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Uri Avnery ZNet
11.10.2002
Ein ‘jüdisch-demographischer Staat’?
Klingt wie ein schlechter Witz, ist aber leider wahr: Ein israelischer
Rabbi hat sich nach Peru aufgemacht, um dort einige amerikanische
Ureinwohner zum Judaismus zu bekehren, anschließend hat er sie dann nach
Israel geschleppt u. in einer jüdischen Siedlung untergebracht - also auf
Land, das man zuvor den palästinensischen Besitzern abgenommen hatte.
Dort werden diese Peruaner mittlerweile - wie alle (jüdischen) Siedler -
großzügig mit Regierungsgeldern subventioniert - Geld, das Tausenden
Israelis, die unterhalb der Armutsgrenze leben, vorenthalten bleibt. Und
wenn sie nicht gestorben sind, die Peruaner, dann leben sie munter weiter in
der Siedlung (es sei denn, sie begehen den Fehler u. verlassen sie in einem
ungepanzerten Fahrzeug, dann könnte es ihnen nämlich passieren, dass sie in
einen Hinterhalt der ursprünglichen palästinensischen Landesbesitzer
geraten).
Was für einen Grund könnte ein Staat wohl haben, völlig fremde Leute von
einer Hemisphäre zur andern zu schaffen, damit sie die eigene eingeborene
Bevölkerung vertreiben, die hier seit Jahrhunderten ansässig ist - u. dafür
einen ewigen blutigen Konflikt in Kauf zu nehmen? Die Antwort auf diese
Frage trifft die Grundfesten des israelischen Staats. Seit Gründung des
Staats Israel waren dessen Emissäre emsig unterwegs, “Juden” (aus aller
Welt) zusammenzuholen. Auch in der ehemaligen Sowjetunion wurden sie
angeblich ‘fündig’: Christen mit weitläufiger jüdischer Verwandtschaft (die
berühmte “jüdische” Großmutter) oder auch Leute, die schlicht gefälschte
Stammbäume vorzeigten. Keiner weiß genau, wieviele Nichtjuden auf diese Art
durch Vermittlung der ‘Jewish Agency’ (Jüdische Agentur) oder anderer
Organisationen nach Israel gelangt sind - mindestens 200.000, womöglich
sogar 400.000. Gemäß israelischem Gesetz erhielten sie ganz automatisch die
israelische Staatsbürgerschaft.
Vor wenigen Tagen hat man dem ‘National Demographic Council’ (Nationaler Rat
für Demographie) neues Leben eingehaucht, nachdem er zuvor jahrelang zur
Inaktivität verdammt gewesen war. Dabei handelt es sich um eine Institution
- befasst mit einem Thema, welches manche Israelis als das dringendste
Problem unseres Landes begreifen, drängender noch als der Krieg mit den
Palästinensern, als Saddams Massenvernichtungswaffen, als unsere wachsende
Arbeitslosigkeit oder die Wirtschaftskrise: das “demographische Problem”
nämlich. Man grübelt darüber in Universitäten, diskutiert es in den Medien,
Kommentatoren u. Politiker erläutern es uns. Und mit Computern bewehrte
“Experten” rechnen uns vor, wie hoch in Israel der prozentuale Anteil der
Juden in 10, 25, 50 oder 100 Jahren sein wird. Wird ihr Anteil wohl unter 78
Prozent sinken - oder Gott bewahre! - gar auf 75 Prozent absacken. Wird wohl
die Gebärfreudigkeit orthodoxer Jüdinnen - plus zu erwartende (jüdische)
Einwanderung - ausreichend sein, den Ausstoß arabischer Uteri auszugleichen?
Und falls nicht, was kann man dagegen unternehmen?
Einige schlagen vor, massive Anreize für jüdische Geburten zu schaffen,
während man den natürlichen Bevölkerungszuwachs der Araber hemmen sollte.
Andere schlagen vor, den jüdischen Immigranten aus Russland zu verbieten,
ihre christlichen Angehörigen mitzubringen (was unser Rückkehrrechts-Gesetz
in seiner jetzigen Form ja noch erlaubt). Einige fordern, sofort alle
Gastarbeiter aus dem Land zu werfen - bevor die sich hier häuslich
niederlassen u. Familien gründen. Andere wiederum beten für eine Welle des
Antisemitismus in Frankreich oder Argentinien (aber bitte um Gotteswillen
nicht in den USA!), die uns Massen von Juden ins Land treiben könnte. Und
viele, darunter auch Mitglieder der Scharon-Regierung, votieren für die
allersimpelste Lösung: werft alle Araber aus dem Land. Auch einer der “neuen
Historiker”, Benny Morris, machte kürzlich eine entsprechende Bemerkung:
Ben-Gurion hätte das gleich 1948 erledigen sollen.
Die Einstellung des Staats Israel zu seinen arabischen Bürgern - inzwischen
noch 19 Prozent der Bevölkerung - erinnert stark an jenen biblischen
Pharaonen, der laut ‘Altem Testament’ seinem ägyptischen Volk folgende
Empfehlung in Bezug auf die damalige nationale Minderheit, nämlich das
israelitische Volk, gab: “Wohlan, wir müssen uns ihm gegenüber klug
verhalten, damit es nicht noch zahlreicher wird.” Und bzgl. der Methoden
heißt es (Exodus 1): “Sie verbitterten ihnen das Leben”.
Laut offizieller Definition ist Israel ein ‘Jüdisch-Demokratischer Staat’.
So ist es im Gesetz fixiert, u. so hat es der Oberste Gerichtshof Israels
bestätigt. Theoretisch stellen die beiden Adjektive (‘jüdisch’ u.
‘demokratisch’) keineswegs einen Widerspruch dar: unser Staat ist zwar
jüdisch, aber auf der anderen Seite garantiert die demokratische Verfassung
die Gleichstellung der Nichtjuden im Land - respektive umgekehrt: unser
Staat ist demokratisch mit einem gewährleisteten jüdischen Charakter.
Die Wirklichkeit sieht indes anders aus: dies ist kein
‘jüdisch-demokratischer’ vielmehr ein ‘jüdisch-demographischer Staat’. In
allen Bereichen hat die Demographie Vorrang vor der Demokratie. So wird
unsern arabischen Mitbürgern von Kindesbeinen an u. in jeder Situation
klargemacht: Nein, ihr seid kein Teil unseres Staates, ihr seid bestenfalls
geduldete Bewohner. Ganz gleich, wo ein Araber auch hinkommt, in eine
Behörde, auf die Polizeistation oder an seinen Arbeitsplatz - ja selbst in
der Knesset wird er anders behandelt als ein Jude, u. das selbst in Zeiten
relativer Ruhe. Sicher - abgesehen vom Rückkehrrechts-Gesetz, das Juden bzw.
jüdischen Familien das uneingeschränkte Recht auf Einreise nach Israel
einräumt (ganz im Gegensatz zu arabischen Flüchtlingen), existiert in Israel
kein Gesetz, das in diskriminierender Weise zwischen Juden u. Nichtjuden
unterscheiden würde. Aber das ist alles rein vordergründig. In Wirklichkeit
gibt es unzählige Gesetze, die denjenigen spezielle Privilegien einräumen,
“auf die das Rückkehrrechts-Gesetz anzuwenden ist” - wobei der explizite
Begriff ‘Jude’ vermieden wird. Das alles ist bei uns etwas so
Selbstverständliches, dass sämtliche offizielle staatliche Stellen
entsprechend handeln, ohne erst viel zu überlegen. Die ‘Israelische
Landbehörde’ beispielsweise verteilt Land nur an Juden, keineswegs an
Araber. Und auch sämtliche Landesentwicklungsprogramme denken ausschließlich
an Juden. Seit Gründung des Staats Israel wurden so hunderte neuer Dörfer u.
Städte geschaffen - aber nicht ein einziger neuer Ort für Araber. Wir haben
keinen einzigen arabischen Minister im Kabinett sitzen u. keinen einzigen
arabischen Richter auf der Bank des Obersten Gerichtshofs.
Normalerweise werden all diese Defizite mit dem derzeitigen palästinensisch-
israelischen Konflikt wegerklärt. Schließlich sind die arabischen Bürger
Israels ja auch Palästinenser. Stellt sich allerdings die Frage, was war
zuerst da, die Henne oder das Ei? Ist die anti-arabische Haltung Israels nun
Resultat des bewaffneten Konflikts oder verhält es sich genau umgekehrt:
hält diese anti- arabische Haltung vielmehr den Konflikt am laufen?
Israel-Kritiker werfen unserm Staat vor, er betreibe eine
Apartheids-Politik, analog der südafrikanischen Rassismus-Doktrin. Diese
Analogie ist jedoch zum Teil ein Holzweg. Denn anders als Apartheid basiert
Zionismus nicht auf Rasse. Vielmehr stellt er eine Mischung aus
Ghetto-Mentalität u. europäischem 19.-Jahrhundert-Nationalismus dar. Mit
‘Ghetto-Mentalität’ meine ich die Denkweise einer verfolgten, isolierten
Gemeinschaft, die die Welt insgesamt unterteilt sah in Juden u. Nichtjuden.
Der europäische Nationalismus andererseits trat für die Schaffung homogener,
national-ethnischer Staaten ein. Der jüdisch-demographische Staat saugt
hiervon beide Elemente auf - insofern er einen homogen-jüdisch,
national-ethnischen Staat verkörpert - mit sowenig Nichtjuden in seiner
Mitte wie möglich.
In Europa, dem Geburtsland des klassischen Nationalismus, findet derzeit ein
Übergang statt - hin zum eher modernen Verständnis der USA. In Amerika ist
ja jeder mit einem amerikanischen Pass automatisch Teil der amerikanischen
Nation - unabhängig von seiner Hautfarbe u. seiner ethnischen Zugehörigkeit.
Dieses Verständnis hat wesentlich dazu beigetragen, Amerika zum mächtigsten
Land der Erde zu machen - sowohl in kultureller, wirtschaftlicher als auch
militärischer Hinsicht. Zudem leiten die Nationalstaaten Europas ihre
Souveränität immer mehr auf die EU über. Und sie gewähren ihren Immigranten
die Staatsbürgerschaft - schließlich leisten diese ja auch einen
wesentlichen wirtschaftlichen Beitrag bzw. helfen dabei, die sozialen
Sicherheitssysteme abzusichern. In Deutschland beispielsweise wird
Immigranten-Kindern, die im Land geboren sind, die deutsche
Staatsbürgerschaft gewährt. Frankreich u. Großbritannien sind noch
wesentlich liberaler.
Das heutige Israel steht vor einer historischen Entscheidung: Entweder, es
regrediert zum jüdischen Ghetto - mit demographischer Überfremdungsangst u.
nationalem Staats-Dschinderassabum - oder es wählt den Weg in die Zukunft u.
entwickelt eine neue nationale Perspektive, angelehnt an das
amerikanisch-europäische Modell. Der Zionismus war die letzte
Nationalbewegung Europas. So gesehen ist auch der israelische Kolonialismus
200 Jahre zu spät dran. Vielleicht ist es auf diesem Hintergrund ganz
normal, dass uns auch die Herausforderung einer neuen nationalen Perspektive
mit Verspätung erreicht. Aber letztendlich, so meine Hoffnung, wird der
‘Jüdisch-Demographische Staat’ doch noch der ‘Demokratischen Republik
Israel’ weichen müssen - im Interesse der Sicherheit u. des Wohlergehens
seiner Bürger.
Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel:
"Israel: The Jewish Demographic State?"
To discus this article:
hagalil.com/forum
hagalil.com 14-11-2002 |
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