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Warum ich meine Meinung änderte

Ich bin optimistisch, wie ich mein ganzes Leben lang optimistisch war. Die Ideen, für die ich gekämpft habe – dass es nötig sei, die Existenz des palästinensischen Volkes anzuerkennen, dass ein palästinensischer Staat neben Israel nötig sei und dass es auch nötig sei, mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation zu verhandeln – haben sich auf der ganzen Linie durchgesetzt.
Wir sind hier und wir werden bleiben. Die Palästinenser sind hier und sie werden hier bleiben. Sie werden uns nicht auslöschen, und wir werden sie nicht auslöschen. Die Idee der ethnischen Säuberung ist ein wahnsinniger Alptraum.

Uri Avnery

Vor noch nicht langer Zeit wurde ich in einem Interview von einem Europäer gefragt: "In Ihrer Jugend waren Sie Mitglied im rechtsradikalen Irgun. Jetzt gehören Sie zum linken Friedenslager. Wann haben Sie die Wandlung vom einen Extrem ins andere vollzogen? In welchem Augenblick geschah dies?"

Er was sehr enttäuscht, als ich ihm erzählte, dass es keinen solchen dramatischen Augenblick gäbe. Es gab keinen Sprung, wie Nachsons Sprung ins Rote Meer.

Ich habe mich um meinen 15. Geburtstag herum beim IRGUN eingeschrieben. Ich war ein unabhängiger Junge, der schon arbeitete und seinen Lebensunterhalt verdiente, und hatte eine konkrete Meinung: die britische Regierung müsse aus dem Land Israel vertrieben werden. Es war in der Zeit der "Unruhen" (wie wir den arabischen Aufstand jener Zeit nannten) und der Politik der "Zurückhaltung", die von den damaligen Führern des Yishuv (vorstaatliche jüdische Gemeinschaft in der ottomanischen und britischen Mandatszeit) praktiziert wurde - sie passte nicht zu meinem Temperament. Dies brachte mich zur extremsten Untergrundbewegung, die es damals gab.

Als ich dem Aufnahmekomitee - durch Scheinwerferlicht geblendet - gegenüber saß, fragte man mich, ob ich Araber hasse. Ich sagte: "Nein!" und fühlte, wie sich Schweigen durch den sonst dunklen Raum ausbreitete. Dann fragte man mich, ob ich die Engländer hasste. Wieder antwortete ich mit "Nein!" Und wieder war ein erstauntes Schweigen zu spüren. Aber sie nahmen mich in den Irgun auf.

Doch der Weg vom Irgun bis zu haOlam haseh ("Diese Welt" – die Zeitung, die Avnery gründete und herausgab), die die Errichtung eines palästinensischen Staates neben Israel predigte, erscheint mir ganz natürlich.

Derselbe Interviewer fragte nach, wie das denn sein könne. Ich erklärte es ihm. Ich bin ein nationaler Individualist. Ich glaube, dass es im augenblicklichen Stadium der menschlichen Gesellschaft das Bedürfnis des einzelnen ist, zu einer nationalen Gruppe zu gehören. Es ist ein natürliches Kennzeichen. Jeder hat das Bedürfnis, irgendwo "dazu zu gehören". Er möchte Teil einer Nation sein, auf die er stolz sein kann und die ihn verteidigt. Genau so fühlte ich als junger Mensch – und das brachte mich zum Irgun.
Eine national eingestellte Person ist aber nicht chauvinistisch. Eine chauvinistische Person sagt: "Wir und niemand anders. Mein Volk auf Kosten eines anderen – wir "über allen".
Unter einer national eingestellten Person verstehe ich, dass sie sich nicht nur ihrer eigenen nationalen Identität bewusst ist, sondern dass sie auch die nationale Identität der anderen respektiert.
Ich verließ den Irgun, als mir klar wurde, dass er gegenüber den nationalen Rechten des palästinensischen Volkes total unsensibel war und nicht einmal ihre Existenz anerkannte.

Als junger Mensch der damaligen Zeit bewunderte ich die analytische Fähigkeit von Zeev Jabotinsky, der in seinem Artikel "Die eiserne Mauer" die Existenz der arabisch-palästinensischen nationalen Entität anerkannte und sogar die zionistischen Führer verspottete, die sie ignorierten. Doch konnte ich seine Lösung, den palästinensischen Widerstand mit Gewalt zu brechen, nicht akzeptieren.
Ich wurde auch reifer. Was für mich im Alter von 15 richtig erschien, erschien mir im Alter von 20 Jahren als falsch. Nachdem ich den Irgun verlassen hatte, stellte ich mich der Realität, wie ich sie sah: in diesem Land gibt es zwei nationale Gruppen, und jede sah das ganze Land als ihre Heimat an. Die zionistische Bewegung leugnete natürlich, dass es ein arabisch-palästinensisches Volk gab. Des Dichters Yonathan Ratoshs "Kanaaniter" leugneten auch die Tatsache der Existenz des arabischen Nationalismus im Allgemeinen und des palästinensischen Nationalismus im Besonderen. Die wenigen, die das Problem erkannten, schlugen einen "binationalen Staat" vor, eine Lösung, an die ich damals nicht glaubte und an die ich auch heute nicht glaube.

Damals entwickelte ich eine andere Idee. Wenn es zwei nationale Gruppen gibt, die dieses Land als ihre Heimat ansehen, warum sollte man sie nicht in eine einzige nationale Bewegung einbinden, die auf der Liebe zu diesem Land basiert? Warum nicht ein gemeinsames Erziehungssystem errichten, in dem die Schüler lernen, sich mit der Geschichte dieses Landes in allen seinen Perioden zu identifizieren – den Kanaanitern und den Israeliten, den Griechen und Römern, den Arabern und Kreuzfahrern, den Mamelucken und Ottomanen bis zur hebräischen und palästinensischen Nationalbewegung unserer Zeit?
Diese Idee war das Ergebnis meiner Überzeugung, dass wir in diesem Land eine neue Nation, eine hebräische Nation, bilden. Aber nicht wie die "Kanaaniter" von Ratosh - dachte ich - sollten wir unsere Verbindung zur jüdischen Diaspora leugnen. Im Gegenteil - dachte ich - die neue hebräische Nation gehöre zum jüdischen Volk, aber als ein unabhängiger und besonderer Teil. Darüber hatte ich schreckliche Streitgespräche mit Ratosh, der danach bis zu seinem Tode nicht mehr mit mir sprach.

Ich dachte, unsere Nationalgeschichte müsste mit dem Land verbunden sein, statt durch die Welt von Pogrom zu Pogrom zu wandern, und die palästinensische Nationalgeschichte müsste auch mit dem Land verbunden sein, statt in die arabische Halbinsel abzuwandern. So würden wir uns in einer gemeinsamen nationalen Bewegung vereinigen und gemeinsam für die Befreiung des Landes von den Briten kämpfen und für unser gemeinsames Leben hier. Dies war eine gewagte Idee fast ohne Präzedenz (die Schweiz vielleicht). Aber damals glaubten wir, wir könnten alles, wenn wir es nur wollten.

Diese Ideen waren die Basis für eine ideologische Gruppe, die ich damals zusammen mit Amos Elon, Michael Almaz u.a 1946 gründete. Sie wurde offiziell auf Hebräisch "Junges Land Israel" genannt (auf arabisch "Falastin al Fattat"), war aber allgemein als Kwuzah baMaawak (Kampfgruppe) nach dem Titel unserer Veröffentlichung bekannt, die in dem damaligen kleinen Jischuw ein riesiges, meist negatives Aufsehen erregte. Der Schriftsteller Moshe Shamir, der damals ein extremer Marxist war (später wurde er Faschist), nannte sie mit einem hebräischen Wortspiel "Bamat Avak" (Dreckbühne).

Der 1948er-Krieg veränderte alles. Mit Bedauern gab ich die Idee einer gemeinsamen Nationalbewegung auf. Als Soldat bei den Spezialoperationen der Samsonfüchse-Einheit stand ich der Realität des palästinensischen Volkes gegenüber. Ich war Zeuge, wie die Nakba (der pal. Ausdruck für ihre Katastrophe von 1948) geschaffen wurde. Als ich am Ende des Krieges verwundet wurde und im Krankenhaus lag, hatte ich viel Zeit, über die neue Situation nachzudenken. Ich fasste ein paar klare Beschlüsse, die mich seitdem geleitet haben:
1. die Existenz des palästinensischen Volkes ist eine unumstößliche Tatsache.
2. die Teilung des Landes ist eine irreversible Tatsache.
3. Wir werden niemals Frieden und Sicherheit erlangen, wenn es neben unserm neuen Staat Israel keinen palästinensischen Staat gibt.

Ich glaube nicht, dass die Idee der zwei Staaten - was heute internationaler Konsens ist - damals zwei Dutzend Anhänger in Israel oder der ganzen Welt hatte. Ich schrieb und sprach hunderttausend Wörter darüber, besonders in Ha’aolam Hazeh und in der Knesset. Am 5. Tag des Sechs-Tage-Krieges schlug ich dem Ministerpräsidenten Levi Eshkol vor, er möge sofort Schritte unternehmen, damit ein palästinensischer Staat in der Westbank und im Gazastreifen errichtet werde. In den folgenden Jahren nahm ich an Gründungen mehrerer Organisationen teil, die diese Idee verbreiteten.

Bei all den Plänen, bei denen ich von damals bis jetzt aktiver Teilnehmer war, schloss die Zwei-Staatenlösung das Prinzip ein, dass die Grenze zwischen dem Staat Israel und dem Staat Palästina offen bleiben solle. Sogar als Gush Shalom 1995 den Slogan "Jerusalem – Hauptstadt zweier Staaten" in enger Zusammenarbeit mit Feisal Husseini prägte, bestanden wir darauf, dass Jerusalem physisch vereint bleibe und es keine Mauern und Stacheldrahtzäune in ihr geben solle.
Deshalb bin ich ganz und gar gegen den Trennungszaun. Ich hätte ihn selbst dann abgelehnt, wenn er genau auf der Grünen Linie (Grenze von vor dem 1967er-Krieg) errichtet worden wäre. Ich denke, dass allein die Idee einer Mauer dem Geist des Friedens zuwider läuft, ohne den kein tatsächlicher Frieden entsteht. Doch vor kurzem bin ich davon überzeugt worden, dass ich hier eine taktische Konzession machen muss. Es ist unmöglich, die reale Angst vor Selbstmordattentaten zu ignorieren, an der die israelische Öffentlichkeit leidet. Deshalb bin ich jetzt bereit, die Errichtung eines Mauerzaunes als ein absolut vorübergehendes Mittel auf der Grünen Linie – unter der Bedingung, dass er nirgendwo ins Gebiet der Westbank eindringt – zu unterstützen.

Ich denke, dass es möglich ist, den größten Teil der israelischen Öffentlichkeit davon zu überzeugen. Ich bin optimistisch, wie ich mein ganzes Leben lang optimistisch war. Die Ideen, für die ich gekämpft habe – dass es nötig sei, die Existenz des palästinensischen Volkes anzuerkennen, dass ein palästinensischer Staat neben Israel nötig sei und dass es auch nötig sei, mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation zu verhandeln – haben sich auf der ganzen Linie als siegreich erwiesen. Nachdem alle Mauern und Zäune gefallen und all die falschen Zaubertricks des Ministerpräsidenten Ariel Sharon und seinesgleichen zusammengebrochen sind, wird eine grundlegende, wichtige und entscheidende Tatsache bleiben: wir sind hier und wir werden bleiben. Die Palästinenser sind hier und sie werden hier bleiben. Sie werden uns nicht auslöschen, und wir werden sie nicht auslöschen. Die Idee der ethnischen Säuberung ist ein wahnsinniger Alptraum.

Doch werden wir nicht in der Lage sein, in einem miteinander geteilten binationalen Staat zusammen zu leben – eine Utopie, die in der Realität nach all dem, was während der letzten 120 Jahre zwischen uns geschehen ist, keine Grundlage hat. Neuerdings hat mich diese Position zum Ziel von Attacken jener Kreise in Israel und Europa gemacht, die an der Zwei-Staatenlösung verzweifelt sind und zur Idee des binationalen Staates zurückkehrten. Aber die Israelis werden nicht damit einverstanden sein, dass ihr Staat aufgelöst wird, und die Palästinenser werden nicht auf die Errichtung ihres Staates verzichten wollen. Das ist Teilen der europäischen Linken nicht klar, die meint, dass nach 50 Jahren Frieden die nationalistische Ära verschwunden sei. Hier und da werde ich als israelischer Nationalist beschuldigt. In Berlin erzählte ich einmal einem Auditorium: "Wenn ihr und die Franzosen eure beiden Staaten auflöst und einen einzigen errichtet – dann werden wir es auch tun."

Es gibt nur eine praktische Lösung: Israel und Palästina, zwei Staaten für zwei Völker, jeder mit seiner eigenen Flagge und seiner eigenen Regierung. Im Laufe der Jahre wird man sich auf natürliche Weise näher kommen.
Wenn die ganze Welt über den engstirnigen Chauvinismus einmal in eine neue internationale Ordnung hinauswachsen wird, werden auch wir zweifellos in der vordersten Reihe stehen.

Es muss klar gestellt werden: Chauvinismus ist der Feind einer Nation, wie ein wachsendes Krebsgeschwür. Er führt für sich selbst nationale Flaggen und Symbole ein, um die Nation von innen zu zerstören. Genau das tat der Faschismus in Europa. Dies geschah in vielen Ländern in Asien und Afrika. Deshalb gibt es viele prächtige Menschen, die sich schämen, ihre nationale Identität zu zeigen. Doch das ist eine falsch verstandene Auffassung.
Ich wünsche mir eine Veränderung, was Israel betrifft. Es sollte ein humaner, säkularer, demokratischer, pluralistischer, egalitärer, liberaler, anti-rassistischer Staat sein mit hebräischer Mehrheit, aber einer, in dem alle seine Bürger wirkliche Partner sind, ein Staat der in Frieden lebt und der gegenüber der Welt offen ist - ein Staat, auf den ich stolz sein kann.

Ich warte auf eine Situation, in der ich wieder aufrecht und erhobenen Hauptes sagen kann: ich bin ein Israeli.

(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs und vom Verfasser autorisiert)
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hagalil.com 28-11-2004

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