Vergangenen Sonntag, den 16.11.03, wurden Uri
Avnery und der palästinensische Intellektuelle Sari Nusseibeh mit dem
Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte ausgezeichnet.
Uri Avnery
Meine Damen und Herren,
Liebe Freundinnen und Freunde,
Jedes Mal, wenn ich auf deutschem Boden stehe, frage ich mich: Was und
wo wäre ich, wenn es Adolf Hitler nie gegeben hätte?
Stünde ich hier mit Sari Nusseibeh? Wäre ich überhaupt ein Israeli?
Ich bin nicht weit von hier, in der westfälischen Stadt Beckum, geboren.
Dort war mein Grossvater, Josef Ostermann, Lehrer der kleinen jüdischen
Gemeinde.
Aber meine Familie kam ursprünglich aus dem Rheinland. Meine Mutter erzählte
mir einmal, aus welchem kleinen Ort wir stammen. Leider habe ich den Namen
vergessen, und jetzt ist keiner mehr da, den ich fragen kann.
Mein Vater, der im humanistischen Gymnasium Lateinisch als 1. Fremdsprache
gelernt hatte, behauptete, unsere Familie sei mit Julius Caesar nach
Deutschland gekommen. Aber archäologische Beweise dafür habe ich bis jetzt
nicht gefunden.
Die Familie war tief in der deutschen Kultur verankert. Mein Vater, ein
leidenschaftlicher Musikliebhaber, hat Brahms und Beethoven verehrt. Die
Ouvertüre von Wagners "Meistersinger" war sein Lieblingsstück. Kein Werk der
deutschen Literatur fehlte in unserem Bücherschrank, ich habe sie fast alle
vor meinem 15. Geburtstag gelesen.
Mein Vater kannte Goethes "Faust", beide Teile, auswendig. Als er sich 1913
mit meiner Mutter verlobte, war die Bedingung, dass sie bis zur Hochzeit
"Fausts" ersten Teil auswendig lernte. Die Gegenbedingung meiner Mutter war,
dass mein Vater Tennis spielen sollte. Beide haben die Bedingungen treu
erfüllt, aber einen Tag nach der Hochzeit hat meine Mutter den "Faust"
vergessen, und mein Vater hat nie wieder Tennis gespielt.
Was
hat diese Familie, die Familie Ostermann, dazu gebracht, 1933 Deutschland
für immer zu verlassen und in ein fernes, fremdes Land, das Land der Familie
Nusseibeh, zu ziehen?
Ein einziges Wort: der Antisemitismus.
Zwar war mein Vater schon immer ein Zionist gewesen. Er war neun Jahre
alt, als der "Erste Zionistenkongress" stattfand. Er war von dieser Idee
begeistert. Zur Hochzeit erhielt er als Geschenk eine Urkunde des jüdischen
Nationalfonds, nach der in Palästina ein Baum in seinem Namen gepflanzt
worden ist. Aber er hat nie daran gedacht, selbst nach Palästina
auszuwandern.
(Damals gab es einen Witz: Wer ist ein Zionist? Ein Jude, der mit dem Geld
eines zweiten Juden einen dritten Juden in Palästina ansiedeln will.)
Zionisten waren damals in den deutschen jüdischen Gemeinden eine
verschwindende Minderheit. Unter unseren Verwandten wurde behauptet, mein
Vater sei nur darum Zionist geworden, weil er ein Querkopf war. (Anscheinend
liegt dies in den Genen unserer Familie.)
Aber kurz nach der sogenannten Machtübernahme beschloss mein Vater
auszuwandern. Der unmittelbare Anlass war klein. Mein Vater war ein vom
Gericht ernannter Treuhänder und Konkursverwalter. Seine Ehrlichkeit war
sprichwörtlich, er war "gerade wie ein Lineal". Bei einer
Gerichtsverhandlung rief ein junger Anwalt: "Juden wie Sie brauchen wir hier
nicht mehr!" Mein Vater fühlte sich zu tiefst verletzt, damit war für ihn
Deutschland erledigt. Ich bin auch heute noch überzeugt, dass das Gefühl der
Kränkung bei der Scheidung zwischen Juden und Deutschen eine große Rolle
gespielt hat.
Wohin
sollten wir? Kurz wurden Finnland und die Philippinen erwogen. Aber die
zionistische Romantik gab den Ausschlag. Wir gingen nach Palästina, und
seitdem ist das Los meiner Familie mit dem der Familie Nusseibeh untrennbar
verbunden.
Als mein Vater zum Polizeipräsidium in Hannover ging, um sich abzumelden,
sagte der Polizeibeamte: "Aber Herr Ostermann, was fällt Ihnen ein? Sie sind
doch ein Deutscher wie ich!"
Ich erzähle diese Geschichte oft, um meine palästinensischen Freunde von der
Versuchung zu bewahren, im Antisemitismus einen Bundesgenossen zu sehen.
Also: die Antisemiten hassen die Juden, die Juden bilden die Mehrheit in
Israel, Israel unterdrückt die Palästinenser, ergo: die Antisemiten sind die
Freunde der Palästinenser.
Das wäre ein großer Irrtum.
Ohne den Antisemitismus wäre der Zionismus nie entstanden. Zwar behauptet
die zionistische Legende, die Juden hätten sich in jeder Generation nach
Palästina gesehnt, aber diese Sehnsucht war auf Gebete beschränkt.
Tatsächlich haben die Juden im Laufe der Jahrhunderte nie die kleinste
Anstrengung gemacht, sich in Palästina zu versammeln.
Ein kleines Beispiel: vor 511 Jahren wurde eine halbe Million Juden aus
Spanien vertrieben. Die meisten von ihnen siedelten sich irgendwo im
muslimisch-osmanischen Raume an, wo sie überall freundlich aufgenommen
wurden. Sie ließen sich in Marokko, Bulgarien, Griechenland und in Syrien
nieder. Nur nach Palästina, einer entlegenen Provinz des türkischen Reiches,
gingen außer ein paar religiösen Schriftgelehrten kaum einer.
Muslime wenden sich im Gebet nach Mekka, Juden wenden sich im Gebet nach
Jerusalem. Aber mit der zionistischen Idee eines Judenstaates hat das nichts
zu tun.
Der moderne politische Zionismus war eine klare Reaktion auf den modernen
Antisemitismus der nationalen Bewegungen Europas. Es ist kein Zufall, dass
das Wort "Antisemitismus" 1879 in Deutschland geprägt worden ist – und nur
ein paar Jahre später hat Nathan Birnbaum, ein in Wien geborener Jude, das
Wort "Zionismus" geprägt.
Es war die Antwort auf die Herausforderung. Wenn die neuen nationalen
Bewegungen in Europa, so gut wie ausnahmslos, nichts mit den Juden zu tun
haben wollen, dann müssen eben die Juden sich selbst als eine Nation im
europäischen Sinne konstituieren und ihren eigenen Staat gründen.
Wo? Im Lande der Bibel, dem damaligen Palästina.
So begann der historische Streit zwischen unseren beiden Völkern, dem Volk
Sari Nusseibehs und meinem Volk: es ist ein Konflikt der heute – 2003 -
schlimmer ist als je. Es fing damit an, dass die Zionisten ihr Ziel, die
Juden aus Europa vor dem Antisemitismus zu retten, und die palästinensischen
Araber ihr Ziel, Freiheit und Selbständigkeit in ihrem Vaterland zu
erreichen, im selben kleinen Lande verwirklichen wollten, ohne die geringste
Ahnung von einander zu haben.
Theodor Herzl, der Gründer der modernen zionistischen Bewegung, schrieb
1897, nach dem ersten Zionistenkongress in Basel, in sein Tagebuch: "In
Basel habe ich den Judenstaat gegründet". Damals war er noch nie in
Palästina gewesen, er hatte keine Ahnung, wer dort lebte. Einer seiner
Kollegen prägte den Ausspruch: "Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land".
Für sie war Palästina eben leer, unbewohnt.
Aber der Grossvater Sari Nusseibehs lebte damals in Palästina, zusammen mit
einer halben Million anderer Araber. Sie hatten keine Ahnung – konnten ja
keine Ahnung haben! – dass irgendwo in der Schweiz, in einer Stadt, deren
Namen sie vielleicht nie gehört hatten, eine Versammlung stattfand, deren
Folgen ihr Schicksal und das Schicksal ihrer Kinder und Kindeskinder, ihrer
Familie, ihrer Stadt, ihres Dorfes, ihres Landes, für immer verändern wird.
Der Antisemitismus hat die zionistische Bewegung ins Rollen gebracht, der
Holocaust hat ihr eine ungeheure moralische Wucht verliehen; auch heute
treibt der Antisemitismus die Juden aus Russland, Argentinien und Frankreich
massenweise nach Israel.
Die Palästinenser haben viele Feinde – aber keiner von ihnen ist so
gefährlich für sie wie der Antisemitismus. Wenn in manchen arabischen
Ländern heute versucht wird, diesen fremden Antisemitismus aus Europa zu
importieren, so ist das äußerst verhängnisvoll.
Sari Nusseibeh und ich, zwei Semiten, die zwei mit einander verwandte
semitische Sprachen sprechen, müssen Bundesgenossen im Kampf gegen diese
alte und moderne kollektive Geisteskrankheit sein. Ich glaube, dass wir es
auch sind.
Ich möchte aber gleich hinzufügen: Der Fluch des Antisemitismus darf nicht
dazu missbraucht werden, um jegliche Kritik an meiner Regierung und meinem
Staat zu verhindern. Wir Israelis wollen ein Volk wie alle anderen sein,
unser Staat sollte ein Staat wie alle anderen sein, er darf und muss mit
demselben moralischen Maßstab gemessen werden wie alle anderen Staaten.
Ja, auch hier, in Deutschland. Keine Sonderbehandlung, bitte.
Nun dauert unser Streit schon über hundert Jahre, auf beiden Seiten ist eine
fünfte Generation in ihn hineingeboren, eine Generation, deren ganze
Geisteswelt durch den Konflikt geprägt ist. Ängste, Hass, Vorurteile,
Stereotypen, Misstrauen bestimmen ihre psychische Welt.
Wir stehen am Rande des Abgrunds, und in beiden Völkern gibt es Führer, die
uns befehlen: Vorwärts, marsch!
Wir beide stehen hier, weil wir unsere Völker vor diesem Abgrund bewahren,
weil wir ihnen einen anderen Weg zeigen wollen.
Der Staat Israel besteht, keiner kann uns ins Meer werfen. Das
palästinensische Volk besteht, keiner kann es in die Wüste treiben. Unser
Ministerpräsident, Ariel Sharon, will aber ganz Palästina in einen jüdischen
Staat umwandeln. Muslimische Fundamentalisten, wie die Hamas- und Jihad-
Organisationen, wollen ganz Palästina einem muslimischen Staat einverleiben.
Das ist eindeutig der Weg in die Katastrophe.
Wir beide glauben an Frieden, an die Versöhnung zwischen beiden Völkern. Wir
glauben nicht nur daran, wir arbeiten daran, wir kämpfen dafür, jeder auf
seine Art.
Wir haben gemeinsam an vielen Aktionen teilgenommen. Wir sind, Arm in Arm,
an der Spitze eines großen Marsches von Christen, Muslimen und Juden am
Sylversterabend 2001 durch die Gassen der Altstadt Jerusalems gezogen. Aber
unsere Hauptaufgabe ist, unsere eigenen Völker davon zu überzeugen, dass
Friede und Versöhnung möglich sind, dass auf beiden Seiten die Bereitschaft
besteht, den Preis des Friedens zu bezahlen.
Das sind keine abstrakten Bestrebungen. Gush Schalom, die israelische
Friedenbewegung, der ich angehöre, hat 2001 einen Friedensvertrag in allen
Einzelheiten ausgearbeitet und veröffentlicht. Vor kurzem hat Sari Nusseibeh
mit Ami Ayalon, einem ehemaligen israelischen Geheimdienstchef, die
Grundsätze einer Friedenslösung artikuliert. Jetzt hat eine neue Gruppe von
israelischen und palästinensischen Politikern in Genf den detaillierten
Entwurf eines Friedensvertrages vorgelegt.
Das Blutbad in unserem Land, das schon drei Jahre andauert, ist ein Symptom
der Hoffnungslosigkeit, der Frustration und der Verzweiflung auf beiden
Seiten. Natürlich gibt es keine Symmetrie zwischen Besatzern und Besetzten,
Herrschern und Beherrschten. Die Gewalt der Besatzung ist nicht mit der
Gewalt des Widerstandes zu vergleichen. Aber die Hoffnungslosigkeit, die auf
beiden Seiten herrscht, und das gegenseitige Misstrauen sind vergleichbar,
und unsere erste Aufgabe ist es, diese zu überwinden.
Wir glauben an den Grundsatz: Verfluche nicht die Dunkelheit, zünde eine
Kerze an. Zusammen mit unseren Mitarbeitern, mit den Tausenden von
Friedensaktivisten beider Völker, haben wir schon viele Kerzen angezündet.
Ich bin ein Optimist. Ich glaube, dass aus der Dunkelheit der Verzweiflung
schon Dämmerung wird, es fängt ganz langsam an, heller zu werden. Die
Überzeugung, dass das Blutvergießen zu nichts führt, breitet sich in Israel
aus.
30 unserer Kampfpiloten weigern sich, unmoralische Befehle auszuführen. Die
Zahl der Verweigerer unter unseren Soldaten wächst. Der Generalstabschef,
bis vor kurzem ein extremer Draufgänger, hat seinen Vorgesetzten
widersprochen und erklärt, das es keine militärische Lösung gibt. Die Genfer
Friedensgespräche haben Wirkung, sie zeigen, dass es Partner für den Frieden
gibt. Eltern gefallener Soldaten protestieren öffentlich gegen die sinnlose
Opferung ihrer Kinder.
Es weht ein neuer Wind. Es entsteht neue Hoffnung. Wir werden alles tun,
damit diese Hoffnung wächst, damit sie zu einer historischen Wende führt.
Als ein Gush Schalom Aktivist nehme ich diese Auszeichnung dankbar an. Ich
bin besonders stolz, weil sie mit dem Namen Lew Kopelews verbunden ist. Alle
Kämpfer für Frieden und Menschenrechte in Israel, Palästina und in der
ganzen Welt, gehören einer internationalen Gemeinschaft an, für die Lew
Kopelew ein Vorbild war und ist.
Ich danke Ihnen. Wir werden Sie nicht enttäuschen.