Arun Gandhi in Abu Dis:
Wie geht es Dir, Gewaltlosigkeit?
Uri Avnery
Bei der Massenkundgebung mit Arun Gandhi, dem Enkel des Mahatma, in Abu Dis
beobachtete ich die Gesichter der Teilnehmenden. Während Gandhi über
Gewaltlosigkeit predigte, stellte ich mir ein Gespräch zwischen zwei jungen
Palästinensern unter den Zuhörern vor.
Yussuf: „Er hat recht. Die bewaffnete Intifada
hatte keinen Erfolg!
Hassan: „Im Gegenteil. Ohne die Aktionen der Märtyrer hätte uns die Welt
längst vergessen.“
Y.: „Seit einem halben Jahr gab es in Israel keinen Selbstmordanschlag – und
sieh, was wir erreicht haben.“
H. : „Wir haben nichts erreicht. Im Gegenteil. Die israelischen Generäle
rühmen sich, sie hätten uns mit ihren gezielten Tötungen, den Angriffen auf
unser Land und all den anderen Akten der Besatzung besiegt. Und während
dessen haben sie die Siedlungen vergrößert, neue „Außenposten“ errichtet und
die Mauer tief in unserem Gebiet weiter gebaut.“
Y.: „Du vergisst, dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag erklärt
hat, der Verlauf der Mauer sei illegal, und die UN-Vollversammlung hat dies
mit großer Mehrheit bestätigt. Ganz Europa hat zu unseren Gunsten
abgestimmt. Wir sind im Begriff, die Arena der weltweiten öffentlichen
Meinung für uns zu gewinnen.“
H.: „Welchen Wert hat dies, wenn in der Zwischenzeit Sharon tut, was er
will, Arafat weiter im Käfig hält und ins Gesicht von Abu Ala spuckt,
während Abu Ala sich für Gewaltlosigkeit ausspricht?“
Y.: „Sogar die ranghohen Juristen Israels warnen Sharon, wenn er so weiter
mache, werden die UN am Ende Sanktionen gegen Israel verhängen.“
H.: „Aber in der Zwischenzeit geschieht das Gegenteil. In Folge der Pause
von Selbstmordattentaten erholt sich die israelische Wirtschaft. Der wegen
unserer Angriffe fast zum Erliegen gebrachte Tourismus nach Israel, beginnt
wieder. Wenn sich die Israelis sicher fühlen und keine Angst mehr vor
Selbstmordattentaten haben, warum sollten sie dann mit uns reden? Warum
sollten sie irgendwelches Land zurückgeben? Warum sollten sie aufhören, die
Siedlungen zu vergrößern? Das ist ihnen doch scheißegal.“
Y: „Wir müssen die internationale Gemeinschaft gewinnen. Wir können dies nur
ohne Gewalt erreichen. Ich bewundere die Märtyrer, die bereit sind, für
unser Volk zu sterben. Ich bin stolz darauf, dass wir solche Helden haben.
Aber so kommen wir nicht weiter. Sie versorgen Sharon nur mit Vorwänden, uns
noch mehr zu unterdrücken.“
H.: „Als ob Sharon Vorwände benötigt! Er will uns brechen, und die weltweite
öffentliche Meinung wird keinen Finger für uns rühren. Die treulosen
arabischen Führer werden auch nichts für uns tun. Allein unsere Helden
werden uns retten.“
Y.: „Aber Gandhi behauptet, dass gewaltfreie Methoden mehr Erfolg haben.
Sein Großvater hat dies in Indien bewiesen.“
H.: „ Er kannte die Israelis nicht. Die israelische Armee wird das Feuer auf
jede gewaltfreie palästinensische Demonstration von ernst zu nehmendem
Ausmaß eröffnen.“
Y.: „Sieh dort , unsere Brüder, die an der Mauer hochklettern! Das ist ein
Beispiel für eine erfolgreiche, gewaltfreie Aktion im Stile Gandhis, die das
Gesetz des Besatzers offen und ohne Furcht verletzt!“
H.: „Mach dich nicht lächerlich! Wenn Arun Gandhi und diese Israelis nicht
hier wären, hätten die Soldaten geschossen und sie getötet. Später hätten
sie gesagt, das wären gesuchte Terroristen gewesen. Erinnerst du dich an den
Anfang der Al-Aksa- Intifada, als es unbewaffnete Massendemonstrationen gab?
Die Israelis kamen mit Scharfschützen und töteten die Anführer. Denk dran,
dies ist nicht Indien, und die Israelis sind keine Engländer. Sie verstehen
nur die Sprache der Gewalt.“
A.: „Aber das ist ja genau das, was sie über uns sagen!“
Diese Art Debatte wird nun überall in der palästinensischen
Gesellschaft geführt, vielleicht gar in jeder Familie. Den Yussufs gelingt
es nicht, die Hassans zu überzeugen, und ich fürchte, dass Gandhi auch
keinen Erfolg hat, weil ihnen das entscheidende Argument fehlt. Abu Mazen,
der Gewaltlosigkeit befürwortet, erhielt von Sharon nichts. Ein halbes Jahr
ohne Selbstmordattentaten innerhalb Israels hat den Palästinensern nichts
gebracht.
Deshalb war der Angriff in Beer Shewa – nur eine Woche nach Gandhis Rallye –
zu erwarten.
Solange die Sharon-Regierung mit der aktiven Unterstützung von Präsident
Bush die Siedlungen weiter vergrößert, die Mauer weiter baut und all die
anderen Aktionen der Annexionen weiter verfolgt, gibt es nichts, was die
palästinensische öffentliche Meinung dahin bringt, der Gewalt den Rücken zu
kehren. Und nur ein entscheidender Wechsel in der palästinensischen
öffentlichen Meinung kann die Selbstmordattentate zu einem Ende bringen.
Keine Mauer wird Leute, die zu sterben bereit sind, daran hindern, einen
Angriff auszuführen. Und die Palästinenser haben schon bewiesen, dass es
jede Menge solcher Leute unter ihnen gibt.
Ehud Barak, eine sehr gewalttätige Person, hat einmal gesagt, dass er, wenn
er ein junger Palästinenser wäre, sich einer Terrororganisation
angeschlossen hätte. Offensichtlich glaubt er nicht daran, dass
Gewaltlosigkeit gegenüber der israelischen Armee Erfolg hat. Und er sollte
es wissen.
Ich war von der Lehre Mahatma Gandhis beeindruckt. Er war der größte
Befreier des 20. Jahrhunderts. Er erreichte Freiheit für den ganzen
indischen Subkontinent, einschließlich des heutigen Pakistan und Bangladesh.
(Aber Gandhi sagte auch, dass Hitler nur mit gewaltfreien Mitteln bekämpft
werden könne – und selbst seine größten Bewunderer hatten Mühe, dies zu
akzeptieren)
In meiner Jugend schloss ich mich zwei sehr gewalttätigen Organisationen an
(der Irgun und der israelischen Armee), aber nachdem ich zum Ende des 48er
Krieges verwundet wurde, gab es einige Monate, in denen der pure Gedanke an
Kampf mir körperliche Übelkeit verursachte. Ich verabscheue Gewalt in jeder
Form - aber wie kann sie gestoppt werden?
Es gibt Leute unter uns, die für einen Kompromissfrieden bereit wären, die
aber dahin gebracht wurden, zu glauben, es gäbe „niemanden, mit dem man
verhandeln kann“, weil „sie“ keinen Frieden, sondern uns nur vernichten
wollen. Wir sollten jedoch versuchen, diese palästinensische Gewalt zu
verstehen, die so viel Blutvergießen verursacht: sie war die voraussehbare
Folge davon, dass wir ihnen jeden anderen Weg abgeschnitten haben.
Ich bin davon überzeugt, dass es möglich ist, der Gewalt in unserem Lande
ein Ende zu machen - falls wir dem palästinensischen Volk einen
alternativen, gewaltfreien Weg anbieten, um Freiheit und Gerechtigkeit zu
erlangen.
Jeder der glaubt, dass eine Mauer Erfolg verspricht, die Selbstmordattentate
zu stoppen, könnte sich genau so gut auch auf die Amulette der
kabbalistischen Rabbis verlassen.
(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
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22.03.03
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