Barak oder Ayalon?
Über Generäle und Admirale
Uri Avnery
„NICHTS IST so sehr erfolgreich wie ein Erfolg,“ sagt ein typisch
amerikanisches Sprichwort. Die israelische – auch typische - Version heißt:
„Nichts ist so erfolgreich wie ein Desaster.“
Es scheint, niemand habe irgendwelche Chancen, hier eine Wahl zu gewinnen,
bis er nicht zweifellos bewiesen hat, ein totaler Versager zu sein. Deshalb
ist es glatt möglich, dass es bei den nächsten allgemeinen Wahlen nur zwei
Kandidaten für den Job des Ministerpräsidenten gibt: Benjamin Netanyahu und
Ehud Barak.
Erinnern wir uns: Netanyahu wurde 1996 zum Ministerpräsidenten gewählt. Nach
kaum der Hälfte seiner Amtszeit, wurde er gestürzt. Um ihn zu ersetzen,
wählte eine große Mehrheit Ehud Barak. Das ganze Land tat einen fast
hörbaren Seufzer der Erleichterung, und Volksmassen begrüßten ihn auf Tel
Avivs Rabin-Platz als den Mann, der Israel von einem Alptraum befreit hatte.
Kaum zwei Jahre später wurde Barak von einer noch größeren Mehrheit
abgesetzt.
Jeder erwartet, dass die Kadima-Partei bei den nächsten Wahlen so plötzlich
verschwindet, wie sie vor anderthalb Jahren auftauchte – so wie die
Rizinus-Staude im Buch Jonas (4,10), die „in einer Nacht heranwuchs und in
einer Nacht verdarb“. Doch wenn – durch ein Wunder – Ehud Olmert ebenfalls
für den Posten des Ministerpräsidenten kandidieren sollte, werden wir damit
die Wahl zwischen drei dokumentierten Versagern haben.
In andern Demokratien verschwinden solche Leute nach den Wahlen: in England
züchten sie dann Rosen, in den USA halten sie für hohe Honorare Vorträge.
Hier hingegen werden sie immer stärker.
EINIGE SCHLAUE Public Relations-Schreiberlinge fanden ein Ersatzwort für das
Wort „Versagen“. Ab jetzt sprecht nicht mehr von „Versagen“, sondern von
„Erfahrung “.
Netanyahu, Barak und Olmert werden nicht müde, diesen einen Satz zu
wiederholen: „Ich habe aus Erfahrung gelernt.“
Was haben sie gelernt? Das ist ein Geheimnis. Wie bemitleidenswert sind doch
ihre Rivalen, die keine Erfahrungen gemacht haben. Wodurch und durch wen
lernten sie? Welche Erfahrungen haben sie? Diese drei waren schon einmal
Ministerpräsidenten. Sie sind durch Krisen gegangen. Es stimmt schon, aus
jeder Krise haben sie ein einziges Chaos gemacht. Aber was soll´s? Alles
wird zum Besten dienen. Das nächste Mal wird es kein Versagen geben.
Sie können ein Vorbild nachahmen. Yitzhak Rabin wurde 1974 zum
Ministerpräsidenten gewählt. Er war es drei Jahre lang, bis seine Regierung
stürzte (weil ein Geschwader Kampfflugzeuge, die uns die USA schenkte, zu
Beginn des heiligen Sabbat hier ankam.) Seine Amtszeit war düster. Sie wurde
durch Korruptionsaffären seiner Parteikollegen ruiniert. Rabin ist in dieser
Zeit bei keinem bedeutenden Test durchgefallen, aber geglänzt hat er auch
nicht.
Als er 14 Jahre später das zweite Mal ins Amt des Ministerpräsidenten kam,
gelang ihm eine der größten Veränderungen in der Geschichte des Staates. Er
erkannte die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) an und erreichte
das Oslo-Abkommen. Viele glauben heute, dass er einer der größten
Ministerpräsidenten in den Geschichte Israels war.
Aber er war eine Ausnahme. Die Regel wurde von Marschall Charles Francois
Dumouriez definiert, als er nach der Restauration der Monarchie über die
Höflinge der bourbonischen Könige sagte: „Sie haben nichts vergessen und
nichts gelernt.“
IN DER VERGANGENEN Woche fanden die Vorwahlen in der Laborpartei statt, die
sich selbst sozialdemokratisch nennt und - wenn sie sich überhaupt noch
gelegentlich daran erinnert - auch behauptet, die „Führung des
Friedenslagers“ zu sein.
Fünf Kandidaten kämpfen darum, die Führung der Partei zu übernehmen. Unter
ihnen sind ein früherer Generalstabschef, zwei Generäle, ein Admiral, zwei
frühere Chefs des Geheimdienstes (einer vom Mossad, einer vom Shin Beth) und
ein Verteidigungsminister. (Einige von ihnen haben mehrere Posten bekleidet)
Baraks Wahlspruch lautete: „Nur ich kann den nächsten Krieg führen!“ In der
ersten Runde gewann er einen bedeutenden Sieg über seinen Hauptrivalen, Ami
Ayalon (36,6% zu 30,6%). In der nächsten Woche werden die beiden sich in der
zweiten Runde gegenüber stehen.
Worin unterscheiden sich die beiden? Beide wurden in Kibbuzim geboren und
verließen diese vor langer Zeit. Sie haben recht ähnliche Ansichten über
nationale und soziale Probleme. Ist der Hauptunterschied zwischen ihnen der,
dass der eine ein General und der andere ein Admiral ist? (der Titel stammt
aus dem arabischen Amir al-Bakhar, Fürst des Meeres).
GLÜCKLICHERWEISE muss ich bei diesen Vorwahlen nicht wählen. Ich bin und war
nie ein Mitglied der Laborpartei gewesen – in keiner ihrer vielen
Inkarnationen.
Aber damit bin ich nicht aus dem Schneider. Ich muss mich selbst fragen:
wenn ich ein Mitglied dieser armseligen Partei wäre, wen der beiden würde
ich wählen?
Ich wäre nicht in der Lage, Ehud Barak zu wählen, selbst wenn ich es
wünschte – meine Hand würde mir nicht gehorchen.
Ich nannte ihn einen „Friedensverbrecher“ – im Unterschied zum
„Kriegsverbrecher“. Ein Friedensverbrecher ist eine Person, die ein
Verbrechen gegen den Frieden begeht. Ich bin davon überzeugt, dass Barak für
das größte Verbrechen gegen den israelisch-palästinensischen Frieden
verantwortlich ist, viel schlimmer als jede von David Ben-Gurion, Golda
Meir, Yitzhak Shamir und Ariel Sharon begangene Sünde.
Im Jahr 2000 überzeugte Barak Präsident Clinton, eine Konferenz in Camp
David abzuhalten. Clinton setzte Yasser Arafat unter Druck, an ihr
teilzunehmen. Die ganze Initiative war eine Mischung von Arroganz und
Ignoranz (die arabische Welt betreffend) - zwei von Baraks offenkundigen
Charaktereigenschaften. Nichts war im voraus vorbereitet worden, kein
Komitee versuchte, die Bereiche einer Übereinkunft und der
Meinungsverschiedenheiten auszuloten, keiner zerbrach sich den Kopf über
eine Tagesordnung, die diskutiert werden sollte.
Yossi Sarid, damals Minister in Baraks Regierung, bestätigte in dieser
Woche, was ich damals behauptet hatte: Barak hatte ein Angebot mitgebracht,
vom dem er glaubte, die Palästinenser könnten dem nicht widerstehen.
Tatsächlich aber war es weit von dem Minimum entfernt, das ein
palästinensischer Führer möglicherweise hätte akzeptieren können. Um seine
Schande zu verbergen, erfand Barak den Vorwand, dass es ihm vor allem darum
gegangen sei, Arafat zu „entlarven“.
Aber Baraks wirkliches Verbrechen war nicht seine Haltung während der
Konferenz, sondern danach. Als er nach Hause kam, verbreitete er ein Mantra,
das aus fünf Sätzen bestand: „Ich machte noch nie da gewesene großzügige
Angebote / ich drehte jeden Stein um, um den Frieden zu ermöglichen/ die
Palästinenser lehnten alles ab / es gibt niemanden, mit dem man verhandeln
kann / wir haben keinen Friedenspartner.“
Dieses Mantra, das Tausende Male in den Medien wiederholt wurde, kann leicht
verstanden werden und befreit jeden davon, Verpflichtungen, Konzessionen
oder Anstrengungen zu machen. Es zerstörte in den Menschen den Glauben an
den Frieden und fügte dem israelischen Friedenslager riesigen Schaden zu.
Das Friedenslager wurde zu einer öden Wüste, in der es nur noch ein paar
kleine Oasen gibt. Das hat sich bis zum heutigen Tag nicht verändert.
Zu diesem Hauptverbrechen kamen noch ein paar kleinere hinzu: die bewusste
Aufgabe von Friedensverhandlungen mit Syrien kurz vor dem Endabkommen; keine
Dialogbereitschaft mit der Hisbollah und Syrien am Vorabend des Abzuges aus
dem Südlibanon; das massenhafte Töten arabisch-israelischer Bürger durch die
Polizei im Oktober 2000; die Ariel Sharon gewährte Erlaubnis, den Tempelberg
zu besuchen – die Provokation, die die zweite Intifada ausbrechen ließ.
ICH HABE NOCH eine eigene Geschichte, die ich hier zum ersten Mal erzähle.
Sie wirft - so glaub ich - einiges Licht auf die Natur Baraks und seiner
Leute.
Nach dem Fehlschlag von Camp David und dem Ausbruch der neuen Intifada fand
wieder eine allgemeine Wahl statt: Barak gegen Sharon. Alle Meinungsumfragen
sahen eine gewaltige Niederlage für Barak voraus.
Am Wahltag klingelte etwa um 4 Uhr nachmittags mein Telefon. Die Person am
andern Ende stellte sich mit Tal Silberstein vor, Baraks Hauptberater. Er
sagte, er rufe mich im Namen seines Chefs an. Er erzählte mir, während der
letzten paar Stunden habe eine dramatische Veränderung zugunsten von Barak
stattgefunden, und bat mich darum, meinen Einfluss bei Führern der
arabischen Gesellschaft geltend zu machen, damit diese die arabischen Bürger
dazu veranlassen mögen, zu den Wahlen zu gehen und für Barak zu stimmen. „
Das ist alles, was wir zum Sieg benötigen“, sagte er. (Allgemein vermutete
man, dass die meisten arabischen Bürger sich nicht an der Wahl beteiligen
würden, um gegen Baraks Rolle bei den Oktoberereignissen 2000 zu
protestieren, (während denen 13 arabische Bürger bei unbewaffneten
Demonstrationen von der Polizei erschossen wurden *) )
*) Ein von UA genehmigter Einschub der Übersetzerin
Ich rief das Knessetmitglied Azmi Bishara an und erzählte ihm von diesem
Telefongespräch. „Zum einen ist es zu spät, und zweitens glaube ich ihm
nicht,“ antwortete er mir. Und er hatte Recht: die Veränderung hatte niemals
stattgefunden; zu dieser Stunde stand die überwältigende Niederlage schon
fest. Baraks Mann erzählte mir eine unverschämte Lüge, um seine Niederlage
ein bisschen weniger desaströs zu machen.
DIE
FRAGE lautet nun, würde ich dann Ayalon wählen?
Abb.: Ami Ayalon
Der „Fürst des Meeres“ hat ein paar Pluspunkte. Zusammen mit Sari Nusseibeh
(Rektor der Universität von Ost-Jerusalem) veröffentlichte er 2002 eine
Erklärung von Prinzipien für einen israelisch-palästinensischen Frieden.
Diese ging nicht so weit wie die spätere Genfer Initiative (geschweige denn
wie der Gush Shalom-Entwurf für ein Friedensabkommen, das dieser Initiative
vorausging). Es war sicherlich ein positiver Schritt in die richtige
Richtung. Leider fehlte eine ernsthafte Fortsetzung. In der Folge war es,
als hätte Ayalon alles darüber vergessen. Er nahm an keiner Protestaktion
gegen die anhaltende Besetzung, gegen den Mauerbau und die Erweiterung der
Siedlungen teil.
Im Gegenteil: mehr als einmal erklärte er, dass er zutiefst mit den Siedlern
verbunden sei, sie verstehe und respektiere, sie seien heute die wirklichen
Pioniere etc. Klar, das könnte eine De-Gaulle-artige Finte sein – aber wer
weiß?
Wahr ist, niemand kennt wirklich seine Ansichten und Pläne. Wir wissen nur,
dass er die meiste Zeit seines Leben im militärischen Bereich verbracht hat.
Dort wurde sein Charakter und seine Weltanschauung geprägt. Es ist ganz
unmöglich zu erfahren, ob er dort Erfolg hatte oder Fehlschläge erlebte.
Ayalon hat schon gezeigt, dass seine Entscheidungen sehr, sehr unberechenbar
sind. Er hat sich schon mehrfach widersprüchlich verhalten. Seine Opponenten
reden von ihm, als von einem der mal hier, mal dorthin ginge. Nur eines ist
sicher über ihn: es gibt nichts Sicheres über ihn zu sagen.
Ein europäisches Sprichwort heißt: „Der mir bekannte Teufel ist besser als
der mir unbekannte.“ Einige der schwankenden Wähler werden wohl in diesem
Sinne wählen.
Ein Freund sagte mir: „Barak ist berechenbar. Ayalon ist unberechenbar.
Vielleicht ist Barak deshalb besser.“
Diesen Spieß kann man umdrehen. Sicher ist, dass nichts Gutes von Barak
kommen wird. Vielleicht wird auch nichts Gutes mit Ayalon kommen, aber wenn
eine Person unberechenbar ist, weiß man gar nichts. Ayalon könnte auch eine
Überraschung zum Guten hin werden. Und fast jede Überraschung würde besser
sein als die augenblickliche Situation.
Glücklicherweise muss ich dies nicht entscheiden.
(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
uri-avnery.de /
avnery-news.co.il
07.06.03
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