"Sie legen eine Landmine.
Eines Tages werden Sie sie demontieren müssen"
Auf dem Weg zum Bürgerkrieg
Uri Avnery
In Israel spricht im Augenblick jeder über den nächsten
Krieg. Im populärsten Fernsehkanal läuft darüber sogar eine ganze Serie.
Nicht über noch einen Krieg gegen die Araber. Nicht über die nukleare
Bedrohung aus dem Iran. Nicht über die fortdauernde blutige
Auseinandersetzung mit den Palästinensern.
Man spricht über einen bevorstehenden Bürgerkrieg.
Vor nur wenigen Monaten hätte dies absurd geklungen. Auf
einmal wird dies nicht nur denkbar, sondern eine sehr reale Möglichkeit. Es
ist nicht eine weitere aufgebauschte Mediensensation. Es sind keine weiteren
politischen Manipulationen Ariel Sharons. Nicht nur ein weiterer
Erpressungstrick der Siedler – sondern eine reale Angelegenheit.
Man spricht darüber bei Kabinettstreffen und in der Knesset, bei
Fernseh-Talkshows, in Leitartikeln und auf den Nachrichtenseiten. Der
General-stabschef hat öffentlich davor gewarnt, die Armee könne aus einander
fallen. Einer der Minister sagt, sogar die Existenz Israels stehe auf dem
Spiel. Ein anderer Minister prophezeit ein Blutbad wie im Spanischen
Bürgerkrieg.
Mal still, mal weniger still bereitet sich der Geheimdienst (Shin Bet) mit
Vorbeugemaßnahmen vor. Der Gefängnisverwaltung ist befohlen worden,
Einrichtungen für Massenverhaftungen vorzubereiten. Die Armeeführung plant,
zehntausend Reservesoldaten einzuziehen, und denkt nach, welche Schritte im
Fall eines Falles unternommen werden müssten.
Es ist tatsächlich eine sehr ernste Bedrohung.
Auf den ersten Blick hin, mag es aussehen, als käme sie aus dem Nirgendwo.
Doch wer Augen hat, die sehen, wusste, dass dies früher oder später
eintreten werde.
Die Saat für einen Bürgerkrieg wurde gesät, als die erste Siedlung in den
besetzten Gebieten errichtet wurde. Damals sagte ich zum Ministerpräsidenten
in der Knesset: "Sie legen eine Landmine. Eines Tages werden Sie sie
demontieren müssen. Als früherer Soldat möchte ich Sie davor warnen, denn
das Demontieren von Landminen ist ein sehr unangenehmer Job." Seitdem sind
Hunderte von Minen gelegt worden. Und noch immer werden die Minenfelder
ausgeweitet.
Der Prozess wurde von religiösen Spinnern angeführt. Ihr erklärtes Ziel sei
es - so sagten sie damals und werden nicht müde, dies zu wiederholen - alle
Araber aus dem Land zu treiben, das uns Gott versprochen hat. Und das uns
von Gott verheißene Land ist, woran uns neulich wieder einmal einer von
ihnen im Fernsehen erinnerte, nicht das "Palästina" des britischen Mandats -
nein, das Land der Verheißung schließt Jordanien, den Libanon und Teile von
Syrien und den Sinai mit ein. Ein anderer zitierte aus der Bibel und
erklärte, wir seien in dieses Land gekommen, nicht nur um es zu erben,
sondern um andere zu enterben, sie zu vertreiben und ihren Platz
einzunehmen.
Seitdem der damalige Verteidigungsminister, Shimon Peres Kedumim, die erste
Siedlung mitten in die palästinensische Bevölkerung auf der Westbank
eingepflanzt hat, breiten sie sich aus. Jede Siedlung hat nach und nach das
Land und Wasser der benachbarten palästinensischen Dörfer gestohlen, ihre
Bäume entwurzelt, ihre Straßen blockiert und neue Straßen gebaut, die für
Palästinenser gesperrt sind. Fast alle Siedlungen haben Ableger auf den
benachbarten Hügeln angelegt.
Dies hat sich bis heute fortgesetzt. Nachdem Sharon Präsident Bush feierlich
versprochen hat, einige dieser "Außenposten" aufzulösen, sind Dutzende neue
aus dem Boden gesprossen. Alle Ministerien helfen den Außenposten, die
offiziell als "illegal" definiert werden. Die Armee verteidigt sie nicht nur
– und setzt so ihre Soldaten Gefahren aus – tatsächlich sagt sie der
selbsternannten "Hügeljugend" sogar, wo sie ihre Außenposten hinsetzen soll
und berät sie insgeheim.
Als wir vor der Gefahr warnten, wurde uns gesagt, wir sollten dies nicht so
ernst nehmen. Nur eine Minderheit der Siedler seien fanatische Freaks,
beruhigte man uns: "Die sind wirklich verrückt und sie werden jedem Versuch,
sie zu entfernen, gewaltsam Widerstand leisten. Aber das wird kein großes
Problem sein, weil der größte Teil der israelischen Bürger sie verabscheut
und sie für eine Sekte von Spinnern hält."
Die meisten Siedler seien keine Fanatiker, wurde uns gesagt. Sie gingen
dorthin, weil ihnen die Regierung teure Villen geschenkt hat, die sie sich
in Israel selbst nicht mal im Traum hätten vorstellen können. Sie suchten
"Lebensqualität". Wenn die Regierung ihnen sagen werde, sie sollen weggehen,
werden sie ihre Kompensationen nehmen und wegziehen.
Das ist natürlich eine gefährliche Täuschung. Wie Karl Marx sagte, wird das
Bewusstsein der Leute von ihrer Situation bestimmt. Die guten
Sozialdemokraten, die von der sozialdemokratischen Regierung (Awodah) auf
die Westbank und in den Gazastreifen verpflanzt wurden, reden und benehmen
sich jetzt wie die schlimmsten Jünger der faschistischen Lehren des Meir
Kahane.
Außerdem wurde uns gesagt: "Sogar die irren Typen erkennen die israelische
Demokratie an. Keiner wird seine Hand gegen die Soldaten der israelischen
Armee erheben. Wenn die Regierung und die Knesset entscheidet, die
Siedlungen müssten geräumt werden, dann werden sie gehorchen. Sie werden
wohl Radau machen und eine Show des Widerstandes abziehen, wie sie es bei
der Räumung der Siedlungen im Nordsinai 1982 machten, aber letzten Endes
werden sie nachgeben. Schließlich hat sich auch im Sinai kein einziger
Siedler zu guter Letzt geweigert seine Entschädigungen anzunehmen.
Aber diese Geringschätzung der Siedler ist nicht weniger gefährlich als die
Geringschätzung der Araber. Was die ganze Zeit verborgen gehalten wurde, ist
nun deutlich geworden: Den Siedlern sind die Demokratie und die
Institutionen des Staates völlig egal. Ihr harter Kern legt es
folgendermaßen aus: Wenn die Resolutionen der Knesset der Halachah - dem
jüdisch religiösen Gesetz – widersprechen, dann hat die Halachah Priorität.
Die Knesset bestünde schließlich nur aus einer Bande korrupter Politiker.
Und welchen Wert haben säkulare Gesetze, ein Abklatsch der Goyim
(Nicht-Juden), im Vergleich zum Wort Gottes: Gelobt sei sein Name?
Viele Siedler reden noch nicht so offen und tun so, als wären sie beleidigt,
wenn man ihnen diese Haltung vorwirft. Tatsächlich aber werden sie vom
harten Kern mitgezogen, der schon alle Masken hat fallen lassen. Sie fordern
nicht nur die Politik der Regierung heraus, sondern auch die israelische
Demokratie als solche. Sie erklären offen, ihr Ziel sei es, den Rechtsstaat
zu stürzen und an seine Stelle den Staat der Halachah einzusetzen.
Der Rechtsstaat ist dem Willen der Mehrheit unterworfen, die die Gesetze
erlässt und, wenn notwendig, ändert.
Der Staat der Halachah ist der nationalreligiösen Lehre und ihrer Auslegung
der Torah unterworfen, die angeblich ein für alle Mal so am Berg Sinai zu
verstehen war und unveränderlich ist. Nur eine sehr kleine Anzahl von
herausragenden Rabbinern hat die Autorität, die Halachah auszulegen. Das ist
das Gegenteil von jüdischer Diskussionskultur und natürlich auch von
Demokratie. In einem anderen Land würde man diese Leute Faschisten nennen.
Dass sie sich gerne eine religiöse Färbung geben, ändert nichts daran.
Die religiös-rechten Rebellen sind stark motiviert. Viele von ihnen glauben
an die Kabbala – nicht die modische Kabbala von Madonna, sondern an "die
wirkliche". Diese besagt, die heutigen nicht-orthodoxen Juden seien
Amalekiter, denen es nach dem Auszug aus Ägypten gelungen sei, sich in das
Volk Israel einzuschleichen.* Gott selbst hat – wie jeder weiß – den Befehl
gegeben, die Amalekiter vom Antlitz der Erde zu vertilgen. Kann es eine
vollkommenere Ideologie für einen Bürgerkrieg geben?
Warum ist dies zu diesem Zeitpunkt eine Bedrohung geworden? Es ist noch
nicht klar, ob Sharon wirklich beabsichtigt, die wenigen Siedlungen im
Gazastreifen zu räumen. Aber so, wie die Siedler es sehen, ist allein der
Gedanke, eine einzige Siedlung zu räumen, ein casus belli. Dies würde alles
angreifen, was ihnen heilig ist. Sharon versucht, sie zu überzeugen, dies
sei nur ein Trick – ein paar kleine Siedlungen zu opfern, um all die anderen
zu retten. Vergeblich.
Die Siedler haben, um ihre große Rebellion vorzubereiten, ihr Potential
aufgedeckt. Die bekanntesten Rabbiner der "religiös zionistischen Bewegung"
haben erklärt, die Evakuierung einer Siedlung sei eine Sünde gegen Gott und
die Soldaten aufgerufen, sich den Befehlen zu widersetzen. Hunderte von
Rabbinern, einschließlich der Rabbiner der Siedlungen und der religiösen
Armeeeinheiten, haben sich diesem Aufruf angeschlossen.
Die Stimme der wenigen Opponenten ist im Lärm untergegangen. Sie zitieren
den Talmud und sagen "Das Gesetz des Königreichs ist Gesetz". Das heißt, man
muss der Regierung des Staates gehorchen. Aber wer hört jetzt noch auf diese
"moderaten Rabbiner"?**
Längst ist die Armee von innen erobert worden. Die "Vereinbarung" mit den
Yeshivot Hesder, religiöse Akademien, die in der Armee als getrennte
Einheiten ihren Dienst tun, hat einem riesigen trojanischen Pferd erlaubt,
einzudringen. Bei jeder Auseinandersetzung zwischen ihren Rabbinern und den
Armeekommandeuren werden die Soldaten der Yeshivot den Rabbinern gehorchen.
Es ist aber noch schlimmer: seit Jahren sind die Siedler systematisch in die
Ränge des Offizierskorps eingedrungen, wo sie nun sogar ein noch größeres
Trojanisches Pferd darstellen.
Die Verweigerung derjenigen vom rechten Flügel, Befehlen zu gehorchen, hat
nichts mit der Verweigerung der vom linken Flügel zu tun, die aus
Gewissensgründen verweigern. Die Verweigerung der Linken ist persönlich. Die
Verweigerung der Rechten ist eine kollektive Meuterei. Bei den Linken sind
es nur ein paar Hundert, die sich weigern, der Besatzung zu dienen. Auf der
Rechten sind es viele Tausend, sogar zehntausend, die den Befehlen ihrer
Rabbiner gehorchen. Wie der Generalstabschef gewarnt hat, kann sich die
Armee aufspalten.
Alle zusammen mögen die Siedler mit ihren engsten Verbündeten in Israel
einschließlich den Yeshivot-Studenten etwa eine halbe Million Leute sein –
eine mächtige Phalanx der Rebellion.
Bis jetzt benutzen die Siedler diese Drohung nur als Instrument der
Erpressung und Abschreckung, um von Anfang an jeden Gedanken über die
Räumung von Siedlungen und Gebieten abzuwürgen. Aber wenn die Erpressung
keinen Erfolg hat, wird die große Rebellion nur eine Frage der Zeit sein.
* bei Kabbala-Forscher Seffi Rachlewski: "Der Esel des
Messias" (hebr) nachzulesen.
Bewegung der Befürworter des Abzugs aus Gaza:
Die Vertreter der
stillen Mehrheit
Eine neue Bewegung möchte die die Mehrheit des
Volkes davon überzeugen, dass sie tatsächlich die Mehrheit des Volkes - und
um Himmels willen kein bisschen links ist - tfu, tfu, tfu!...
Umsetzung des Abkopplungsplans:
Er hat ein
Mandat
Angesichts der Drohungen und der politischen Agitation, die wie ein Hurrikan
über das Land ziehen, gibt es nichts gefährlicheres als die Behauptung,
Sharon habe kein Mandat für die Umsetzung des Abkopplungsplans...
National-Religiöse fordern Referendum:
Zweifel am
Geisteszustand des Ministerpräsidenten
Das Zentralorgan der National-Religiösen
Partei, die in erster Linie die Interessen der Siedler vertritt, kontert die
Kritik von Generalstabschef Ja’alon...
Die Vorzüge des
Referendums:
Ein Lehrstück zum
Thema Götzendienst
Es wird ein Referendum geben. Der
Sharonsche Bulldozer wird immer zu einem Weichei, wenn er auf harte
Substanzen stößt. Ein Bulldozer ist er nur bei Schwachen. Bei
Flüchtlingshäusern in Gaza z.B. Wenn sich ihm entschlossene Faktoren
entgegen stellen, dann zieht er den Schwanz ein...
Hochspannung in Jerusalem:
Sharon kennt seine
Pappenheimer
Der "schicksalhafte Dienstag", der Tag der
Abstimmung über die Loslösung, rückt näher. Die Angst vor gewalttätigen
Ausschreitungen in der Knesset nimmt zu. Im Regierungsviertel wurden bereits
beispiellose Absicherungsmaßnahmen getroffen...
Ein Viertel der Israelis:
"Kahana hatte recht"
Viele Israelis sehen gesteigerte Aussichten auf
einen weiteren politischen Mord und knapp 60% der Israelis zwischen 18 und
22 Jahren befürworten den Transfergedanken - die Vertreibung der Araber aus
Israel...
Kampf um Leben und Tod:
Die Historie und die Hysterie
Anfang 1952, genau sieben Jahre nach der Niederlage Nazideutschlands,
beschloss David Ben-Gurion, es müsse ein Entschädigungsabkommen mit
Deutschland unterzeichnet werden, um die Masseneinwanderung aufzunehmen...
Übersetzung des Artikels von Ellen Rohlfs, vom
Verfasser autorisiert
**Anm. haGalil: Ein von National-Religiösen immer wieder
in's Feld geführtes eindeutiges Verbot, auf Teile des Landes Israel zu
verzichten, existiert überhaupt nicht. Wenn sich ein Verzicht empfiehlt um
Leben zu retten, Frieden zu schaffen oder um andere Teile des Staates zu
stärken, kann ein Verzicht durchaus geboten sein. In den Heiligen Schriften
sind zahlreiche Beispiele bekannt, angefangen bereits bei Awraham, der Lot
die Hälfte des Landes gab. Aber auch spätere Beispiel sind erwähnt: König
Salomo übergab zwanzig Städte an Hiram, den König von Tyrus. Yochanan Ben
Zakai verzichtete auf Jerusalem und bat "Bringt mir Yavneh und Weise".
Es gibt ein von national-religiösen immer wieder angeführtes Gebot, im Land
Israel zu leben. Andere Autoritäten widersprechen der Gültigkeit dieses
Gebots, zumindest habe es nach halachischer Definition nicht die gleiche
Bedeutung wie die Kaschruth oder die Einhaltung des Schabath.
Der frühere Vorsitzende "Meimad"-Bewegung, Rabbiner Yehuda Amital erklärte,
dass die Halacha überhaupt kein legitimes Werkzeug sei, das man sich in
Sachen Siedlungsaufgabe zu nutze machen könne. "Das ist keine halachische
Frage", so Amital, "die Halacha hat entschieden, dass man sich zu Gunsten
des Staates Gedanken machen soll, und was für den Staat gut ist, das
definieren verschiedene Menschen aus verschiedenen Nöten heraus, hier geht
es also um eine politische Meinungsverschiedenheit, und die Halacha hat hier
überhaupt keinen Status".
hagalil.com
24-10-2004 |