oder sie zum jüdischen
Glauben konvertiert war und keine andere Religion hatte. Dies ist natürlich
eine rein religiöse Definition. (Nach dem jüdisch-religiösen Gesetz ist eine
Person jüdisch, wenn die Mutter jüdisch ist. Der Vater ist hier irrelevant).
Diese Situation hat ein anderes Problem geschaffen. In Israel erfreut
sich das orthodoxe Rabbinat eines totalen Monopols, was jüdisch religiöse
Angelegenheiten betrifft. Zwei andere jüdisch religiöse Fraktionen, die in
den USA sehr wichtig sind, die konservative und die reform, werden in Israel
diskriminiert, und bei ihnen durchgeführte Konversionen werden von der
Regierung nicht anerkannt. Vor ein paar Jahren entschied der Oberste
Gerichtshof, dass Personen, die in diesen beiden Gemeinschaften in Israel
konvertiert seien, unter "Nation" auch als "Jüdisch" registriert werden
müssen. Daraufhin hat der damalige Innenminister, ein religiöser Politiker,
einfach entschieden, dass in Zukunft solche Identitätskarten unter dem Punkt
"Nation" nur fünf Sterne zeigen. Aber im Einwohnerverzeichnis des
Ministeriums steht noch immer als "Nation: jüdisch".
Die Ursprünge dieses Durcheinander gehen bis in die Anfänge der
zionistischen Bewegung. zurück. Bis dahin waren Juden in aller Welt eine
religiös-ethnische Gemeinschaft. Das war für das damalige Europa anormal –
aber vor 2000 Jahren ganz normal, als solche Gemeinschaften – griechisch,
jüdisch, christlich und andere – die Norm waren. Im byzantinischen Reich war
jede autonom und hatte ihre eigenen Gesetze und die eigene Gerichtsbarkeit.
Ein Jude aus Alexandria konnte eine Jüdin aus Antiochien heiraten, aber
nicht seine christliche Nachbarin. Im Ottomanischen Reich wurde diese
Tradition fortgesetzt. Man nannte diese Gemeinschaften Millets (nach dem
arabischen Wort für Nation).
Aber als in Europa die modernen Nationalbewegungen sich entwickelten und
es so aussah, dass die Juden in ihnen keinen Platz hätten, entschieden die
Gründer der zionistischen Bewegung, dass sich die Juden als unabhängige
Nation konstituieren und einen eigenen Staat gründen sollten. Die
religiös-ethnische Gemeinschaft wurde als Nation umdefiniert, und so kam
eine Nation zustande, die gleichzeitig eine Religion war – und eine
Religion, die auch eine Nation war.
Zwei Generationen später jedoch, wurde die Fiktion Realität. In Palästina
entwickelte sich eine wirkliche Nation mit nationaler Wirklichkeit und
nationaler Kultur. Die Mitglieder dieser Nation betrachteten sich selbst
natürlich als Juden, aber Juden, die in vielen Hinsichten anders als Juden
in der Welt waren. Vor der Gründung des Staates Israel machte man in der
alltäglichen Ausdrucksweise – ohne dass irgend jemand dies entschieden hat –
einen Unterschied zwischen "hebräisch" und "jüdisch". Man sprach vom
"hebräischen" Yishuv (die neue Gesellschaft in Palästina) und der "jüdischen
Religion", von der "hebräischen Landwirtschaft" und der "jüdischen
Tradition", von "hebräischen Arbeitern" und der "jüdischen Diaspora", vom
"hebräischen Untergrund" und dem "jüdischen" Holocaust. Als ich noch ein
Junge war, demonstrierten wir für jüdische Einwanderung und einen
hebräischen Staat.
Als Israel zum Staat geworden war, wurden die Dinge einfacher. Jeder
Israeli, der im Ausland nach seiner Staatszugehörigkeit gefragt wird,
antwortet automatisch: "Ich bin ein Israeli". Es kommt ihm gar nicht in den
Sinn zu sagen: "Ich bin Jude"; es sei denn, er wird nach seiner Religion
gefragt. Es gibt keinen Widerspruch zwischen Israeli-sein und Jude-sein. Ein
moderner Mensch besteht aus verschiedenen "Schichten", die einander nicht
ausschließen. Eine Person kann dem Geschlecht nach männlich sein, der
Vorliebe nach Vegetarier, der Religion nach Jude und ein Israeli nach seiner
Nation. Eine Frau in Brooklyn kann jüdisch sein und gleichzeitig
(US)-Amerikanerin – jüdisch dem Ursprung und der Religion nach und
amerikanisch nach ihrer Nation.
Nach modernen westlichen Normen definiert sich eine Nation durch ihre
Staatsangehörigkeit und in vielen Sprachen bedeutet Nationalität
Staatsangehörigkeit. Jeder amerikanische Bürger gehört zu der
(us-)amerikanischen Nation, ob er schottischen, mexikanischen, afrikanischen
oder jüdischen Ursprungs ist. Der Religion nach kann ein Amerikaner
katholisch, jüdisch, Buddhist oder evangelikal sein. Das hat keinen Einfluss
auf seine Zugehörigkeit zu der Nation, die ein politisches Kollektiv ist.
Auch europäische Nationen gleichen sich langsam diesen Normen an.
Im Gegensatz zur jetzt überholten faschistischen Doktrin, ist die
Zugehörigkeit zu einer Nation eine Sache der eigenen persönlichen
Entscheidung. Die hundert Tausenden von Russen, die – als nahe Verwandte von
Juden – legal nach Israel kamen, die in der israelischen Armee gedient haben
und israelische Steuern zahlen, falls sie zur israelischen Nation gehören
wollen, gehören tatsächlich dazu. Arabische Bürger, die zur israelischen
Nation gehören wollen, sind in der Tat Israelis – ohne dass sie ihre
palästinensische Identität und ihre muslimische, christliche oder drusische
Religion aufgeben.
Für viele Leute in Israel ist es schwierig, die zionistischen Mythen, mit
denen sie aufgewachsen sind, aufzugeben. Sie versuchen, jeder Diskussion
darüber auszuweichen – und tatsächlich wird dies in unseren Medien kaum
erwähnt. Unsere Petition an das Obere Zivilgericht und bald beim
Distriktgericht ist dafür bestimmt, solch eine Debatte zu provozieren.
Vor mehr als zwei Tausend Jahren befand sich der
Prophet
Jonas* auf einem Schiff, das im Sturm unterzugehen drohte. Die
verängstigten Matrosen suchten nach dem Schuldigen und fragten ihn (Jona
1,8): "... aus welchem Lande bist du und von welchem Volke bist du?" Jona
antwortete ihnen: "Ich bin ein Hebräer!" Als Antwort auf diese Frage
erklären wir: "Wir sind Israelis!"