Verhaftung der Führer der islamischen
Bewegung in Israel:
Die Zähne der Kinder
Uri Avnery
Eines der progressivsten jüdischen
Prinzipien des Alten Testamentes kommt nun auf den Prüfstein: "In jenen
Tagen wird man nicht mehr sagen: die Väter haben saure Trauben gegessen, und
den Kindern sind die Zähne stumpf geworden, sondern ein jeder wird um seiner
Schuld willen sterben, und wer saure Trauben gegessen hat, dem sollen seine
Zähne stumpf werden." (Jeremia 31, 29) Der Selbstmordattentäter tötet
sich selbst. Sollen seine Waisen deshalb bestraft werden?
Die israelische Besatzungsarmee sagt: "Ja,
tatsächlich! Außerdem ist jeder, der diesen Kindern hilft, ein Krimineller,
ein Komplize, ein Unterstützer des Terrors. Wenn der potentielle
Selbstmordattentäter weiß, dass seine Familie nach seinem Tod hungern wird,
wird er möglicherweise davor zurückschrecken, seine Tat auszuführen. Aber
wenn er weiß, dass jemand sich um seine Familie kümmern wird, dann wird er
in seiner Bereitschaft, ein Märtyrer zu werden, bestärkt.
Das heißt also: "Die Väter haben saure Trauben
gegessen und die Zähne der Kinder werden stumpf werden. Jeder soll für die
Missetaten seines Vaters sterben, und die Zähne der ganzen Familie sollen
darunter leiden."
Vor noch nicht langer Zeit wurde nach dieser
Logik gehandelt. Als Stalins Geheimpolizei einen Mann als "imperialistischen
Spion" verhaftete, wurde die Familie auseinandergerissen.
Die Frau wurde in den Gulag geschickt, und die
Kinder kamen in die Waisenhäuser der Partei. Die Nazis schufen den Begriff
"Sippenhaft", was bedeutete, dass die ganze Familie für die Taten von einem
Familienmitglied verantwortlich gemacht wurde. Bis jetzt wurden solche
Methoden den totalitären Regimen angelastet.
Selbst wenn diese Methode wirksam wäre, und
die Frauen und Kinder der Selbstmordattentäter hungern und andere
abschrecken würde, müssen wir dazu nein sagen. Wir können unserm Staat nicht
erlauben, sich so zu verhalten; so wie wir auch keine Geiseln nehmen und sie
erschießen oder die Leichen der Selbstmordattentäter in Schweinehaut hüllen,
wie von einigen vorgeschlagen wurde (um zu verhindern, dass sie ins Paradies
gelangen). In der Endanalyse wäre das auch nicht klug. Die Propheten Israels
waren keine Dummköpfe.
Und nun zum vorliegenden Fall: In dieser Woche
wurden die Führer der islamischen Bewegung ("nördlicher Zweig") in Israel
verhaftet. Der riesige Propagandaapparat der Armee und des
Sicherheitsdienstes, der alle unsere Medien kontrolliert, klagt sie an, "dem
palästinensischen Terrorismus zu helfen".
Zwei Tage später gebiert der Berg eine Maus
(wie man im Hebräischen sagt). Die Hauptanklage gegen die Islamisten war,
dass sie Familienmitglieder von Selbstmordattentätern und andern "Märtyrern"
unterstützten. Der verantwortliche Polizeioffizier erklärte, dass es,
abgesehen davon, keine offensichtliche Unterstützung des Terrorismus gebe.
Alles in allem, das angeblich entdeckte Vergehen war wirtschaftlicher Natur,
wie etwa Geldwäsche. "Wirtschaftliche Vergehen" - und deshalb solch eine
riesige Operation!
Die Verhaftungen wurden wie eine
Militäroperation gegen einen gefährlichen Feind ausgeführt. Mitten in der
Nacht rollte ein Convoy mit 800 Polizisten in die Stadt Um-al-Fahem hinein,
begleitet von einer Kompanie von Reportern und Photographen. Polizisten in
kugelsicheren Westen umstellten die Häuser der "Verdächtigen", alles
angesehene, bekannte Persönlichkeiten. Scharfschützen standen bereit, als
die Polizisten in die Wohnungen einbrachen und die Führer aus den Betten
zerrten.
Der Höhepunkt der Operation war die Verhaftung
des Leiters der Bewegung, Scheich Raed Salah. Sein Vater lag im Krankenhaus
im Sterben, der Scheich lag neben ihm, um ihm in seinen letzten Stunden
beizustehen. Der Polizist weckte ihn auf und nahm ihn, der nur mit
Unterwäsche bekleidet war, mit zu den wartenden Photographen, wie wir dies
im Fernsehen sehen konnten. Falls sie ihn demütigen wollten, so war ihnen
das misslungen. Die würdige Haltung des Scheichs war für die Polizisten eine
Schande. Der Vater starb ein paar Stunden später - allein.
Ich muss hier offen sagen, dass ich nicht ganz
objektiv bin, was Scheich Raed betrifft. Vor zehn Jahren, im Winter 1993,
hatten wir, nachdem 415 islamische Aktivisten von Yitzak Rabin vertrieben
und im Niemandsland des libanesischen Grenzgebietes gelassen wurden,
Protestzelte gegenüber dem Büro des Ministerpräsidenten aufgestellt. Mit uns
im Zelt war Scheich Raed. 45 Tage und Nächte lang in bitterer Kälte im von
Schnee bedeckten Jerusalem lebten wir - meine Frau Rachel und ich und eine
wechselnde Zahl von jüdischen und arabischen Gästen - zusammen mit dem
Scheich und seinen Anhängern. Wir verbrachten Hunderte von Stunden im
Gespräch über alles in der Welt. Und der Scheich brachte uns den Koran und
den Islam nahe, besonders seine tolerante Seite.
Ich gebe zu, dass uns der Scheich, der damals
34 Jahre alt war, sehr gefiel. Ungleich dem Stereotyp eines religiösen
Extremisten hatte er viel Humor. Er ist ein weiser Mann. Im alltäglichen
Leben war er freundlich, höflich und bescheiden. Ich war beeindruckt von
seinem Führungsstil. Früh am Morgen stand er auf, machte rund um die Zelte
sauber. Seine Männer schlossen sich ihm schnell an. Keine Befehle, keine
Bitten.
Das bedeutet natürlich nicht, dass ich seine
Ideen akzeptierte. Ich weise jedes religiöse Regime zurück. Ich unterstütze
die totale Trennung von Religion und Politik, von Kirche (Moschee, Synagoge)
und Staat. Religiöser Fanatismus ist für mich völlig fremd. Das hindert mich
nicht daran, Raed Salah zu mögen. Ende der persönlichen Bemerkung.
Die Solidarität der arabischen Bürger Israels
mit ihren Verwandten in den palästinensischen Gebieten bei ihrem Kampf gegen
die Besatzung scheint mir ganz normal zu sein. Ich verstehe ihre Gefühle und
ihren Wunsch, humanitäre Hilfe zu leisten. Um so mehr, als auch Gush Shalom,
dem ich angehöre, aus Solidarität Geld sammelt und Nahrungsmittel in die
belagerten Dörfer und Flüchtlingslager bringt. Auch dies könnte als "Hilfe
für Terroristen" ausgelegt werden - wer sind wir denn im Grunde, der ihren
Hunger stillen möchte, wenn die Armee die Bevölkerung durch Hunger zur
Kapitulation zu bringen wünscht?
Klar ist, dass dies nur Vorwände sind. Man
schickt nicht 800 Polizisten nur deshalb, damit Kinder kein Brot bekommen
oder um Leute wegen Geldwäsche zu verhaften. Was war also das wirkliche
Ziel?
Mit aller Kraft ist die Sharon-Regierung jetzt
mit dem Kampf beschäftigt, das palästinensische Volk als nationale Einheit
zu zerstören. Die Wiedereroberung der Westbank und des Gazastreifens, die
Erweiterung der Siedlungen in rasendem Tempo, der Bau der "Trennungsmauer",
die etwa die Hälfte des Westbankgebietes abtrennen wird, die täglichen
Attentate und das andere Töten, das Aushungern der Bevölkerung, die
Zerstörung der Häuser in großem Stil und den Bau der Umgehungsstraßen - all
dies bedeutet, das palästinensische Volk zur Unterwerfung zu bringen und
seinen Widerstandswillen zu brechen.
Sharon eröffnet nun eine zweite Front. Die
1,25 Millionen Palästinenser, die israelische Bürger sind, waren bis jetzt
nicht direkt engagiert. Eine Menge von Erklärungen der Unterstützung für
ihre Landsleute jenseits der Grünen Linie, einige humanitäre Aktionen, hier
und da einige Individuen, die aktiv den Attentätern halfen. Alles in allem,
sehr wenig - unter diesen Umständen.
Sharon ist dabei, dies zu ändern. Der Angriff
auf die islamische Bewegung ist der Anfang eines konzentrierten Angriffes,
der die "israelischen Araber" mit in den blutigen Kampf zieht. Das Rückgrad
dieser Bevölkerung zu brechen, geht dahin, die Palästinenser tiefer in die
Verzweiflung zu treiben. Da passt es natürlich gut, mit dem nördlichen Zweig
der islamischen Bewegung zu beginnen, weil sie von der jüdischen
Öffentlichkeit am weitesten weg ist. Sie nimmt nicht an den Knessetwahlen
teil. Es ist leicht, Verdächtigungen zu schaffen und sie anzugreifen.
Aber lassen wir keinen Zweifel aufkommen:
falls diese Operation gelingt, werden alle anderen Teile der arabischen
Bevölkerung, von Azmi Bishara bis Hadash folgen. Der Versuch kürzlich, sie
aus der Knesset auszuschließen, war nur der Anfang. Danach sind womöglich
die israelischen Friedenskräfte dran, die die Errichtung eines lebensfähigen
palästinensischen Staates in allen besetzten Gebieten unterstützen.
Machen wir uns keine Illusionen: Sharons
Endziel ist, das ganze Land vom Mittelmeer bis zum Jordan in einen jüdischen
Staat zu verwandeln, in einen ausschließlich jüdischen Staat. Bei dieser
Vision gibt es keinen Platz für Araber, weder in den besetzten Gebieten noch
in Israel selbst. Jeder, der gegen diese Vision opponiert, ist - falls ein
Araber - ein Feind oder - falls ein Jude - ein Verräter.
Paradoxerweise ist deshalb der Kampf um
Scheich Raed, den religiösen Extremisten, auch ein Kampf um die Zukunft
Israels als demokratischer, säkularer und liberaler Staat.
(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
To discus this article:
hagalil.com/forum
Die israelischen Araber zur Verhaftung Raeds:
Öl
aufs Feuer schütten
Die Frustration und die Hoffnungslosigkeit sind die größte
sicherheitspolitische Gefahr für uns alle, Juden und Araber. Mit den
Verhaftungen wird Öl aufs Feuer geschüttet...
haNegbis Ge'ulah:
Notfalls
mit Gewalt
Eine gewaltsame Rückkehr auf den Tempelberg wird zu einer Explosion
führen...
Ra'ad Salah verhaftet:
Was will die "islamische
Bewegung" wirklich?
Der Bewegung wird vorgeworfen, bei arabischen Israelis gesammelte Gelder
über die Hamas an die Familien von Selbstmordattentätern weitergeleitet zu
haben...
hagalil.com 21.05.03 |