Passion und Antisemitismus:
Gedanken zum Film von Gibson
Uri Avnery
Ein Brief an Präsident Arafat
Lieber Herr Präsident,
Shalom!
Ich schreibe diese Zeilen, um gegen eine Erklärung zu protestieren, die ich
nicht ignorieren kann. Im palästinensischen Wochenblatt, The Jerusalem
Times, erschien am 28. März ein kurzer Artikel, in dem berichtet wird, dass
Sie sich den kontroversen Film von Mel Gibson "Die Passion Christi"
angesehen hätten. Danach hätte Ihr Berater und vertrauter Assistent Nabil
Abu-Rudeina erklärt, dass Sie diesen Film "bewegend und historisch" gefunden
hätten. Abu Rudeina fügte hinzu, dass "die Palästinenser noch täglich dieser
Art Schmerzen ausgesetzt seien, die Jesus während seiner Kreuzigung erlitten
hatte."
Wenn diese Erklärung nicht in einer palästinensischen Zeitung erschienen
wäre, hätte ich geglaubt, das wäre eine Erfindung von Ariel Sharons
Propaganda-Apparat gewesen. Man kann sich kaum einen Satz vorstellen, der
der palästinensischen Sache mehr schaden könnte.
Ich habe große Achtung vor Abu Rudeina. Ich schätze seine Loyalität
gegenüber der palästinensischen Sache und gerade Ihnen persönlich gegenüber.
Er blieb an Ihrer Seite während der Belagerung Ihres Gebäudekomplexes und
schwebt dort – genau wie Sie – täglich in Lebensgefahr.
Aber diese Erklärung hätte man nicht abgeben dürfen.
Ich habe den Film nicht gesehen und beabsichtige auch nicht, ihn mir
anzusehen. Ich verabscheue Grausamkeiten, auch im Film, und dieser Film ist
voll mit grausamen Szenen, die angeblich das Neue Testament auf die Filmwand
projizieren. Offensichtlich gibt es einen großen Unterschied darin, ob man
einen geschriebenen Text liest oder ob man ihn als Film mit lebensnah
dargestellten Gräueltaten sieht, in denen Blut wie Wasser fließt.
Aber das ist nicht das Wesentliche.
Von einem Araber und Muslim erwartet man nicht, dass ihm die schreckliche
Auswirkung der Beschreibung der Kreuzigung Christi auf das Leben der Juden
bewusst ist und zwar auf fast 2000 Jahre lange Verfolgungen, Pogrome, Folter
durch die Spanische Inquisition, Massenvertreibungen, Massen- und
individuellen Mord bis zum Holocaust, in dem sechs Millionen Juden
umgebracht wurden. All dieses wurde direkt oder mindestens indirekt durch
diese Narrative (Erzählung) möglich gemacht.
Das Neue Testament ist für seine Anhänger ein heiliges Buch. Aber wie unsere
Bibel, das sog. Alte Testament, ist es kein historischer Text. Religiöse
Wahrheit und historische Wahrheit sind nicht ein und dasselbe. Die
Beschreibung der Kreuzigung in den vier Evangelien wurde viele Jahrzehnte
nach den beschriebenen Ereignissen aufgeschrieben. Und die Schreiber
schrieben das, was sie schrieben, unter dem Einfluss der zeitgeschichtlichen
Umstände.
Nehmen wir z.B. die Gestalt des römischen Herrschers Pontius Pilatus. In der
römischen Geschichte erscheint er als skrupelloser, korrupter und grausamer
Prokurator. Im Neuen Testament wird er als humane Person dargestellt, fast
ein Philosoph, der Jesus nicht verurteilen wollte, der aber den Juden
nachgab. In Gibsons Film ist er eine attraktive Gestalt, der von den
abscheulichen – auch äußerlich abscheulichen - Juden gezwungen wird, gegen
sein Gewissen zu handeln.
Warum diese Beschreibung? Als der Text geschrieben wurde, versuchten die
Christen gerade, die römische Welt zum christlichen Glauben zu bekehren.
Deshalb passte es in ihr Konzept, den Juden die Schuld zu geben und die
Römer zu entlasten – völlig gegensätzlich zu den Realitäten zur Zeit Jesu.
Die Juden von damals waren – wie die Palästinenser heute – ein besetztes
Volk und die Römer waren die Besatzungsmacht. Kreuzigung war eine übliche
römische Strafe, eine Art "gezielte Tötung" jener Zeit (allerdings nach
einer Gerichtsverhandlung).
Die Schreiber der Evangelien waren voller Hass gegen die Juden, was wiederum
nicht überraschend war. Sie waren selbst Juden, wie Jesus und alle Leute um
ihn herum. Doch gehörten sie einer anders denkenden Sekte an, die vom
jüdischen Establishment damals in Jerusalem als häretisch betrachtet wurde.
Die christlichen Juden wurden grausam verfolgt. Wie in solch
brudermörderischen Kämpfen üblich, erhob sich glühender Hass. Dieser Hass
fand seinen Ausdruck in der Beschreibung der Kreuzigung.
Im Matthäus-Evangelium (Kapitel 27) heißt es: " ... Da sie versammelt waren,
sprach Pilatus zu ihnen: "Was soll ich denn mit Jesus tun, von dem gesagt
wird, er sei der Christus?" Sie sprachen alle: "Lass ihn kreuzigen!" Der
Landpfleger sagte: "Was hat er denn Übles getan?" Sie schrieen aber noch
mehr und sprachen: "Lass ihn kreuzigen!" Da aber Pilatus sah, dass er nichts
ausrichtete, sondern vielmehr ein Getümmel entstand, nahm er Wasser und
wusch die Hände vor dem Volk und sprach: "Ich bin unschuldig am Blut dieses
Gerechten. Seht ihr zu!"
Da antwortete das ganze Volk und sprach: "Sein Blut komme über uns und
unsere Kinder!""
Dies ist offensichtlich keine historische Beschreibung. Ein ganzes Volk oder
eine große Menge kann nicht wie eine einzelne Person reden. Dieser Satz:
"Sein Blut komme ... über unsere Kinder!" ist unglaubhaft und wurde
eingefügt, um die Rache an vielen Generationen zu rechtfertigen. Und
tatsächlich, viele Generationen von Demagogen gebrauchten dies Wort, um
gegen die "Gottesmörder" aufzuhetzen.
Adolf Hitler war kein fanatischer Christ – ganz im Gegenteil. Einige seiner
Anhänger versuchten sogar, heidnische germanische Riten wieder einzuführen.
Aber Hitler und die Vollstrecker des Holocaust hatten im Religionsunterricht
der Schule das Neue Testament gelesen. Und keiner kann sagen, wie viel von
diesem Text unbewusst weiterwirkte. Und viele einfache Fundamentalisten
akzeptierten den Holocaust oder beteiligten sich deswegen an ihm.
Ich habe nicht die Absicht, die ganze christliche Welt durch die
Jahrhunderte anzuklagen. Weit entfernt davon. Viele der größten Humanisten
im Laufe der Geschichte waren Christen, einige von ihnen sehr gläubige.
Christen waren nicht nur Vollstrecker des Holocaust, unter ihnen waren auch
Gerechte, die Juden retteten. Christliche Klöster an vielen Orten nahmen
Juden auf und retteten sie so.
Jesus predigte die Liebe, und das Neue Testament stellt ihn als eine äußerst
sympathische Person dar: gerecht, barmherzig und tolerant. Es ist
erschreckend, dass so viele Gräueltaten der Geschichte durch Personen und
Institutionen ausgeführt wurden, die vorgaben, sie handelten in seinem
Namen.
Sie, Herr Präsident, als Araber und Muslim, sind stolz auf die Tatsache,
dass länger als ein tausend Jahre lang die muslimische Welt gegenüber Juden
und Christen ein Vorbild der Toleranz war. In der muslimischen Welt hat es
niemals Massenvertreibungen und Pogrome gegeben, die – ganz abgesehen vom
furchtbaren Holocaust - ein Charakteristikum der Christenheit waren.
Die Blutbande zwischen Muslimen und Juden finden sich während der ganzen
Geschichte. Eines der dunkelsten Kapitel der Vergangenheit dieses von uns
beiden geliebten Landes ist die Zeit der Kreuzfahrer. Schon auf ihrem Weg
ins Heilige Land begingen die Kreuzfahrer einen Genozid an den Juden im
Rheinland. Als sie die Mauern Jerusalems durchbrochen hatten, brachten sie
die ganze Bevölkerung der Stadt um, Männer und Frauen, alte Leute und kleine
Kinder. Einer von ihnen erzählte stolz, dass sie bis zu ihren Knien in Blut
gewatet wären. Es war das Blut von Muslimen und Juden, die zusammen
abgeschlachtet wurden. Ihre letzten Gebete mischten sich auf dem Weg zum
Himmel.
Nach dem Fall Jerusalems hielt Haifa noch eine Weile gegen die Kreuzfahrer
stand. Die meisten seiner Einwohner waren Juden, die Seite an Seite mit der
ägyptischen Besatzung kämpfte. Die Muslime versorgten sie mit Waffen - und
nach einem christlichen Chronisten –kämpften die Juden tapfer. Als die Stadt
fiel, mordeten die Kreuzfahrer die restlichen Juden und Muslime.
Vierhundert Jahre später, nachdem die Christen Spanien von den Muslimen
zurückerobert hatten, vertrieben sie Juden und Muslime. Nach dem Goldenen
Zeitalter, der wunderbaren kulturellen Symbiose von Muslimen und Juden im
mittelalterlichen muslimischen Spanien, erlitten Muslime und Juden das
gleiche Schicksal. Fast alle vertriebenen Juden siedelten sich in
muslimischen oder von Muslimen regierten Ländern an.
Lassen wir es nicht zu, dass der gegenwärtige zwischen unseren beiden
Völkern mit all seiner Grausamkeit geführte Konflikt die Vergangenheit
überschattet, weil dies die Grundlage für unsere gemeinsame Zukunft ist.
Das gegenwärtige Leid des palästinensischen Volkes hat nichts mit dem zu
tun, was vor etwa 1973 Jahren geschehen oder nicht geschehen ist.
Wenn es überhaupt eine Verbindung gibt, dann ist es genau umgekehrt. Ohne
den modernen christlichen Antisemitismus der letzten 200 Jahre wäre die
zionistische Bewegung gar nicht zustande gekommen. Wie ich schon früher
erwähnt habe, stellte der Gründer der zionistischen Bewegung, Theodor Herzl,
ausdrücklich fest, dass die Gründung eines jüdischen Staates die einzige
Möglichkeit sei, die europäischen Juden zu retten. Der Antisemitismus war
und ist die Kraft, die Juden nach Palästina treibt.
Ohne Antisemitismus, wäre die zionistische Vision eine abstrakte Idee
geblieben. Vom Pogrom in Kischinev über den Holocaust zum Antisemitismus in
Russland, der erst vor kurzem mehr als eine Million Juden nach Israel trieb,
war und bleibt der Antisemitismus der gefährlichste Feind des
palästinensischen Volkes. In der Redewendung, dass die Palästinenser "die
Opfer der Opfer" seien, steckt viel Wahrheit.
Außer den moralischen Gründen ist dies ein zusätzliches Argument gegen die
Erklärung über die Kreuzigung, die von Antisemiten als Ermutigung für ihre
Sache konstruiert werden kann.
Wenn der Frieden kommt, werden wir uns alle - Juden, Christen und Muslime -
in Jerusalem treffen. Ich weiß, dass Sie - genau wie ich - davon träumen.
Hoffen wir, dass wir beide dies noch erleben werden.
(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
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hagalil.com 08-04-2004 |