Abkoppelungsplan:
Ariks Horrorschau
Uri Avnery
Alle Welt sah den Horror im Fernsehen: ein
palästinensischer Junge liegt bewusstlos am Boden. Ein israelischer Soldat
beugt sich gerade über ihn und weiß nicht, was er tun soll. Ein Siedler
kommt von hinten und wirft einen Stein an den Kopf des verwundeten
Palästinensers. Ein anderer Siedler lässt von oben einen großen Stein auf
ihn fallen – aus null Entfernung. Ein bärtiger Sanitäter, auch ein Siedler,
nähert sich dem verwundeten Jungen, zögert und geht weg, ohne ihn zu
behandeln. Eine Gruppe Siedlerjungen und -mädchen folgen ihm schreiend:
"Lass ihn sterben! Lass ihn sterben!"
Zuvor besetzten Siedler ein palästinensisches Haus am
Strand des Gazastreifens und errichteten dort einen "Außenposten". Es war
ein hübsches, dreistöckiges Gebäude, dessen Besitzer noch nicht eingezogen
war. An der Außenwand stand in großen Buchstaben: "Mohammed ist ein
Schwein!" womit der Prophet gemeint war. Eine Steineschlacht zwischen den
Besetzern dieses Hauses und Palästinensern in den benachbarten Häusern
folgte. Einige Soldaten, die sich genau dazwischen befanden, feuerten über
die Köpfe der Palästinenser in die Luft und taten nichts gegen die
Randalierer.
Zwei Tage vorher waren Armeebulldozers geschickt worden,
um leerstehende, verlassene Bauten, die vor 1967 von den Ägyptern gebaut
worden waren, einzureißen. Eine Gruppe extrem-rechter Jungen und Mädchen
kletterten auf die Bulldozer, brachen Teile davon ab, traten gegen die Köpfe
der Soldaten, die versuchten, sie zu entfernen, und verfluchten und
verspotteten die Soldaten, die hilflos daneben standen.
Die Randale erreichten ihren Höhepunkt am letzten
Mittwoch, als die Siedler noch einmal Israels Hauptverkehrsadern
blockierten. Am Vorabend erschien im Fernsehen einer der Oberrandalierer,
ein gewisser Shabtai Shiran, der sich selbst als "Generalstabschef Nord" der
Hooligans vorstellte. Er wurde als geachteter Gast ausführlich live
interviewt, während er Befehle gab, um das Land lahm zu legen, als ob er ein
Regierungssprecher wäre. Er wurde nicht wegen Terrorismus, eines Komplotts
und wegen Anstiftung, ein Verbrechen zu begehen, am Ausgang des Studios
festgenommen. Im Gegenteil: er wurde am nächsten Abend wieder eingeladen, um
sich seines "Sieges" zu rühmen.
Am Morgen des Straßenblockadetags entdeckte die Polizei
auf der Straße Nr.1 (die Hauptverbindung zwischen Tel Aviv und Jerusalem)
Ölpfützen und Metallnägel, die die Reifen zum Platzen bringen sollten. Auf
dieser Straße ist eine Geschwindigkeit von 110km/h erlaubt, und viele fahren
noch schneller. Wie durch ein Wunder gab es keinen Unfall. Aber das ganze
Land gab dem Terrorismus nach. Die meisten Fahrer schoben ihre Fahrten auf,
der Verkehr war mäßig – so wie am Shabbat. Während des Tages blockierten
Siedler an vielen Orten die Straßen. Die Polizei entfernte sie mit bloßen
Händen. Nur an einer Stelle wurde ein Wasserwerfer benutzt: der schwache
Wasserstrom fegte keinen einzigen Randalierer weg. Aber im Fernsehen sah es
gut aus.
Bei keiner einzigen Randale verwendete die Polizei Mittel,
die routinemäßig gegen gewaltlose Protestierer des linken Flügels angewendet
werden, wie Schlagstöcke, Tränengas, mit Gummi ummantelte Kugeln und
letzthin auch Salzkugeln. Ich kann aus eigener Erfahrung bei Demonstrationen
bezeugen, dass keiner dort bleibt, wo er steht, wenn Tränengasgranaten gegen
ihn abgeschossen werden.
Dies nur zur Erinnerung: vor fünf Jahren versuchte eine
Gruppe arabischer Bürger, einige Straßen im Norden Israels zu blockieren –
es war eine spontane Reaktion auf die Tötung von Palästinensern auf dem
Tempelberg. Um den "freien Verkehr auf den Straßen zu schützen", eröffnete
die Polizei mit scharfer Munition das Feuer und tötete dabei 13 Bürger. Aber
sie waren - natürlich – Araber.
Man hätte in dieser Woche den Randalen sehr leicht ein
Ende setzen können. Bei wenigen Vorfällen, wo die Behörden entschieden, die
Randalierer zu entfernen, geschah dies problemlos.
Zum Beispiel am Tag nach dem versuchten Lynchen des jungen
Palästinensers - der sich zum Glück wieder erholt - entfernte die Polizei
die Rowdys aus einem nahen Hotel. Die Randalierer schworen, bis zum Tode zu
kämpfen. Sie waren jedoch innerhalb von 30 Minuten und ohne einen Verletzten
überwunden worden. Ihre großmäuligen Führer waren verschwunden, bevor es
überhaupt begonnen hatte.
Warum werden die Randale nicht überall niedergeworfen? Da
gibt es nur eine einfache Schlussfolgerung: Ariel Sharon wünscht es gar
nicht. Im Gegenteil: es ist in seinem Interesse, dass auf dem Fernsehschirm
in Israel und weltweit die Szenen der schrecklichen Randale gesehen werden.
So sät er in die Köpfe der Zuschauer die natürliche Frage, die mir ein
Taxifahrer stellte und die von allen Journalisten, die mich während der
letzten Woche interviewten, wiederholt wurden: "Wenn die Evakuierung von ein
paar kleinen Siedlungen schon solch einen Aufstand verursacht – wie kann man
nur davon träumen, die großen Siedlungen in der Westbank zu räumen?"
Dieselbe Frage wird auch im Hinblick auf den
wirtschaftlichen Preis des Abzugs gestellt. Der Finanzminister redet jetzt
von "8-10 Milliarden Shekel". Das heißt 5 Millionen Shekel oder etwa 100 000
Euro pro Familie. Fast jeden Tag wird die von den Zu- Evakuierenden
erpresste Lösegeldsumme höher. Ein Stück Land. Eine neue Villa. Bis dahin
eine "mobile Villa", die in ihrem Besitz bleibt. Kompensationen für
verlorenen Lebensunterhalt. Beteiligung an den Kosten des Umzugs. Für die
Landwirte mehr Land, zwei bis dreimal größer als das Stück Land, das sie
verlassen haben.
Übrigens, wenn die Siedler nur das zurückbekämen, was sie
tatsächlich investiert hatten, ja vielleicht sogar das Zehnfache, würde es
nur einen Bruchteil dieser Summen ausmachen. All dies wird denen
versprochen, die evakuiert werden sollen und bereit sind, in einer
Entfernung von 30 km von ihrem gegenwärtigen Wohnort nach Israel
umzusiedeln. In dieser Woche wurde ihnen ein besonderer Regionalrat
versprochen. Dieser würde der einzige Regionalrat sein, der entsprechend
ideologischen Linien aufgebaut wird; er wäre auch ein einträglicher
Ruheposten für Dutzende von Siedlern, die Angestellte dieses Rates würden.
In der Westbank leben viele Hunderte von Siedlern, einschließlich der
meisten ihrer Führer auf unsere Kosten, indem sie fiktive Jobs in den
Regionalräten inne haben.
Auch hier wird der naive Bürger fragen: wenn die
Evakuierung von 1700 Siedlerfamilien uns schon 8 Milliarden Shekel kostet,
wie viel wird uns die Evakuierung von 40 000 Familien aus den
Westbanksiedlungen kosten?
Die Vorstellung dieser Woche ist nur eine Generalprobe der
großen Horrorschau, die in sieben Wochen geplant ist, wenn die Evakuierung
stattfinden wird. Es ist schon angekündigt worden, dass enorme Kräfte an
dieser Aktion teilnehmen werden. Dreitausend Reporter aus aller Welt werden
für das internationale Echo sorgen. Das Ereignis wird als riesige Operation
vorgestellt. Ariel Sharon wird als einer der großen Helden der Geschichte
erscheinen, eine Mischung von Herkules und Samson. Wer wird nach solchen
immensen Bemühungen verlangen, dass er die unmögliche Aufgabe der
Evakuierung der Westbanksiedlungen auf sich nimmt?
Sharon selbst verbirgt seine Absichten nicht. Im Gegenteil
– er kündet sie mit lauter Stimme an. In zwei zentralen Reden dieser Woche
definierte er sie mit den gleichen Worten. Aber die oberflächlichen Medien
waren so fasziniert von dem, was er über die Hooligans sagte, dass sie den
wichtigsten Satz überhörten.
Sharon sagte, dass der Rückzug aus dem Gazastreifen
notwendig sei, damit wir uns auf die Bemühungen konzentrieren können, die
Israels Dominanz "in Galiläa und dem Negev, Groß-Jerusalem, den
Siedlungsblöcken und den Sicherheitszonen" absichern. Man muss die vier
Ortsbezeichnungen mit der Landkarte vergleichen, um ein klares Bild zu
bekommen.
"Galiläa und der Negev" wurden nur als Dekoration mit
eingeschlossen. Sie sind seit der Gründung des Staates ein Teil Israels, und
eine Judaisierungskampagne läuft seit Jahrzehnten. Über die Hälfte von
Galiläas Bürgern sind Araber, und im Negev ist die Situation ähnlich. Der
Terminus "Groß-Jerusalem" schließt gewöhnlich nicht nur die arabischen
Stadtteile im Osten der Stadt ein, sondern auch die Siedlung Maale-Adumim
und das Land, das zwischen ihr und dem eigentlichen Jerusalem liegt und E-1
genannt wird.
Die Siedlungsblöcke schließen nicht nur die erweiterten
Gush Etzion-, Ariel-, Ober-Modiin-, Betar- und Maale-Adumim-Blöcke ein,
sondern auch jedes Gebiet, das in Zukunft als solches definiert wird, wie
Kiryat Arba und das Gebiet südlich von Hebron.
Aber das wichtigste Wort ist "Sicherheitszonen". In
Sharons Lexikon schließen sie nicht nur das ganze Jordantal ein und die
"Rückseite des Berges" (die östlichen Hänge der zentralen palästinensischen
Bergkette), sondern auch die Ost-West- und die Nord-Südachse, auf die er
selbst während der Jahre Siedlungen hinsetzte.
Der Satz bestätigt wieder einmal das, was Sharon in der
Vergangenheit oft genug gesagt hat, dass er 58% der Westbank annektieren
wolle, so dass der palästinensische Staat, dem er zustimmen oder nicht
zustimmen mag, nur etwa 10% des Palästinas von vor 1948 ausmacht. Die
augenblickliche Horrorschau von Arik ist dafür bestimmt, diese Vision zu
fördern, die er als sein Lebenswerk betrachtet. Die Siedler, die ihn
verfluchen und sein Leben bedrohen, spielen nur die Rolle, die er ihnen
gibt.
Die Aufgabe des israelischen Friedenslagers wäre es, diese
Vision zu kippen, indem sie die Dynamik der Krisis ausnützen würde, um den
Weg für eine Lösung des Konflikts freizu- machen. Die Siedlungen sind das
Haupthindernis, um einen Kompromiss zwischen den beiden Völkern zu
erreichen. Ohne dass Sharon es beabsichtigt, bringt die Horrorschau die
israelische Bevölkerung gegen die Siedler auf, was die Isolierung der ganzen
Siedlergemeinschaft zur Folge hat. Wir müssen sicher gehen, dass diese Welle
der Entrüstung nach dem ausgeführten Rückzug aus dem Gazastreifen nicht
verebbt, sondern im Gegenteil an Größe und Stärke zunimmt und so die
Besatzung in der Westbank und in Jerusalem hinwegschwemmt.
Falls dies geschehen sollte, wird sogar die große
Horrorschau am Ende noch positive Ergebnisse haben – und keineswegs jene,
die Sharon erwartet hat.
(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
uri-avnery.de /
avnery-news.co.il
28.05.2005
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04-07-2005 |