Uri Avnery
Chirac - Scharon:
Der hilfsbereite Pfadfinder
„In einer dramatischen Fernsehsendung ruft der russische Präsident
Vladimir Putin die eine Million russischer Emigranten in Israel auf, in
Anbetracht der wachsenden Gefahr für ihre Sicherheit sofort in ihre Heimat
zurückzukehren.“
Das geschah natürlich nicht. Aber man kann sich leicht vorstellen, wie die
Reaktion in Israel gewesen wäre, wenn Putin tatsächlich solch einen Aufruf
erlassen hätte. Oder wenn der Präsident Frankreichs, Jacques Chirac, alle
französisch Sprechenden in Israel, die Hunderttausende von Immigranten aus
Frankreich und Nordafrika, aufgefordert hätte, nach Frankreich umzuziehen,
wo ihr Leben nicht von Selbstmordattentätern bedroht sei.
Die israelischen Medien wären außer sich gewesen. Die Knesset hätte in einer
Krisensitzung den schmachvollen antisemitischen Ausbruch des Präsidenten von
Russland und / oder von Frankreich öffentlich angeprangert. Die Politiker
hätten sich gegenseitig mit Verurteilungen der unzulässigen Einmischung in
die internen Angelegenheiten Israels übertroffen. Das Amt des
Außenministeriums hätte die Rückkehr des israelischen Botschafters in Moskau
und/ oder Paris für „Konsultationen“ angeordnet.
Was aber tatsächlich geschah, war genau das Gegenteil. Es war der
israelische Ministerpräsident, der die französischen Juden aufrief, ihre
Heimat „so bald wie möglich“ zu verlassen und hinsichtlich der - angeblichen
– antisemitischen Welle in Frankreich nach Israel zu kommen.
Die französische Regierung und die Medien reagierten genau, wie ihr
israelisches Gegenstück reagiert hätte.
Jeder hundertste Franzose ist jüdisch.
„Ein beklagenswertes Missverständnis“, intonierte der offizielle
französische Regierungssprecher – was in nicht diplomatischer Sprache heißt:
„Halt den Mund, du Schuft!“
Weltweit versuchten tiefschürfende Kommentatoren die verborgenen Motive
Sharons zu ergründen. War es eine verschleierte Warnung an Frankreich, bei
der UN-Vollversammlung nicht zugunsten des Urteils des Internationalen
Gerichtshofs zu stimmen (Frankreich stimmte trotzdem für sie und zwang ganz
Europa, ihm zu folgen)? Tat er es Präsident Bush zuliebe, der Chirac hasst?
Die Wahrheit ist viel einfacher. Es ist unmöglich, Sharons Absicht zu
erraten; denn er hat keine. Es war eine irrelevante Rede vor einer
irrelevanten Zuhörerschaft. Sharon wollte etwas sagen, das ihm fünf Sekunden
beim Fernsehen einbringt – und die bekam er.
Jeder war befriedigt: die TV-Stationen, der Ministerpräsident, seine
Zuhörerschaft und die allgemeine Öffentlichkeit. Jeder d.h. mit Ausnahme der
Franzosen.
In Israel war es ein unwichtiges Routinestatement. Die israelischen Führer
rufen bei jeder sich bietenden Gelegenheit jüdische Gemeinden auf, alles
fallen zu lassen, und nach Israel zu kommen. Wenn es nur irgendwo Anzeichen
von Antisemitismus gibt, ist dies eine automatische Reaktion.
Falls es ein Missverständnis gibt, dann ist es gegenseitig. Man könnte es
auch mit der augenblicklich gängigen Phrase als einen „Zusammenprall der
Zivilisationen“ bezeichnen: der französisch-europäischen und der
israelisch-zionistischen.
Nach französischer Sichtweise sind französische Juden Franzosen. Die
Republik gründet sich nicht auf Religion oder Ethnien. Nach französischer
Sichtweise ist jeder Bürger ein Partner in der Republik und der
französischen Kultur – ob Christ oder Jude, Elsässer oder Bretone,
Nordafrikaner oder Korse. Das ist die Grundlage der Republik.
Und nun kommt ein Ministerpräsident eines ausländischen Landes daher und hat
die Unverfrorenheit – um nicht Chutzpa (Frechheit) zu sagen – genau diese
Grundmauern der Republik zu attackieren und unter seine Bürger Uneinigkeit
zu säen. Das ist der schwerste Angriff auf Frankreich, sieht man von einem
direkten militärischen Angriff ab.
Nach israelischem Verständnis sieht es ganz anders aus. Gemäß der
offiziellen Doktrin ist Israel „der Staat des jüdischen Volkes“. Das
„jüdische Volk“ besteht aus allen Juden weltweit, egal ob sie in Brooklyn,
Barcelona oder Bratislava leben.
Jedes Schulkind lernt, dass alle Juden der Welt früher oder später nach
Israel kommen werden. Es gibt keine andere Wahl, da die Goyim (Nicht-Juden)
die Juden hassen, und deshalb werden die Antisemiten in allen Ländern zu
gegebener Zeit an die Macht kommen. Israel existiert deshalb, um ihnen einen
sicheren Hafen anzubieten, wenn sie gezwungen werden zu fliehen, sobald das
Unvermeidliche eintritt.
Dies erklärt die ambivalente Reaktion des israelischen Establishments auf
jeden antisemitischen Vorfall irgendwo. Die natürliche Reaktion ist
natürlich Zorn und Verurteilung. Aber es gibt auch noch eine andere
Reaktion, eine verborgene, die an eine Art Zufriedenheit grenzt: Haben wir
es nicht gesagt? Jetzt geschieht es. Wir hatten schon immer recht.
Beide Reaktionen führen zu dem Ruf: Kommt, Brüder, bevor es zu spät ist!
Dies erinnert an den Scherz mit dem hilfsbereiten Pfadfinder, der eine alte
Dame über die Straße begleitet, ob sie will oder nicht.
Chirac ist also wütend, und Sharon ist eigensinnig und wiederholt seinen Ruf
– und in der Mitte steht der arme französische Jude, der allein gelassen
werden möchte.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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hagalil.com 22-07-2004 |