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Kommentar zum Wahlkampf:
Der Rattenfänger von Hameln

Anm.: Der Artikel wurde noch vor dem zweiten 
Schlaganfall von Premier Scharon verfasst.

Uri Avnery über die Linke und Sharons Kadima

VOR ETWA 721 JAHREN litt die Stadt Hameln in Deutschland unter einer Rattenplage. Ein Bürger mit Namen Bünting bot sich an, für eine mit einander vereinbarte Bezahlung die Stadt von der Plage zu befreien. Als er auf seiner Pfeifenflöte spielte, kamen die verzauberten Ratten aus ihren Löchern heraus, folgten ihm in den Fluss und ertranken.

Aber als der Pfeifer den Stadtvätern von Hameln seine Rechnung vorlegte, wollten sie ihm nur die Hälfte zahlen. Der Pfeifer dachte sich eine schreckliche Rache aus. Er blies wieder auf seinem Instrument, und dieses Mal kamen alle Kinder der Stadt heraus und folgten ihm. Er führte sie zu einem Berg – und keines von ihnen wurde je wieder gesehen.

ARIEL SHARON ist eine moderne Version des Pfeifenspielers. Nachdem die Likudväter eine schreckliche Wahlschlappe erlitten hatten, riefen sie ihn und baten ihn, zu ihrer Rettung zu kommen. Und er blies tatsächlich seine Pfeife, und die Wähler folgten ihm zur Wahlurne. Bei zwei Wahlkampagnen führte er sie von 19 zu 38 Knessetsitzen. (Ihm schloss sich dann Nathan Sharansky mit noch drei Sitzen an.)

Zahlten die Likudväter ihm den Lohn? Nichts davon! Sie machten ihm das Leben zur Hölle, behinderten ihn an jeder Ecke, und am Ende wandte sich die Likud-Knesset-Fraktion selbst gegen ihren eigenen Ministerpräsidenten.

Nun brach der Tag der Rache an. Sharon bläst wieder seine Zauberflöte, und die Likudwähler folgen ihm - von ein paar Likudvätern selbst begleitet – in hellen Scharen. Der restliche Likud mag, von wenigen betrauert, ruhig den Fluss hinuntertreiben.

Aber nicht nur die Kinder der Rechten folgen dem Rattenfänger, sondern auch viele Kinder der Linken. Er ist dabei, sie zum Berg zu führen, der sie wie die armen Kinder von Hameln verschlingen wird.

ALS ICH GESTERN in Tel Aviv auf der Straße ging, rief jemand hinter mir her:
„He, wann schließen Sie sich Sharon an?“
„Warum sollte ich das tun?“ fragte ich zurück.
„Weil er Ihren Plan erfüllen wird!“ antwortete er triumphierend.

Diese Illusion scheint Boden zu gewinnen. Viele Linke, die die letzten Jahre in einer warmen und bequemen Verzweiflung schwelgten, die sie von jeder Pflicht befreite, aufzustehen und zu kämpfen, haben jetzt eine noch angenehmere Lösung gefunden: Sharon, der Mann des rechten Flügels, wird den Traum des linken verwirklichen. Man muss nur für Sharon stimmen – dann wird der lang ersehnte Frieden kommen. Keine besonderen Bemühungen sind nötig, man braucht nicht zu kämpfen. Man muss nicht einmal einen Finger rühren.

„Haaretz“ veröffentlichte in der letzten Woche den Artikel eines Linken, der erklärte, warum er Sharon wählen wolle: Sharon ist wie de Gaulle. De Gaulle hatte gegen sein Versprechen Frankreich aus Algerien herausgeholt und machte Frieden mit den Rebellen. Um der guten Sache willen log und betrog er. Auch Sharon lügt und betrügt. Also: Sharon wird Israel aus den palästinensischen Gebieten herausholen und Frieden machen. Das ist doch logisch.

Wenn jemand nach einem Beweis sucht, so konnte er es diese Woche in einer Erklärung von Kalman Gayer, einem Amerikaner, finden, der Sharon für die Meinungsumfragen berät. Er enthüllte Sharons „wirklichen“ Plan in Newsweek: den Palästinensern 90% der Westbank zurückzugeben und über Jerusalem einen Kompromiss zu machen.

Der Likud gab einen herzzerreißenden Schrei von sich, die Linke war bestürzt. Wie, bitte? Wirklich? Sharon ist bereit, mehr „aufzugeben“ als Ehud Barak? Aber jemand, der mit der besonderen Redeweise Sharons bekannt ist, kann den Code leicht entschlüsseln: Nach Gayer selbst glaubt Sharon nicht, dass dies zu seinen Lebzeiten noch geschehen werde, weil es keinen palästinensischen Partner für Frieden gebe. Deshalb ist er bereit, vorläufig nur die Hälfte der Westbank zurückzugeben.

So kommen wir – wie durch ein Wunder – dann doch wieder zurück zu Sharons ursprünglicher Formel: einseitig 58% der Westbank zu annektieren, keinerlei Friedensverhandlungen mit den Palästinensern zu führen und an ganz Jerusalem festzuhalten.

Inzwischen verteilt Sharon (durch seinen Verteidigungsminister, der ihm aus dem Likud folgte) Hunderte, vielleicht Tausende Baugenehmigungen in den Siedlungen, lässt die Mauer weiterbauen, lässt palästinensische Häuser in Jerusalem zerstören und die Blockade in Gaza aufrecht erhalten. Seine fortgesetzte stille Bemühung, die Position von Mahmoud Abbas zu unterminieren, trägt schon Früchte. Doch wer kümmert sich darum, wenn die berauschenden Flötentöne die Sinne und Gehirne so vieler friedensliebender Linker betäuben?

WENN SHARON die Wahlen gewinnt – in 101 Tagen ab heute – und wieder Ministerpräsident wird, was wird er dann tun?

Die einfache Wahrheit heißt: keiner weiß es. Ganz sicher nicht der Haufen der „Getreuen“, der „Taktiker“, „der Ratgeber“ und der anderen Anhänger. Nur Sharon weiß es – und vielleicht nicht einmal er.

Vielleicht wird Druck auf ihn ausgeübt, dem er nicht widerstehen kann. Vielleicht geschieht das Gegenteil, und er kann den Druck abwehren. Vielleicht übernimmt er den besiegten Likud. Vielleicht geht er eine Koalition mit der Laborpartei ein. Die Möglichkeiten sind fast unendlich.

Die wirkliche Gefahr liegt im Wesen von Sharons eigener Partei. Sie hat keine Ideologie außer Sharon. Kein Programm außer Sharon. Keinen Plan außer Sharon.

Dies ist eine Partei mit einem einzigen Chef, niemandem verpflichtet. Sein Wort ist ihr Befehl. Er allein wird die Kandidatenliste zusammenstellen. Er allein wird das Parteiprogramm entwerfen – das sowieso irrelevant sein wird, da Sharon jeweils alleine entscheiden wird.

Sharon ist niemals ein Demokrat gewesen. Von Anfang an hatte er für Parteien und Politiker eine tiefe Verachtung. Er war und blieb ein Fremdkörper in der Knesset. Von früher Jugend an war er davon überzeugt, dass er der Anführer des Volkes und des Staates werden müsse, da er - und nur er allein - in der Lage sei, sie vor dem Verderben zu retten. Er sah sich nicht als Vorsitzender, der an allen möglichen „demokratischen Unsinn“ gebunden sei, so wie Gulliver von den Liliputanern, sondern als frei Handelnder, von allen Fesseln frei, und fähig, seine historische Mission zu erfüllen: die Grenzen des Staates mit einem möglichst großen Gebiet festzulegen.

Er versteckt seine Absichten nicht, das politische System zu verändern und ein Präsidentenregime zu errichten. In Israel, einem Land, das weder eine Verfassung noch ein starkes Parlament wie der US-Kongress hat, bedeutet solch ein System eine Einmann-Regierung. Wenn es ihm gelingt, einen genügend großen Sieg bei den kommenden Wahlen zu erringen, wird er mit der Hilfe von ein paar bestochenen Gesetzesmachern in der Lage sein, die Gesetze des Landes zu verändern und selbst zu einem allmächtigen Präsidenten zu werden – für vier Jahre, für sieben Jahre oder auf Lebenszeit.

Diese Gefahr würde nicht so real sein, wenn die israelische Demokratie nicht ihre innere Stärke verloren hätte. Die Politiker werden von der Öffentlichkeit verachtet; die großen Parteien rufen Ekel hervor; politische Korruption ist sprichwörtlich geworden. In solch einer Krise verlangen die Menschen einen starken Mann. Der Mann von der Sycamore-Farm ist nur zu glücklich, sich hier verpflichten zu lassen.

Natürlich ähnelt Sharon keinem der großen Diktatoren der Ära zwischen den Weltkriegen. Wie es in der vergangenen Woche (ausgerechnet von einem Kommentator des rechten Flügels) schon angedeutet wurde, hat er viel mehr mit Juan Peron gemeinsam, dem argentinischen Diktator der 40er und 50er Jahre – einem General der Rechten in der Verkleidung eines Linken, ein ungebundener Autokrat, der allen demokratischen Überbleibseln ein Ende setzt.

Für den, der den Mann kennt, ist nur eines sicher: er wird niemals sein historisches Ziel aufgeben: so viel Land wie möglich mit so wenig Arabern wie möglich zu annektieren. Er hat den Abzugsplan mit äußerster Kraft durchgeführt – nicht um Frieden zu bringen, sondern um dieses Prinzip zu realisieren. Alles weitere ist „pragmatisch“ - und man sollte nicht vergessen, dass dieses Wort seine Wurzeln im griechischen „pragma“ hat, was „Tat“ bedeutet.

Nicht das Reden ist wichtig, sondern die Aktionen. Wenn man sich mit Sharon befasst, sollte man nicht auf seine Worte achten, sondern seine Hände genau beobachten. Und was seine Hände tun, mag völlig anders sein, als das, was sich unschuldige Linke vorstellen, jene, die nun mit geschlossenen Augen hinter dem Mann mit der Zauberflöte herlaufen.

(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs und vom Verfasser autorisiert)
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