Uri Avnery
"Da wird der Wolf beim Lamm wohnen", prophezeite Jesaja (11,6). Dies
ist auch in unserer Zeit möglich - vorausgesetzt, man bringt jeden Tag ein
neues Lamm. An diesen grausamen Witz erinnere ich mich jedes Mal, wenn von
einem bi-nationalen Staat die Rede ist.
In verzweifelten Zeiten blühen auch messianische Phantasien. Sie
erlauben, aus der dunklen Gegenwart in eine bessere, heitere Welt zu
entfliehen; aus einem Gefühl der Hilflosigkeit in eines der Kreativität.
Kein Wunder, dass in diesen dunklen Zeiten die bi-nationale Idee in manchen
linken Kreisen ihren Kopf wieder erhebt. Es ist eine schöne und noble Idee,
die vom Glauben an die Menschheit erfüllt ist. Sie ist aber - wie Jesajas
Prophezeiung - eine Idee für die messianische Zeit. Wenn sie eine
realistische Chance hätte, dann vielleicht nach zwei oder drei Generationen.
Vorläufig wäre es eine Flucht aus der Wirklichkeit, sogar eine gefährliche,
wie wir sehen werden.
Gemäß der bi-nationalen Idee wird das Territorium zwischen Mittelmeer und
dem Jordan - Palästina/ Israel - wieder einen Staat bilden wie zu Zeiten des
Britischen Mandates vor 1948. Israelis und Palästinenser, Juden und Araber
werden als gleichberechtigte Bürger zusammenleben. Die genaue Art des
Regimes - bi-national oder nicht national - ist zweitrangig. Alle Bürger
werden für dasselbe Parlament und dieselbe Regierung wählen, in derselben
Armee und Polizei dienen, dieselben Steuern zahlen, ihre Kinder in dieselbe
Schule schicken, dieselben Schulbücher benützen. Wahrlich, eine attraktive
Idee!
Es mag seltsam erscheinen, dass diese idealistische Vision gerade jetzt
wieder auftaucht, nachdem sie überall in der Welt fehlgeschlagen ist. Die
multinationale Sowjetunion ist verschwunden, und nun ist sogar die
multinationale russische Föderation in Gefahr, auseinander zu brechen (s.
Tschetschenien). Nicht nur Jugoslawien ist auseinander gebrochen, sondern
auch seine Teile. Auch Bosnien ist zerbrochen und wird künstlich
zusammengehalten; ausländische Soldaten versuchen, irgendwie den Frieden zu
bewahren. Serbien ist gezwungen worden, den Kosovo (abgesehen vom Namen)
aufzugeben. Der Zusammenhalt Mazedoniens ist zweifelhaft. Seit langer Zeit
war die Einheit Kanadas durch Bewegungen innerhalb der französisch
sprechenden Bevölkerung bedroht. Das vereinigte Zypern mit seiner
modellhaften bi-nationalen Verfassung ist nur noch Erinnerung. Und die Liste
ist lang: Indonesien, die Philippinen und viele andere Länder, ganz zu
schweigen von unserm Nachbarn, dem Libanon.
Aber man muss gar nicht so weit weg sehen. Es genügt unsere eigene Realität.
Die unmittelbaren Wurzeln des israelisch-palästinensischen Konfliktes liegen
mehr als 100 Jahre zurück. Eine fünfte Generation ist in diesen
hineingeboren worden, und ihre ganze psychische Welt ist von ihm geprägt
worden. Im Grunde ist es ein Zusammenprall zwischen der zionistischen
Bewegung und der arabisch-palästinensischen Nationalbewegung. Nach
einhundert Jahren ist die Kraft des Zionismus keineswegs erschöpft. Sein
Hauptschub - Expansion, Besetzung und Besiedlung - ist in vollem Schwung.
Auf palästinensischer Seite vertieft sich der Nationalismus (einschließlich
der islamischen Version) und wächst von einem Märtyrer zum nächsten. Man
muss schon viel Vertrauen haben, um zu glauben, dass diese beiden
nationalistischen Völker den Kern ihrer Hoffnungen aufgeben und sich von der
totalen Feindseligkeit ab- und zum totalen Frieden hinwenden, ihre
nationalen Narrativen aufgeben und bereit sind, zusammen als Bürger -
jenseits von Nationalität - zusammenzuleben.
Das 20.Jahrhundert hat mehrere Utopien gesehen, die schreckliches Unheil
angerichtet haben. Die kommunistische Vision z.B. gründete sich auf der
Vorstellung, dass es einen vollkommenen Menschen gebe oder dass Menschen
vollkommen werden können. Das widersprach der Realität vom unvollkommenen
Menschen.. Der deutsche post-kommunistische Führer Gregor Gysi sagte mir
einmal:" Wir versuchten, das perfekte System über unvollkommene Menschen zu
setzen. Es ging nicht- also versuchten wir es mit Gewalt". So kam ein
Terrorsystem zu Stande, und Millionen - von der Ukraine bis nach Kambodscha
- wurden gemordet.
Man muss drei wichtige Fragen stellen:
1. Werden beide Seiten diese Lösung akzeptieren?
2. Kann ein bi-nationaler Staat funktionieren?
3. Wird er den Konflikt beenden?
Meine Antwort auf alle drei Fragen ist ein uneingeschränktes "nein".
Es gibt keine Chance, dass die gegenwärtige israelische
Post-Holocaust-Generation oder die folgende diese Lösung akzeptiert, die
absolut mit dem Mythos und Ethos Israels zusammenprallt. Das Ziel der
Gründer des Staates Israel war, dass die Juden - oder ein Teil von ihnen -
endlich ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen konnten. Ein bi-nationaler
Staat bedeutet, dieses Ziel aufzugeben und den Staat Israel praktisch zu
demontieren. Die Juden würden zu der traumatischen Erfahrung eines Volkes
ohne einen Staat in der ganzen Welt zurückkehren - mit allen seinen
Nachteilen. Und dies nicht als Ergebnis einer vernichtenden militärischen
Niederlage, sondern aus freier Wahl. Das ist unwahrscheinlich.
Und wie steht es damit auf palästinensischer Seite? Einige Palästinenser
reden tatsächlich sehnsüchtig von einem bi-nationalen Staat. Aber ich
glaube, dass dies wenigstens für einige von ihnen nur ein Kodewort für die
Eliminierung des Staates Israel ist und für einige andere eine Flucht aus
der bitteren Wirklichkeit in den Traum der Rückkehr in ihre Häuser und
Dörfer der Vergangenheit. Die große Mehrheit der Palästinenser möchte
endlich in einem eigenen Nationalstaat leben, einem Staat, der ihre
nationale Identität ausdrückt, unter ihrer Flagge und ihrer Regierung - so
wie andere Völker.
Die Chance, dass die beiden Völker die bi-nationale Idee in absehbarer
Zukunft akzeptieren, liegt tatsächlich sehr fern.
Würde solch ein Staat - falls er zustande käme - funktionieren können?
Es gibt kaum einen multinationalen Staat in der Welt, der wirklich
ordentlich funktioniert. (Habe ich die Schweiz erwähnt?) Um angemessen zu
funktionieren, müssen zwei Bedingungen erfüllt werden: entweder verzichten
beide Seiten auf ihre nationale Identität, oder sie müssen gleichstarke
wirtschaftliche und politische Macht haben.
Genau das Gegenteil ist in diesem Land der Fall. Es gibt eine weit
auseinander klaffende Ungleichheit zwischen Israelis und Palästinensern - in
fast jeder Hinsicht. Die Verschiedenheit ist enorm. In einem gemeinsamen
Staat - sollte er errichtet werden - würden die Juden die Wirtschaft und die
meisten anderen Aspekte des Staates beherrschen und alles versuchen, diese
Situation zu bewahren. Zu diesem Zeitpunkt würde ein bi-nationaler Staat ein
Besatzungsregime mit anderen Vorzeichen sein, das eine Realität von
Ausbeutung und wirtschaftlicher, kultureller und wahrscheinlich auch
politischer Unterdrückung nur schwach verbergen kann. Die Situation der
arabischen Bürger in Israel ist nach 55 Jahren keineswegs ermutigend.
Deshalb glaube ich nicht, dass solch eine Lösung, falls sie überhaupt
möglich wäre, diesen Konflikt beenden würde. Sie würde ihn nur auf eine
andere Spur setzen, die sich womöglich noch schlimmer und gewalttätiger
gestalten würde.
All dies ist den Anhängern der bi-nationalen Idee natürlich bekannt. Um dem
Widerspruch zwischen ihrer Vision und der Realität zu entfliehen, haben sie
folgende Theorie entwickelt:
Zu Beginn wird der gemeinsame Staat tatsächlich so etwas wie ein
Apartheidstaat sein. Aber die Situation wird sich nach und nach verändern.
Mit der Zeit werden die Araber die Mehrheit in diesem Staat werden. Schon
jetzt leben zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan 5,4 Millionen Juden und
4,6 Millionen arabische Palästinenser. Die arabische Geburtenrate wird bald
das Verhältnis ändern. Die palästinensische Mehrheit wird um Gleichheit
kämpfen. Die Welt wird dies unterstützen, wie sie den südafrikanischen Kampf
gegen die Apartheid unterstützt hat. So werden wir einen realen Staat der
Gleichheit erreichen.
Das ist Wunschdenken. Die weißen Rassisten Südafrikas wurden von der ganzen
Welt gehasst. Anders als die jüdischen Israelis hatten sie keine mächtige
Lobby. Die amerikanischen Juden haben eine immense politische,
wirtschaftliche und Medienmacht, und sie werden diese noch lange Zeit
behalten. Israel wird sich weiter auf die durch den Holocaust
hervorgerufenen Schuldgefühle der christlichen Welt verlassen - und wird
dies noch lange Zeit tun. Gleichzeitig werden die Araber immer mehr zum
Schreckgespenst der westlichen Welt. Es wird für internationalen Druck immer
schwieriger, die jüdische Gemeinschaft zu beeinflussen, die den
bi-nationalen Staat dominieren wird. Es wird einige Generationen dauern. Und
in der Zwischenzeit geht die Expansion der Siedlungen unbarmherzig weiter.
In einem bi-nationalen Staat ist es jedem Juden natürlich erlaubt, überall
zu siedeln, wo er oder sie es wünscht. Die Palästinenser werden weiterhin
wirtschaftlich erfolglos bleiben. Die Kluft zwischen beiden Völkern wird
größer.
Vermutlich wird der Machtkampf in einem bi-nationalen Staat schwere
Gewalttätigkeiten verursachen, genau wie in Südafrika.
Die Folgerung ist: für zwei Völker sind zwei Staaten not-wendig. Dies wird
die nationalen Gefühle der beiden Völker in vernünftige, konstruktive Kanäle
lenken, was Koexistenz, Kooperation und schließlich eine wirkliche
Versöhnung möglich macht.
Die unabhängige politische Struktur eines Staates Palästina wird
internationale und nationale Barrieren gegen die Gefahr zur Verfügung haben,
dass sein bei weitem mächtigerer Nachbar seine wirtschaftliche Macht dazu
verwenden würde, das palästinensische Volk auszubeuten oder sogar zu
vertreiben. Das palästinensische Volk wird zu guter Letzt das Gefühl einer
soliden Basis haben, so wie die Juden nach der Errichtung des Staates
Israel.
Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, dass selbst dies äußerst schwierig zu
erreichen ist. Wir müssen noch viel gegenseitige Ängste, Hass, Mythen und
Vorurteile überwinden, um dies zu ermöglichen. Aber die, die bei diesen
Hindernissen verzweifeln und deshalb dem bi-nationalen "Evangelium"
anhängen, gleichem einem Athleten, der einen 100m-Lauf nicht zu Stande
bringt und sich deshalb für einen Marathonlauf anmeldet.
Es liegt sogar eine große Gefahr darin, allein diese Idee zu propagieren.
Ein Sprichwort sagt: "Das Vollkommene ist der Feind des Guten." Nur die
Erwähnung einer bi-nationalen Vision würde die große Mehrheit der Israelis
aufschrecken, die sich jetzt langsam der Akzeptanz einer Zwei-Staaten-Lösung
nähern; es würden die meist tief sitzenden existentiellen Ängste hochkommen
und sie in die Arme der extremen Rechten stoßen. Es würde der Rechten eine
mächtige Waffe in die Hand geben: "Was haben wir euch gesagt? Das wirkliche
Ziel der Anhänger der Zwei-Staaten-Lösung ist, den Staat Israel nach und
nach zu demolieren!"
Einige der neuen Advokaten einer bi-nationalen Staaten-Lösung haben ein
seltsames Argument. Sie sagen: "Sharon erklärt, dass er für die
Zwei-Staaten-Lösung sei, aber er meint damit ein paar Enklaven, die etwa 50%
der besetzten Gebiete ausmachen. Deshalb dürfen wir die Errichtung eines
palästinensischen Staates nicht befürworten". Die einfache Antwort ist:
Sollten wir eine gute und positive Idee deshalb aufgeben, weil die Feinde
des Friedens sie verdrehen und sie für ihre Zwecke zu missbrauchen
versuchen? Logik würde das Gegenteil diktieren: Sharons Perversion der Idee
entlarven und für einen palästinensischen Staat in den Grenzen von vor 1967
kämpfen.
Als wir in den frühen 50er-Jahren die Idee der zwei Staaten nach dem
48er-Krieg wieder erhoben, dachten wir nicht an "Trennung". Auch heute
verwerfen wir diesen Terminus absolut. Wir sprechen von zwei Staaten mit
einer offenen Grenze zwischen ihnen, mit Bewegungsfreiheit für Menschen wie
Waren (vorbehaltlich natürlich nach gegenseitiger Abmachung). Ich bin davon
überzeugt, dass im Lichte der geographischen und politischen Fakten ein
natürlicher Prozess zu einer organischen Verbindung führen wird, vielleicht
eine Föderation und später im gegenseitigen Einvernehmen eine regionale
Gemeinschaft wie die Europäische Union.
Am Ende werden wir das Ziel erreichen: in Frieden nebeneinander
zusammenleben. Vielleicht wird eine spätere Generation eines Tages
entscheiden, gemeinsam in einem Staat zu leben. Aber heute lenkt die
Propaganda für diese Utopie die Aufmerksamkeit vom eigentlichen,
unmittelbaren Ziel ab - zu einem Zeitpunkt, da die ganze Welt die Idee der
"Zwei Staaten für zwei Völker" akzeptiert hat. Diese ferne Utopie blockiert
den Weg für eine Lösung, die in naher Zukunft erreichbar und äußerst
notwendig ist, weil inzwischen neue "Tatsachen auf dem Boden" geschaffen
werden.
Ich bin davon überzeugt, dass das 21.Jahrhundert große Veränderungen in den
Strukturen der Welt und der Lebensweise der menschlichen Gesellschaft mit
sich bringen wird. Die Bedeutung des Nationalstaates wird nach und nach
weniger. Eine Weltordnung, ein Weltgesetz und weltweite Strukturen werden
eine zentrale Rolle spielen. Ich vertraue darauf, dass Israel aufrichtig am
Marsch der Menschheit teilnehmen wird. Wir sollten nicht zögern. Aber es hat
keinen Zweck, von der israelischen Öffentlichkeit zu erwarten, dass sie um
50 Jahre ihrer Zeit voraus ist.
Dies ist eine auf den neuesten Stand gebrachte Version eines Artikels,
den ich vor zwei Jahre schrieb und der in dem anerkannten "Journal of
Palestine Studies" (UC Berkeley, USA) veröffentlicht wurde