Uri Avnery
Haaretz, eine der israelischen Zeitungen, bringt die beiden Begebenheiten
auf ihrer Titelseite: den hundertsten Todestag von Theodor Herzl, dem
Gründer der modernen zionistischen Bewegung, und das Urteil des
Internationalen Gerichtshofes ( ICJ), der den israelischen Trennungswall für
illegal erklärte. Die Verbindung zwischen beiden scheint zufällig. Welche
Verbindung könnte zwischen dem Gedenken eines historischen Datums und dem
letzten aktuellen Geschehen möglich sein?
Doch da gibt es eine Verbindung. Sie ist in einem von Herzl geschriebenen
Satz in "Der Judenstaat" enthalten, dem Buch, das zum Eckstein des Zionismus
wurde. Er lautet: "Dort (in Palästina) werden wir ein Stück des Walles gegen
Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei
besorgen."
Dieser Satz könnte sogar heute geschrieben sein. Amerikanische Denker reden
vom "Zusammenstoß der Zivilisationen", der westlichen "judeo-christlichen"
Kultur, die auf die "islamische Barbarei" stößt. Amerikanische Führer
erklären, dass Israel der Vorposten der westlichen Zivilisation im Kampf
gegen den arabisch-muslimischen "internationalen Terrorismus" sei. Zu diesem
Zweck baut Sharon eine Mauer (so wird gesagt), um Israel vor dem
palästinensisch-arabischen Terror zu schützen. Man erklärt bei jeder
Gelegenheit, dass der Kampf gegen den "palästinensischen Terrorismus" ein
Teil des Kampfes gegen den "internationalen Terrorismus" sei. Die Amerikaner
unterstützen die israelische Mauer mit ganzem Herzen und mit ihrem Geld.
Selbst der halboffizielle Name der Barriere – "Trennungszaun" – betont diese
Tendenz. Die Absicht ist, zwischen Nationen, zwischen Zivilisationen und
tatsächlich zwischen der Kultur (der unsrigen) und der Barbarei (der
ihrigen) zu trennen.
Dies sind profunde ideologische, meist unbewusste Gründe, um die Mauer zu
bauen. Oberflächlich betrachtet, scheint es eine praktische Antwort auf eine
wirkliche und gegenwärtige Gefahr zu sein. Ein gewöhnlicher Israeli wird
sagen: "Bist du verrückt? Wovon sprichst du eigentlich? Was hat das mit
Herzl zu tun? Er starb vor hundert Jahren!" Aber es gibt tatsächlich eine
direkte Verbindung.
Dies trifft auch auf einen anderen Aspekt der Mauer zu. Zu Herzls Zeit wurde
ein Satz geprägt, der zum Slogan der frühen zionistischen Bewegung wurde:
"Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land." Mit anderen Worten: Palästina
ist ein leeres Land.
Jedem, der an der geplanten Route der Mauer entlang fährt, fällt sofort ein
Aspekt auf: der Verlauf der Mauer wurde ohne die geringste Rücksicht auf das
Leben der dort lebenden palästinensischen Menschen bestimmt. Die Mauer
trifft sie so, wie eine Ameise, die achtlos zertreten wird. Die Bauern
werden von ihren Feldern getrennt, die Arbeiter von ihren Arbeitsplätzen,
Schüler von ihren Schulen, kranke Leute vom Krankenhaus, die Trauernden von
den Gräbern ihrer Angehörigen.
Man kann sich gut vorstellen, wie sich Militärs und Siedler über eine
Landkarte beugen und den Verlauf der Mauer planen – als ob es eine leere
Landschaft wäre mit nichts außer Siedlungen, Armeebasen und Landstraßen. Sie
argumentieren über die Topographie, taktische Erwägungen und strategische
Ziele. Palästinenser? Was für Palästinenser?
Der israelische Oberste Gerichtshof, der letzte Woche seine Entscheidung
getroffen hat, konzentrierte sich vor allem auf diesen Punkt. Er bestritt
nicht die Erklärungen der Generäle, dass die Mauer notwendig sei. Wenn die
Generäle das sagen, steht das Gericht in Habachtstellung und salutiert Das
Gericht hat auch nicht entschieden, dass die Mauer auf der Grünen Linie, der
international anerkannten Grenze zwischen Israel und den 1967 besetzten
Gebieten gebaut werden solle – übrigens wäre es auch die kürzeste und am
leichtesten zu verteidigende Route. Es erkannte aber die Tatsache an, dass
diese Gebiete von palästinensischer Bevölkerung bewohnt sind, und verlangte,
dass ihre menschlichen Bedürfnisse berücksichtigt werden müssten.
Während der vergangenen Woche wurde klar, dass die Armee bereit ist, einige
Korrekturen am Verlauf der Mauer zu machen, aber nicht die Grundkonzeption
zu ändern. Die korrigierte Route schafft für die Palästinenser immer noch
Enklaven und begrenzt ihre Bewegungsfreiheit, wenn auch weniger als vorher.
Einige der Bauern werden wieder mit ihrem Land verbunden werden. Mehr nicht.
Nun kommt der Internationale Gerichtshof und verkündet Prinzipien, die den
israelischen Friedenskräften, die gegen die Mauer demonstrierten, viel näher
stehen. Er sagt, dass die Mauer selbst illegal sei, außer dort, wo sie an
der Grünen Linie entlang geht. Alle innerhalb der besetzten Gebiete gebauten
Abschnitte verletzen das internationale Gesetz sowie die Konventionen und
Abkommen, die von Israel unterzeichnet wurden.
Der Gerichtshof sagt, dass diese Abschnitte der Mauer entfernt, die
Situation wieder wie zuvor hergestellt und die Palästinenser für den ihnen
zugefügten Schaden entschädigt werden müssen. Alle Staaten der Welt werden
dazu aufgerufen, sich jeder Hilfe für den Mauerbau zu enthalten.
Wird dies irgendeine Wirkung auf die Meinung der israelischen Öffentlichkeit
haben? Ich fürchte, nein. Während der letzten Monate bereitete die
offizielle Propagandamaschine die Öffentlichkeit auf diesen Tag vor. Sie
ließ verlauten, die Richter des Internationalen Gerichtshofs seien
Antisemiten, es sei ja wohl bekannt, dass alle Nationen, außer den USA, den
jüdischen Staat zerstören wollten. Vor ein paar Jahren gab es ein lustiges
Lied: "Alle Welt ist gegen uns, aber was kümmert uns das?" Sollen sie zur
Hölle gehen!
Wird dies irgendeine Wirkung auf die öffentliche Meinung der Welt haben?
Wahrscheinlich, obwohl die "beratende Stellungnahme" des Gerichtshofes nicht
bindend ist, und der Gerichtshof keine Armee oder Polizei hat, um seine
Entscheidungen durchzusetzen. Es hat keinen Zweck, diese dem Sicherheitsrat
zu unterbreiten, wo sie automatisch von einem amerikanischen Veto
abgeschossen werden. Jederzeit und erst recht kurz vor den Wahlen wird eine
amerikanische Regierung es sehr ungern tun, die pro-israelische Lobby - die
jüdische sowieso - und die christlich-fundamentalistische zu verärgern. Die
USA wird den Gerichtshof ignorieren und die Mauer weiter finanzieren.
Aber in der veto-freien UN–Vollversammlung wird es eine ausführliche Debatte
geben, die die Scheinwerfer auf die wirkliche Natur der Mauer werfen wird.
Der Propagandamaschine der Sharon-Regierung, die von den meisten Medien der
Welt unterstützt und begünstigt wurde, ist es gelungen, die Mauer als
notwendiges Mittel zur Verhinderung von Selbstmordattentaten innerhalb
Israels darzustellen. Die Debatte innerhalb der Vollversammlung kann helfen,
dass viele den wirklichen Zweck des Monsters veröffentlichen.
Einen Tag vor dem Urteil des IJC war ich in einem großen Zelt in A-Ram,
nördlich von Jerusalem, einer Stadt, die eines der Hauptopfer der Mauer ist.
Dort fand ein Hungerstreik von Palästinensern und Israelis gegen die Mauer
statt. Der Ort zog Pilger von überall im Lande an.
Im Zelt fand die Weltpremiere eines Films statt. Seine Regisseurin Simone
Bitton, eine Israelin nordafrikanischer Herkunft, die in Paris lebt, zeigte
die Mauer, wie sie tatsächlich ist.
Im Film berichten Palästinenser, was die Mauer ihnen angetan hat. Ein
jüdischer Kibbuzbewohner sagt, dass sie für Israel ein Unglück sei, für das
wir selbst verantwortlich seien. Der Direktor des Verteidigungsministeriums,
General Amos Yaron (der von seinem Armeeposten von der Kahan
–Untersuchungskommission entlassen wurde, weil er in die Sabra- und
Shatila-Affäre verwickelt war) erklärt, dass die Palästinenser selbst an
ihrem Leiden schuld seien. Wenn sie nicht gegen die Besatzung Widerstand
leisten würden, dann wäre auch die Mauer nicht nötig.
Die bewegendste Szene war rein visuell, eine Sequenz ohne Worte. Man sieht
grüne Felder und Olivenhaine, die sich bis zum Horizont erstrecken -
dazwischen ein paar Dörfer mit ihren schlanken Minaretten. Ein riesiger Kran
zieht eine mächtige Betonplatte hoch und setzt sie an ihren Platz in der
Mauer. Sie deckt nun einen Teil der Landschaft zu. Eine zweite Betonplatte
verdeckt noch mehr der Landschaft, eine dritte Betonplatte deckt sie völlig
zu. Dabei wird einem klar, dass direkt vor den eigenen Augen noch ein Dorf
auf immer vom Leben abgeschnitten wurde – durch die 8 Meter hohe Mauer, die
das Dorf von allen Seiten einschließt.
Im selben Augenblick blitzte mir ein Gedanke durch den Kopf: derselbe Kran,
der jetzt die Platten setzt, kann sie schließlich auch wieder entfernen. So
geschah es in Deutschland. Es wird auch hier geschehen. Die Entscheidung der
Richter in Den Haag, die aus 15 verschiedenen Ländern kommen, haben ihren
Beitrag geleistet.
Vielleicht ist es eine Ironie der Geschichte: die Richter, die die
europäische Kultur vertreten, fordern, dass die Mauer entfernt wird. Wenn
Herzl dies miterlebt hätte, würde er sich sehr gewundert haben.