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Kampf gegen die Mauern:
Das Ghetto im Innern

Uri Avnery

"Es ist leichter, die Juden aus dem Ghetto herauszuholen, als das Ghetto aus der Juden!" – dieses geflügelte Wort der frühen Zionisten erhält heute eine neue Bedeutung. Israel trennt sich von der Welt und setzt sich selbst in ein Ghetto – und nicht nur physisch.

In Den Haag hat das Verfahren des Internationalen Gerichtshofes wegen der Trennungsmauer begonnen. Sharons Leute haben begriffen, dass sie keine Chance haben, dieses Verfahren zu gewinnen und entschieden sich deshalb, diese Gerichtssitzung zu boykottieren. Statt ihren Fall vor dem Gerichtshof darzulegen, entschlossen sie sich, eine Straßenveranstaltung zu organisieren – im Geist des klassischen israelischen Grundsatzes: "Wenn dein Fall schwach ist, erhebe deine Stimme !"

Im Gerichtssaal wurden die rechtlichen Argumente vorgetragen. Die Vertreter Palästinas führten aus, dass die Mauer rechtswidrig ist, da sie mitten in der Westbank errichtet wurde. Wenn Israel Selbstmordattentate fürchtet, dann ist es – nach ihnen – berechtigt, eine solche Mauer auf seiner Grenze zu errichten, aber nicht im Herzen des besetzten Gebietes, wo es die palästinensische Bevölkerung in gefängnisähnliche Enklaven sperrt. Niemand hat im Gerichtssaal diesem Argument widersprochen.

Draußen organisierten Sharons Leute ein farbenprächtiges Spektakel. Wie einen Gag für die Medien brachten sie aus Israel einen ausgebombten Bus, zusammen mit den Experten, die die Körperteile auflasen. Dazu Dutzende von Familienmitgliedern von Opfern dieser Angriffe. Die Israelische Botschaft verteilte die Fotos von 900 Opfern, und jüdische Studenten trugen sie wie in einer Prozession. Die Botschaft: Die Juden leiden; auch in Israel sind sie die Opfer von Pogromen.

Später am Tag organisierten die Palästinenser ein Gegen-Spektakel. Dort wurden die 3000 palästinensischen Opfer der Intifada beklagt und das Leiden der palästinensischen Bevölkerung unter Besatzung. Den Einwohnern von Den Haag wurde eine Art Olympischer Wettbewerb der Opfer zugemutet. Die Medien der Welt widmeten diesem Spektakel einige Minuten und teilten diese gleichmäßig unter die beiden Parteien. Für sie waren jedoch die Verhandlungen im Gerichtssaal die Hauptsache.

In Israel wurde ein völlig anderes Bild dargestellt. In einem an die Sowjet-Union erinnernden Stil setzten sich die Medien ein wie ein Mann, der im Dienst der Gehirnwäsche steht. Alle Fernsehnetzwerke, alle Radiostationen, alle Printmedien – ohne Ausnahme – nahmen an dieser nationalen Anstrengung teil. Vom Morgen bis zum späten Abend sandten alle Fernseh- und Radiostationen ohne Unterbrechung Berichte aus Den Haag und schufen so den Eindruck, dass die ganze Welt auf das israelische Straßenspektakel starrt.

Das Gerichtsverfahren selbst wurde als unwichtig hingestellt, eine armselige kleine Schau von Arabern und anderen Antisemiten. Die israelische Schau wurde zu einem die ganze Welt erschütternden Ereignis verwandelt. Der ausgebombte Bus und die Opferfamilien erschienen dutzende Male auf dem Bildschirm aller israelischen Kanäle. Immer und immer wieder. Die Gegen-Demo wurde für ein paar Sekunden gezeigt; genau so das Verfahren im Gerichtssaal. Nur um zu zeigen, wie liberal wir sind, durfte der palästinensische Vertreter auch ein paar Sätze sagen.

Aber die Botschaft für den israelischen Zuschauer und Zuhörer war eindeutig: dies war ein großer israelischer Sieg. Der ganzen Welt wurde klar, dass wir in dieser Geschichte die Opfer und die Palästinenser die Terroristen sind; dass die Mauer nötig ist, um unser Leben zu retten, denn "das Leben der Juden ist wichtiger als die Lebensqualität der Palästinenser" – ein Satz der zigmal während des Tages wiederholt wurde. Eine Phalanx von Offizieren, Sicherheitsbeamten, Reportern, Kommentatoren und Professoren redeten sich auf allen Stationen dusselig. Und alle sagten genau dasselbe: wir werden angegriffen, wir sind die Verfolgten, die Araber sind die Mörder, wir verteidigen uns nur. Die Besatzung wurde überhaupt nicht erwähnt. Warum sollte sie? Was hat dies denn damit zu tun?

Während dieser Sendungen demonstrierten die israelischen Friedensgruppen vor der Residenz des Ministerpräsidenten in Jerusalem gegen die Mauer. Der staatseigene Fernsehkanal 1 zeigte dies ganze vier Sekunden lang. Während des ganzen Tages erlaubte kein einziges israelisches Medium irgendjemandem, ein Wort gegen die Mauer oder zu Gunsten des Internationalen Gerichthofes zu sagen.

Dies ist ziemlich erschreckend, weil es in einer Demokratie geschieht. Kein KGB oder keine Gestapo bedrohte das Leben der Journalisten, kein Gulag oder KZ erwartete die, die von der offiziellen Linie abwichen. Es wurde alles freiwillig getan – aus innerer Überzeugung. Es ist wahr, die freien Medien in den demokratischen USA benahmen sich am Anfang des Irakkrieges in ähnlicher Weise. Aber sie waren wenigstens nicht mit dem Syndrom "Alle Welt ist gegen uns" behaftet.

Am Morgen der ersten Gerichtssitzung erklärte der israelische Stellvertreter des Verteidigungsminister Zeev Boim in der Knesset, dass alle Muslime von Geburt an Mörder seien, das liege in ihren Genen. Und ein persönlicher Freund von Ariel Sharon enthüllte im Fernsehen: "Arik sagte mir, dass er tief besorgt sei über den wachsenden christlichen Antisemitismus, z.B. im Film von Mel Ginson: Die Passion Christi. Und nun würden große Teile der muslimischen Welt auch vom Antisemitismus infiziert werden."

Das ist Ghettomentalität. Wir schufen den Staat Israel, um eine normale Nation zu werden, "ein Volk unter den Völkern". Die Ereignisse dieser Woche zeigen auf, dass uns dies nicht gelungen ist. Das Ghetto sitzt tief in uns – und nicht nur physisch.

Der Kampf gegen die Mauer hat viele Aspekte. Es ist nicht nur ein Kampf, um die Bewohner der Westbank von dem monströsen Hindernis zu befreien, das ihr Leben zur Hölle macht und das versucht, sie zum Weggehen zu veranlassen. Es ist nicht nur ein Kampf, um beide Völker dieses Landes aus einer Situation mit einer immer größer werdenden Gewaltspirale und des Blutvergießens zu befreien; es ist auch ein Kampf, um das israelische Volk aus dem tief in seinem Herzen sitzenden Ghetto zu befreien.

(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs und vom Verfasser autorisiert)
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