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Gefühllos

Wirtschaftskrise und Intifada zersetzen zunehmend die israelische Gesellschaft

Uri Avnery

Es war eine fast unglaubliche Zeitungsstory: Um die Staatskasse in Ordnung zu bringen, hat das israelische Erziehungsministerium entschieden, Hunderte Lehrer zu entlassen. Eine private Gesellschaft erhielt den Auftrag, den entlassenen Lehrern die Nachricht zu überbringen. Zwei Tage vor Pessach, einem der Höhepunkte des jüdischen Kalenders - für religiöse genauso wie für nicht religiöse Juden, zogen die Boten der Gesellschaft hinaus, um ihren Job zu tun. Sie klopften um Mitternacht an die Türen und überbrachten die Kündigung.

Selbst die israelische Öffentlichkeit, die sich schon kaum mehr über etwas aufregt, war einen Augenblick lang schockiert. Wie konnte so etwas passieren?

Für mich bedeutete dies mehr als nur einen Fehler irgendeines Regierungsbüros. Es ist gleichsam ein symbolischer Akt, der all das widerspiegelt, was im heutigen Israel nicht in Ordnung ist.

Natürlich war es nicht absichtlich. Die Ministerin für Bildung und Erziehung hat dem privaten Unternehmer nicht gesagt, überreicht das Kündigungsschreiben in möglichst schmerzvoller Weise. Die Unternehmer hatten sich nicht zusammengesetzt und entschieden: Machen wir dies kurz vor Pessach, und klopfen wir in der Mitte der Nacht an ihre Türen, so wie Stalins Geheimpolizei oder wie die israelischen Soldaten der Spezialeinheiten in Nablus. Keiner hat darüber nachgedacht. Genau das ist das Erschreckende: die totale Gefühllosigkeit. Das wäre vor drei oder vier Jahren noch unmöglich gewesen.

Nach zwei Jahren der Al-Aksa-Intifada sind die Gefühle der israelischen Gesellschaft fast vollkommen abgestumpft. Die schrecklichen Dinge, die täglich geschehen in den besetzten Gebieten, passieren, ohne Erwähnung zu finden. "Absperrungen" und "Ausgangssperren", die monatelang dauern, Hunger und Durst, Kranke sterben wegen mangelnder medizinischer Behandlung, die Zerstörung von Häusern und das Entwurzeln ganzer Olivenhaine - dies sind offenbar Peanuts, Routineangelegenheiten. Von Scharfschützen in ihren Wohnungen oder auf den Straßen erschossene Männer, Frauen und Kinder? Wen kümmert das schon? Die von einem riesigen Bulldozer zermalmte junge Amerikanerin, als sie versuchte, die Zerstörung eines palästinensischen Hauses zu verhindern? Na und. Sie hat es verdient. Ein Steine werfender palästinensischer Junge von einem Panzer aus erschossen? Drei Zeilen in der Zeitung - vielleicht nicht einmal das.

Die Gefühllosigkeit hat sich aus den besetzten Gebieten nun nach Israel selbst ausgebreitet. Zeitungsfotos zeigen, wie Menschen in Abfallbehältern herumwühlen. Wer kümmert sich schon darum?

Finanzminister Benjamin Netanjahu, der für einen einzigen Vortrag in den USA 50000 Dollar Honorar erhält, hat einen Wirtschaftsplan vorgelegt, der die Ärmsten der Armen schmerzhaft trifft. Er reduziert die monatliche Altersrente auf umgerechnet weniger als 300 Euro, die Kinderbeilage, die Arbeitslosenrente, den Zuschuß für Heimunterbringung zurückgebliebener Kinder und der Alten, auch das Erziehungs- und Gesundheitsbudget.

Revoltiert die Öffentlichkeit? Nein. Die Histadrut (Vereinigte Gewerkschaften), die die stärksten und reichsten Arbeiterkomitees vertritt, droht mit einem Generalstreik. Was noch? Hier und da gibt ein Politiker ein Statement von sich und hofft so, in die Schlagzeilen zu kommen. Hier und da protestiert eine Handvoll Leute, die ein Gewissen haben. Ab und zu schreibt ein Kolumnist einen empörten Artikel. Und das ist es dann. So werden die Armen etwas ärmer und die Reichen etwas reicher. Nichts Neues.

Als Netanjahu selbst nach diesem Plan befragt wurde, hielt er sich an die bewährte Linie: "Es gibt keine Alternative." Die israelische Wirtschaft geht abwärts. Das ist die Schuld Arafats. Die Intifada hat unsere Wirtschaft zerstört.

Länger als fünf Jahrzehnte erfreute sich die israelische Gesellschaft der angenehmen Illusion, daß es überhaupt keine Verbindung gebe zwischen unserer Politik gegenüber den Arabern und unserer wirtschaftlichen Situation. Das war ein Grundstein unseres nationalen Bewußtseins.

Während meiner zehn Jahre als Knessetabgeordneter hielt ich wenigstens hundert Reden genau über dieses Problem. In Debatten über die Sicherheitspolitik stellte ich Fragen zu den wirtschaftliche Kosten. Jede dieser Reden verursachte wütende und ungeduldige Reaktionen aus allen Teilen des Hohen Hauses. Nur einmal in all den Jahren zog mich ein Stellvertreter des Finanzministers im Flur beiseite und sagte: "Sie sind der einzige, der vernünftig redet." Das Ignorieren der Kosten des Krieges und der Besatzung hat seltsame Resultate hervorgebracht: Die ärmsten Leute, die Arbeitslosen und die Bewohner der heruntergekommenen, sogenannten Entwicklungsstädte haben immer den Likud gewählt. Bei den letzten Wahlen wählten sie einstimmig Scharon. Sie haben nur zwei Forderungen: die Araber niederzuschlagen und die wirtschaftliche Krise zu beenden. Sie sahen zwischen den beiden keinen Widerspruch und keinen Zusammenhang.

Aber seit einigen Monaten verändert sich etwas im öffentlichen Bewußtsein. Um der Klage, die Wirtschaftspolitik der Regierung hätte die Depression verursacht, entgegenzutreten, mußten die Scharon-Leute zugeben, daß die Intifada die Hauptursache sei, auch wenn die weltweite Krisis noch dazu kommt. Die Intifada hat der Tourismusbranche, einem der wichtigsten Sektoren unserer Wirtschaft, einen schweren Schlag versetzt. Ausländische Investitionen, die wesentlich für das ökonomische Wachstum sind, kamen zum Erliegen. Die riesige Armee, die für den Kampf gegen die Intifada nötig ist, verschlingt - zusammen mit den Siedlern - einen ungeheuren Teil unseres Sozialproduktes.

Einige Leute hoffen, wenn die Depression sich ausweitet, dann werden sich die "schwachen Schichten" (wie die Armen in Israel genannt werden) eines Tages gegen die Scharon-Regierung erheben: Die Massen werden die Straßen füllen und die Regierung stürzen.

(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und vom Verfasser autorisiert)
Junge Welt 30.03.03
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hagalil.com 30.04.03

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