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Antisemitismusdebatte und Israelkritik:
Keine »Sonderbehandlung«!

Uri Avnery

Wer Jude ist, bestimme ich!«, sagte der antisemitische Bürgermeister Wiens, Karl Lueger, vor hundert Jahren. Jetzt hat sich der Spieß umgedreht: »Wer Antisemit ist, bestimmen wir«.

Es ist für die Regierung Israels natürlich sehr bequem, jede Kritik an ihrer Politik im Ausland als antisemitisch zu stigmatisieren - auch wenn die Kritiker dasselbe sagen wie viele Israelis. Waren die 100.000 Israelis, die vor ein paar Wochen in Tel Aviv gegen Sharon protestierten und »Raus aus den besetzten Gebieten« forderten, alle Antisemiten?

Natürlich gibt es überall in Europa Antisemiten. Natürlich ist ihr Gedankengut ekelhaft. Natürlich versuchen sie, den jetzigen Sturm der Entrüstung gegen die Politik Sharons auszunutzen. Ist das ein Grund, jegliche Kritik zu tabuisieren?

Ich möchte mich nicht in die Debatte in Deutschland einmischen; ich weiß zu wenig über die Personen, die Hintergründe und die Aussagen. Ich möchte nur etwas Grundsätzliches dazu sagen. Wir Israelis wollen ein Volk wie alle Völker sein, ein Staat wie alle Staaten. Wir haben unsere eigenen Probleme, die mit den Problemen der Juden in anderen Ländern wenig zu tun haben. Es gibt viele eingefleischte Antisemiten auf der Welt und besonders in Amerika, die von Sharon begeistert sind. Es gibt viele ausgesprochene Philosemiten, die über seine Politik entsetzt sind. Wir müssen klar zwischen den beiden unterscheiden: Israel und den Juden in der Welt. Israel ist ein Staat mit geopolitischen Interessen, die Juden sind Bürger anderer Staaten und haben Interessen wie jede andere Gemeinde. Israel muss mit denselben moralischen Maßstäben wie jeder andere Staat gemessen werden. Jede »Sonderbehandlung« berührt mich unangenehm, auch wenn sie gut gemeint ist. Sonderbehandlung heißt ja, dass Juden anders behandelt werden müssen als andere Menschen und dass wir Israelis als Juden behandelt werden müssen. Beides stimmt nicht.

Dürfen Deutsche Israel kritisieren? Um Himmels willen, warum denn nicht? Das Schreckliche, was Deutsche den Juden vor 60 Jahren angetan haben, hat mit der heutigen israelischen Politik nichts zu tun. Daraus den Schluss zu ziehen, Deutsche müssten schweigen, wenn sie glauben, dass wir Unrecht begehen, ist unmoralisch. Das Vermächtnis des Holocaust sollte doch sein, dass gerade Deutsche mehr als andere gegen Unrecht auftreten, ganz egal, wo es passiert.

Man tut uns keinen Gefallen, wenn man uns nicht kritisiert. Wer einen Menschen liebt, darf und muss ihm die Wahrheit ins Gesicht sagen. Deutsche, die für die Existenz Israels sind, sollten die Ersten sein, diejenigen Israelis zu unterstützen, die in Israel für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen.

Man darf Israel also nicht nur kritisieren, meiner Ansicht nach muss man es sogar tun. Die Frage ist, von welchem Standpunkt aus übt man Kritik. Bejaht man das Existenzrecht Israels, oder zielt die Kritik darauf, dies Israel abzusprechen. Wenn man sein Land liebt, dann muss es auch gestattet sein, die Politik seiner Regierung zu kritisieren.

Natürlich gibt es Antisemitismus, aber ich warne davor, das mit Kritik an Israel gleichzusetzen. Dann wären wir, die politischen Gegner Sharons hier in Israel, übrigens auch alle Antisemiten. Nein, Antisemitismus hat Merkmale, die klar erkennbar sind, Kritik an Israel zu üben, gehört nicht dazu. All jene, die nur allzu leichtfertig überzogene Antisemitismusvorwürfe austeilen, vergessen die Gefahr, dass dann die wahren Antisemiten unerkennbar werden.

Auf keinen Fall darf der Holocaust für politische Zwecke missbraucht werden - weder von Israelis noch von denen, die Israel kritisieren. Dieser industrialisierte Völkermord eines modernen Staates ist einmalig, er ist mit nichts zu vergleichen. Wenn israelische rechtsradikale Demagogen behaupten, Arafat sei ein zweiter Hitler, so ist das genauso zu verdammen wie die Behauptung, Israel wende nazistische Methoden an. Es gibt kein Auschwitz im Nahen Osten, weder ein israelisches noch ein arabisches. Auch kein Dachau.

Jede Funktionalisierung des Holocaust zu politischen Zwecken ist also unbedingt abzulehnen. Man kann Israel vorwerfen, es führe einen Kolonialkrieg im Westjordanland, oder man kann es der Apartheid zeihen, man kann sehr viele schwere Vorwürfe formulieren. Israel aber beispielsweise vorzuwerfen, es wende Nazimethoden an, ist absurd. Der Holocaust war geschichtlich etwas Spezifisches, ihm fielen sechs Millionen Menschen zum Opfer.

Der palästinensische Intellektuelle Edward W. Said hat einmal gesagt, ein Araber könne sich nicht mit Israel auseinander setzen, wenn er den Holocaust nicht versteht. Araber haben allerdings ein verständliches Problem damit, denn der Holocaust wird in der israelischen Propaganda gegen die Palästinenser verwendet. Das führt natürlich leicht zur arabischen Gegenreaktion, den Holocaust zu verharmlosen oder zu leugnen. Mit europäischem Antisemitismus hat das allerdings nichts zu tun.

Ich glaube übrigens, dass Deutschland seine Vergangenheit noch nicht überwunden hat, daher dieser ungesunde Zustand, der jede normale Diskussion über den Palästinakonflikt in Deutschland unmöglich macht. Wenn ich Deutscher wäre, würde ich die Atmosphäre in meinem Land ablehnen, und ich hoffe, ich hätte den Mut, auch dann zu sagen, was ich hier und heute als Israeli vertrete.

Ich werde immer wieder von liberalen jüdischen Kreisen nach Deutschland eingeladen, nie jedoch vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Allerdings ist das nicht nur ein deutsches Phänomen, sondern in vielen Ländern so. Stets schweigen die organisierten jüdischen Gemeinden zu der Politik der israelischen Regierung, was de facto einer Zustimmung gleichkommt. Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist leider eine Filiale der israelischen Botschaft in Berlin. Das war nicht immer so. Zu Zeiten von Ignatz Bubis wurde noch Kritik an der israelischen Politik geübt. Doch der jetzige Zentralrat scheint - wie die israelische Botschaft in Berlin - nur ein Propagandainstrument der Regierung Sharons zu sein. Soweit ich weiß, haben diese Leute keinerlei Beziehung zu liberalen Strömungen in Israel, geschweige denn zur israelischen Friedensbewegung. Früher hatten auch israelische Botschafter manchmal eigene Meinungen, mit denen sie auch nicht hinter dem Berg hielten.

Meine Organisation Gush Shalom, der Friedensblock, führt schon seit Jahren einen Boykott gegen die Erzeugnisse der Siedlungen im Westjordanland und im Gazastreifen durch. So versuchen wir, die Siedlungspolitik zu stoppen. Doch die Erzeugnisse der Siedlungen werden auch nach Europa, auch nach Deutschland, exportiert. Dabei schließt der europäische Handelsvertrag mit Israel diese Produkte aus. Dennoch werden diese Produkte illegal nach Europa eingeschleust. Zwar versuchen die verantwortlichen Stellen seit Jahren, diesen Warenfluss zu verhindern, werden aber daran von den Außenministerien der europäischen Staaten, besonders Deutschlands, gehindert. Das heißt: Europa finanziert die Siedlungspolitik mit etwa 200 Millionen Dollar im Jahr. Deutschland und Europa finanzieren eine Entwicklung, die zum Unglück Israels beiträgt, weil sie den Frieden verhindert.

Ich habe Außenminister Joschka Fischer bereits mehrmals darauf angesprochen, immer ohne Erfolg. Auf einer Veranstaltung in Tel Aviv erwiderte er nur lapidar: »Ich bin der deutsche Außenminister.« Das heißt, er zieht sich darauf zurück, keine persönliche Meinung zu vertreten, sondern nur die Politik Deutschlands.

Eigentlich hätte doch jede deutsche Partei die Möglichkeit, die wirkliche Situation in Israel und Palästina zur Kenntnis zu nehmen. Sie haben jedoch alle Angst davor, als antisemitisch bezeichnet zu werden. Allerdings ist diese Befürchtung auch begründet.

Ich glaube jedoch, dass das Phänomen Antisemitismus im Europa von heute - wohl in der Erinnerung an die Vergangenheit - gelegentlich überschätzt wird. Der Antisemitismus ist heute in Europa nicht mehr so eine große Gefahr wie früher. Hinter jeder Ecke Antisemiten zu sehen, ist weder hilfreich noch gesund.

Kein Mensch auf der Welt braucht zwischen Israel und Palästina zu wählen. Man kann - und soll - für beide sein. Die wahren Interessen Israels und Palästinas stehen nicht im Widerspruch, denn beide Völker brauchen Frieden. Die Eskalation der Gewalt und die gegenseitigen Gräueltaten, die täglich begangen werden, können uns alle ins Unglück stürzen. Um zu einer vernünftigen Lösung zurückzukommen, brauchen wir, Israelis und Palästinenser, die Unterstützung Europas, auch Deutschlands, für eine Politik der Versöhnung und des Ausgleichs. Wer eine der beiden Seiten, Israel oder Palästina, einseitig und bedingungslos unterstützt, hilft keinem.

Wer Israel in diesem Sinne, aus dieser Gesinnung heraus, kritisiert, tut eine gute Tat. Ihn als Antisemiten zu beschimpfen, ist gemein und auch schädlich, denn damit bagatellisiert man den Antisemitismus. Wirkliche Antisemiten sind leicht zu erkennen. Sie haben einen Stil, der unverkennbar ist. Es ist eine Art kollektiver Geisteskrankheit, die mit Logik nichts zu tun hat. Man kann ja Juden hassen, weil sie zu arm oder zu reich sind, weil sie auffallen oder sich verstecken, weil sie angeblich Jesus gekreuzigt haben oder den Ariern die christliche Mitleidsmoral aufgezwungen haben. Was hat das alles aber mit Israel zu tun?

Wenn ein Araber glaubt, die Antisemiten seien seine Freunde, dann irrt er sich gewaltig. Das Wort »Antisemitismus« ist nur wenige Jahre vor dem Wort »Zionismus« geprägt worden. Der Zionismus war eine klare Reaktion auf den modernen europäischen Antisemitismus, und die russischen Pogrome haben die ersten Siedler nach Palästina getrieben. Der Holocaust hat die Errichtung des Staates Israel schließlich beschleunigt und vielleicht erst möglich gemacht. In den letzten Jahren hat auch der russische Antisemitismus eine Million Einwanderer nach Israel gebracht, wo viele von ihnen in den besetzten Gebieten auf enteignetem palästinensischem Boden angesiedelt worden sind. Jetzt wird der erneute Antisemitismus wieder Juden aus Frankreich und vielleicht auch aus Deutschland nach Israel bringen. Der Antisemitismus ist der Feind der Juden. Er ist aber auch ein Feind der Araber.

Internationale Intervention

Ersch. in "Ein Leben für den Frieden: Klartexte über Israel und Palästina", 3. Juni 2002
(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs und vom Verfasser autorisiert) uri-avnery.de / avnery-news.co.il
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