Uri Avnery
Nach den Wörtern "Intifada" (Abschütteln) und "Shahid" (Märtyrer)
findet ein neuer arabischer Terminus den Weg in das Weltvokabular: "Hudna"
(Waffenstillstand).
Nach islamischer Tradition erinnert dieses Wort an ein historisches
Ereignis. Der 1. islamische Waffenstillstand wurde (nach christlicher
Zeitrechnung) im Jahr 628 in Hodaibiya im Laufe von Mohammeds Krieg gegen
den heidnischen Fürst von Mekka geschlossen. Nach einer Version, die jetzt
in Israel die Runde macht, brach Mohammed den Waffenstillstand und eroberte
Mekka. Folglich: Vertraut den Arabern nicht, habt auch kein Vertrauen in die
Hudna!
In den arabischen Geschichtsbüchern wird dasselbe Ereignis völlig anders
dargestellt. Die Hudna erlaubte den Anhängern des neuen Glaubens, Mekka zu
betreten, um zum Heiligen Stein zu pilgern. Die Pilger nützten die
Gelegenheit, um andere zu bekehren. Als die meisten Bürger den Islam
angenommen hatten, betrat Mohammed fast ohne Blutvergießen die Stadt, er
wurde sogar mit offenen Armen empfangen. Also: Schon in ihrer frühesten
Geschichte war den Muslimen klar, dass Überzeugung besser ist als Gewalt.
Hier liegt die Antwort auf die Fragen, die jetzt gestellt werden: wird die
Hudna eingehalten? Wird sie nach den anfänglichen 3 Monaten weitergeführt?
Wird es Arafat und Abu Mazen gelingen, die Hamas auch dafür zu gewinnen?
Die Antworten sind völlig von der Stimmung der palästinensischen Bevölkerung
abhängig. Wenn sie die Hudna will, wird sie eingehalten. Wenn sie die Hudna
aber nicht will, wird sie gebrochen. Die Hamas möchte die allgemeine
Sympathie durch das Brechen der populären Hudna nicht verlieren. Im
Gegenteil, sie möchte eine größere Rolle im zukünftigen palästinensischen
Staat spielen. Doch wenn die Bevölkerung zu der Folgerung kommt, dass die
Hudna keine Früchte bringt, dann wird Hamas die erste sein, die sie brechen
wird.
Wovon hängt dies ab? Wenn die Hudna dem Volk einen größeren politischen
Fortschritt und eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität des einzelnen
mit sich bringt, wird sie populär und wird Wurzeln fassen.
Das ist logisch und entspricht meinen eigenen persönlichen Erfahrungen. Ich
habe in diesen Kolumnen schon manchmal erwähnt, dass ich in meiner frühen
Jugend ein Mitglied einer Befreiungs- und/oder Terrororganisation war (die
Definition hängt vom Standpunkt des jeweiligen Betrachters ab). In jener
Zeit lernte ich, dass solch eine Organisation öffentliche Unterstützung
benötigt und nicht ohne sie operieren kann. Sie braucht Geld,
Propagandamittel, Verstecke, neue Mitglieder. Für eine Organisation wie die
Hamas, die auch politische und soziale Ambitionen hat, ist Popularität
doppelt wichtig. So lange die Hudna populär ist, wird sie an ihr festhalten.
Das ist in erster Linie ein Test für Abu-Mazen. Was kann er tun, um die
Hudna populär zu machen?
Er muss die großzügige Freilassung palästinensischer Gefangener
sicherstellen, die Verbesserung der verheerenden Lebensbedingungen; den
Rückzug der israelischen Armee aus den Städten und Dörfern; die Entfernung
der Checkpoints, die das Leben der Palästinenser unerträglich machen; die
Wiederherstellung der Bewegungsfreiheit, um zu den Stadtzentren, den
Arbeitsplätzen, Krankenhäusern, Universitäten zu gelangen; eine Beendigung
der "gezielten Tötungen", Abschiebungen, Zerstörung von Häusern und
Fruchtbäumen; das Einfrieren der Bautätigkeit in den Siedlungen und ein
Stopp des "Zaun"-Baus, der einen großen Teil des palästinensischen Landes
frisst.
Sollte es in diesen Dingen keinen Fortschritt geben, wird die Hudna
zusammenbrechen. Sollte dies geschehen, wird das israelische Militär und das
politische Establishment dem keine Tränen nachweinen. Dort war die Hudna
ziemlich zähneknirschend begrüßt worden, als ob sie von irgendeiner
feindlichen Macht auferlegt worden sei. Tatsächlich kam sie unter direktem
amerikanischem Druck zustande. Die israelischen Medien, die inzwischen
weitgehend zu Mitteilungsblättern des "Sicherheitsapparates" geworden sind,
nahmen die Hudna einstimmig, wie durch einen Befehl, mit Kommentaren wie:
"Die hat doch keine Chance - die wird nicht lange halten" hin. Prophezeiung,
die sich selbst herbeiführen könnten.
Das Armee-Kommando war gegen den Waffenstillstand. Wie immer erklärten die
Offiziere, dass der Sieg nur noch hinter der nächsten Ecke liege, dass nur
noch ein letzter entscheidender Schlag nötig sei.
Genau dies, sogar mit denselben Worten, wurde von den französischen
Generälen gesagt, die gegen die Beendigung des Krieges in Algerien waren,
und von den amerikanischen Generälen, als Nixon in Vietnam aufgab. Dies
wurde von den russischen Generälen in Afghanistan gesagt, und nun sagen sie
dasselbe in Tschetschenien. Sie sind immer gerade dabei, den Sieg zu
erringen. Es fehlt ihnen immer nur noch einen einzigen Schlag. Und es sind
immer die korrupten Politiker, die den Dolch in ihren Rücken stoßen und so
die Niederlage verursachen.
Die Wahrheit aber ist, dass die Armeekommandeure eine klägliche Niederlage
erlitten haben. Klar, sie hatten viele kleine Erfolge, aber sie haben ihr
Hauptziel verfehlt: den Willen des palästinensischen Volkes zu brechen.
Anstelle eines jeden "lokalen Führers", der gezielt liquidiert wurde, traten
zwei neue. Die "terroristische Infrastruktur" wurde nicht zerstört, weil es
kein Mittel gibt, sie zu zerstören. Sie besteht nämlich nicht aus
Waffenwerkstätten und Führern, sondern aus der allgemeinen Unterstützung und
der Zahl der Jugendlichen, die bereit sind, ihr Leben zu riskieren und zu
opfern.
Nach 1000 Tagen wurde trotz des Tötens und der Zerstörung der
palästinensische Widerstandsgeist nicht gebrochen, die Kampffähigkeit nicht
zerstört. Das palästinensische Volk hat die Forderungen, die es in Camp
David und Taba zum Ausdruck brachte, nicht aufgegeben. Zu Beginn dieser
Intifada gab es ein paar Freiwillige für Selbstmordattentate; zuletzt
standen Hunderte bereit.
Auch die Palästinenser haben nicht gewonnen. Sie haben zwar bewiesen, dass
sie nicht auf die Knie gezwungen werden können. Sie verhinderten, dass die
palästinensische Sache von der Weltagenda gestrichen wurde.
Die israelische Wirtschaft ist schwer angeschlagen. Die Intifada hat
Schatten auf das tägliche Leben in Israel geworfen. Viele der Akte, die von
Israelis als kriminell betrachtet werden, werden von den Palästinensern als
heldenhafte Taten angesehen. Die Zerstörung israelischer Panzer, die
Eliminierung eines großen Kontrollpunktes durch einen einzigen
Scharfschützen, der Angriff durch ein palästinensisches Kommando, das unter
der "Trennungsmauer" durchkroch - solche Akte haben die Palästinenser mit
Stolz erfüllt. Und allein die Tatsache, dass der palästinensische David
weiterhin dem mächtigen israelischen Goliath standhält und trotzt, ist für
die palästinensische Seite eine erstaunliche Leistung, die den kommenden
Generationen stolz weitergegeben werden wird.
Es ist den Palästinensern aber nicht gelungen, ihren Willen gegenüber Israel
durchzusetzen - genau so wenig, wie es Israel nicht gelungen ist, seinen
Willen gegenüber den Palästinensern durchzusetzen.
Die Israelis sind, genau wie die Palästinenser, erschöpft. Diese Intifada
ist - für den augenblicklichen Zeitpunkt - mit einem Unentschieden zu Ende.
Moshe Yaalon, ein Generalstabschef mit unstillbarer Redelust, hat den Sieg
erklärt. Aber am selben Tag haben in einer angesehenen israelischen
Meinungsumfrage 73% der Befragten die Meinung geäußert, dass Israel nicht
gewonnen habe, und 33% sahen sogar die Palästinenser als Sieger an. Das
größte Massenblatt des Landes überschrieb eine Geschichte über den
Generalstabschef mit den ironischen Worten: "Zu
Ihrer Information: Wir haben gewonnen!"
Die Mehrheit der Bevölkerung glaubt nicht, dass die Hudna eingehalten wird.
In der Zwischenzeit ist jeder ohne menschliche Opfer vorübergehende Tag für
beide Seiten ein reiner Gewinn.
Und was nun? Wirkliche Verhandlungen? Verhandlungen, die nicht mehr sind als
bloße Spiegelfechterei? Bemühungen beider Seiten, den Amerikanern zu
gefallen? Amerikanischer Druck auf beide Seiten, um ein paar wirkliche Taten
vorzuweisen? Fragt Condoleeza!