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Europas Haltung im Nahostkonflikt:
Episode in Lissabon
Uri Avnery
Vor einigen Tagen gab es in Lissabon zwischen Miguel Angel
Moratinos, dem scharfsinnigen spanischen Diplomaten, und mir ein
Streitgespräch. Er war für ein paar Jahre Botschafter der EU in unserer
Region.
Zusammen mit Experten aus einem Dutzend Ländern- von Brasilien
bis Pakistan - trafen wir uns bei einer Konferenz des portugiesischen
Zentrums für internationale strategische Studien. In der Debatte über den
israelischen Konflikt nahm auch Ahmed Khalidi, der Herausgeber einer
renommierten palästinensischen Zeitschrift und Spross einer der vornehmsten
Familien Jerusalems, teil.
In meinem Vortrag kritisierte ich die zögerliche Haltung Europas, um des
Friedens willen gegenüber Israel Druck auszuüben. Ich sagte, diese Haltung
sei "skandalös". Auch Khalidi kritisierte die Europäer hart.
Als Moratino mit seiner Rede an der Reihe war, reagierte er wütend. "Woher
nehmen Sie die Unverschämtheit, sich über Europa zu beklagen?" fragte er und
wurde dabei ziemlich laut. "Wo ist die israelische Friedensbewegung, die die
politische Situation in Israel ändern sollte? Warum wird ihre Stimme nicht
gehört? Wollen Sie, dass Europa für Sie Ihre Arbeit macht?" Und sich an
Khalidi wendend: "Sie wollen, dass Europa etwas für Sie tut? Dann sorgen Sie
zunächst einmal dafür, dass der Terrorismus endet. Wenn Sie nicht dazu in
der Lage sind, klagen Sie nicht Europa an! Klagen Sie sich selbst an! Wenn
Sie beide das tun, was Sie tun sollten, dann wird auch Europa seinen Teil
tun!"
(Übrigens erzählte Moratino während des offiziellen Essens, es sei den
Europäern nach dem Fehlschlag des Camp-David-Gipfels gelungen, die
Amerikaner dahin zu bringen, mit einem Clinton-Arafat-Treffen einverstanden
zu sein. Arafat sollte am 1. Januar 2001 nach Washington fliegen. Aber Barak
war so sehr dagegen, dass dieses Treffen abgesagt wurde und stattdessen die
Gespräche in Taba stattfanden.)
Moratino hatte mit seiner Kritik ganz Recht. Tatsächlich neigen wir dazu,
andern die Schuld für unser Misslingen zu geben. Wir können nicht von
anderen – weder von Europäern noch von Amerikanern – erwarten, dass sie
unsere Arbeit tun. Wenn das Friedenslager unfähig ist, eine politische Macht
in Israel zu werden, sollten wir nicht anderen die Schuld geben. Dasselbe
gilt auch für die Palästinenser.
Nach der Debatte gaben wir uns versöhnlich die Hand. Ich gab ehrlich zu,
dass er Recht hat. Khalidi stimmte dem auch zu.
In den vergangenen Wochen aber geschah etwas an allen vier Fronten – an der
israelischen, palästinensischen, amerikanischen und europäischen Front. Das
mag ein Zeichen dafür sein, dass sich etwas zu bewegen beginnt.
An der israelischen Front ist das bekannteste Ereignis die Unterzeichnung
der "Genfer Gespräche". Nachdem junge Männer den Wehrdienst in den besetzten
Gebieten verweigerten, Kampfpiloten revoltierten, die
Ayalon-Nusseibeh-Initiative kam und schließlich die erstaunliche Erklärung
von vier früheren Geheimdienstchefs und die von niemandem erwartete Warnung
des Generalstabschefs, ist die Genfer Initiative ein weiterer Schritt in
dieselbe Richtung.
Seit drei Jahren standen die außerhalb des Establishment sich befindenden
Friedenskräfte allein auf dem Schlachtfeld. Wir protestierten,
demonstrierten, hielten den Kontakt mit den Palästinensern, versuchten die
Weltmeinung zu verändern. Die ganze Zeit war von der mit dem Establishment
verbundenen Friedensbewegung nach ihrem Kollaps kaum etwas zu sehen und zu
hören. Die Besatzung wurde von Tag zu Tag schlimmer, Sharon tat, was er
wollte, die Opposition war gestorben. Es herrschte der Slogan: "Da gibt es
niemanden, mit dem man reden könnte."
Jetzt gibt es ein Erwachen. Es scheint, die Menschen hier haben die blutigen
Konfrontationen einfach satt. Sie verstehen endlich, dass es keine
militärische Lösung gibt, dass dieser Kampf unsere Wirtschaft zerstört und
die Armut größer wird. Die Genfer Initiative ist genau zum richtigen
Zeitpunkt gekommen, um die neue Stimmung auszudrücken.
Ihr größter Vorteil liegt darin, dass sie zeigt: es gibt "jemanden, mit dem
geredet werden kann"; und dass es ein Friedensmodell gibt, mit dem beide
Seiten leben können. Sie wird sehr dazu beitragen, einen neuen nationalen
Konsens zu bilden.
Ihr Nachteil ist, dass sie keine solide politische Basis hat. Sie
boykottiert die radikalen Friedenskräfte auf der Linken, während sie von
rechts durch von Peres angeführte Labor-Parteifunktionäre angegriffen wird.
Das politische Establishment hat den Verdacht, die Genfer Initiative werde
von Yossi Beilin als Instrument bei seinen Bemühungen benützt, um eine neue
politische Partei zu gründen, nachdem er seinen Platz in der Laborpartei
verloren hat.
Was mir am meisten Sorge bereitet, ist, dass sie nicht darauf abgestimmt
ist, Begeisterung von unten her zu wecken. Sie ist ein Dokument von
Rechtsanwälten: trocken und sachlich. Das ist einerseits gut, andrerseits
nicht so gut. Ihre Initiatoren erklären, es sei "kein Heiratsvertrag,
sondern eher ein Scheidungserlass", was Scheidung zwischen Israelis und
Palästinensern bedeutet. Das ist genau das Gegenteil von unserer Botschaft:
"Zwei Staaten – eine Zukunft".
Aber alles in allem ist sie eine positive Initiative, die zur richtigen Zeit
kommt und den Weg für weitere Initiativen ebnet. Es sieht so aus, als gehe
unsere Eiszeit zu Ende. Sogar Sharon fühlt dies. Plötzlich ist er sehr daran
interessiert, Abu Ala zu treffen. Er spricht von "einseitigen Schritten".
Man sollte ihm kein Wort glauben, doch allein die Tatsache, dass er solche
Worte äußert, zeigt, es wandelt sich tatsächlich etwas.
Auf der palästinensischen Seite gibt es auch eine Veränderung. Abu Ala
arbeitet - eng zusammen mit Arafat – an einem neuen Waffenstillstand (Hudna)
zwischen den palästinensischen Fraktionen, der dieses Mal auch mit einem
Waffenstillstand mit Israel verknüpft sein soll. Alle Seiten bemühen sich
darum, alle Gewaltakte zu beenden, und Sharon wird darum gebeten, wirkliche
Konzessionen zu machen.
Wenn dies gelingt – ein sehr großes "Wenn"! – mögen die Bedingungen für eine
tiefgreifende Änderung in der öffentlichen Meinung beider Seiten reif sein.
Das wäre die Vorbedingung für eine echte Bewegung in Richtung Frieden.
An der amerikanischen Front geschehen interessante Dinge.
Alle Experten sahen voraus, Bush werde sich mit dem Näherkommen der Wahlen
von allem zurückhalten, das den Zorn der jüdischen und
fundamentalistisch-christlichen Lobbys erregen würde. Aber siehe da!
Washington unterstützt öffentlich und fast offiziell die Nusseibeh-Ayalon-
und die Genfer Initiativen. Präsident Bush drückte ziemlich starke
Missbilligung über Sharons Aktionen aus – zusammen mit der routinemäßigen
Verurteilung der Palästinenser. Er zog auch eine symbolische Summe von den
amerikanischen Darlehensbürgschaften ab, die Israel gewährt werden.
Das ist nicht viel. Tatsächlich sogar sehr wenig. Aber wir sind nicht
verwöhnt – selbst kleine amerikanische Gesten können eine Menge helfen. Für
Sharon ist die amerikanische Verbindung der kostbarste Stein in seiner
Krone, viel wichtiger als alles andere. Die kleinste Veränderung lässt in
seinem Kopf eine rote Glühbirne aufleuchten.
Vielleicht hat sich im Vergleich zu anderen Orten die interessanteste
Veränderung in Europa zugetragen. Während des Streitgespräches mit Moratino
in Lissabon wusste ich und er vermutlich auch nicht, dass sich auf unserem
Boden etwas zu bewegen beginnt.
Vor sechs Jahren erklärte Gush Shalom einen Boykott der Produkte aus den
Siedlungen. Wir sagten: "Jeder Schekel für die Siedlungen ist ein Schekel
gegen den Frieden". Wir stellten eine Liste dieser Produkte zusammen und
verteilten sie weit und breit. Zehntausende von Familien schlossen sich uns
an.
Unser Ziel war es, den Transfer israelischer Fabriken in die besetzten
Gebiete zu verhindern, die dort von der Regierung – Labor wie Likud – große
Subventionen erhalten. Wir sagten ihnen: am Ende werdet ihr verlieren, weil
der israelische und die ausländischen Märkte für euch geschlossen sein
werden.
Unsere Initiative hat anscheinend die Europäer aufgeweckt. Waren mit dem
Aufdruck "Made in Israel" werden in Europa von Zöllen ausgenommen, aber das
Handels-( bzw. das Assoziierungs)abkommen mit der Europäischen Union
schließt ausdrücklich Waren aus, die jenseits der 1967-Grenze, der grünen
Linie, produziert werden. Die israelische Regierung ignorierte dieses
Abkommen und brach es offenkundig. Die europäischen Offiziellen sahen dies,
knirschten mit den Zähnen und schlossen ihre Augen, weil einige europäische
Länder (Deutschland, Holland u.a.) jede Aktion gegen Israel verhinderten.
Jetzt hat sich das anscheinend plötzlich verändert. Seit kurzem haben die
Europäer verlangt, dass jede verdächtige israelische Firma ein Äquivalent
des üblichen Zolles hinterlegen muss, bis sie bewiesen hat, dass sie sich
nicht jenseits der grünen Linie befindet.
Die Exporteure schrieen auf. In dieser Woche hat die israelische Regierung
verkündet, dass von jetzt an der tatsächliche Ort der Herstellung auf allen
nach Europa gehenden Waren klar vermerkt werden muss.
Zu guter Letzt eine entschlossene europäische Tat! Unternehmen, die vom
Export nach Europa abhängig sind, werden gezwungen sein, die Siedlungen zu
verlassen und nach Israel selbst zurückzukehren. Halleluja!
Es ist so, wie Galileo sagte: "Und sie bewegt sich doch!"
(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
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hagalil.com 02-12-2003 |
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