Jerusalem:
Wer braucht ein Kamel?
Anm.: Der Artikel wurde noch vor dem zweiten
Schlaganfall von Premier Scharon verfasst.
Uri Avnery
über Amir Peretz und die Wahlkampfstrategen der Awodah
Ein Säufer verliert das Bewusstsein. Seine Freunde
gießen kaltes Wasser über ihn. Der Betrunkene öffnet ein Auge, schleckt das
Wasser und sagt: „Ich weiß nicht, was es ist, aber so etwas wird keiner
kaufen!“
Daran wurde ich erinnert, als ich den Entwurf des politischen Programms der
Labor-Partei las, das von einem Komitee von Experten eben vorgestellt wurde.
Es ist gesagt worden, dass ein Kamel ein Pferd sei, das von einem Komitee
geplant wurde. Vergessen wir einen Augenblick lang die Beleidigung des
Tieres mit dem Höcker; (auf arabisch sind die Wörter für Kamel und Schönheit
sprachlich verwandt), dann können wir sagen, dass Komitees von Natur aus
keine kreativen Körperschaften sind. Da muss man weder an Gott glauben noch
an ein „intelligentes Wesen“, um zu wissen, dass kein Komitee in der Lage
ist, ein edles arabisches Pferd zu planen.
Das politische Programm, um dessen Annahme Amir Perez gebeten wurde, ist ein
Pferd und noch nicht einmal ein Kamel.
Das Komitee, das das Pferd planen sollte, ist aus mehreren wohl bekannten
Persönlichkeiten zusammengesetzt: Dave Kimchi, ein ranghoher Mossad-Veteran;
Uzi Baram, ein früheres Knessetmitglied des Laborflügels der Tauben; Yuli
Tamir, die vor langer Zeit ein Mitglied von Peace Now war; Avi Primor und
Alon Pinkas, früher im auswärtigen Dienst tätig ((Avi Primor war Botschafter
Israels in der BRD)). Dalia Rabin gehört auch dazu – vielleicht vermutet
man, dass die Tochter von Yitzhak Rabin ein Fachmann bzw. eine Fachfrau sein
muss.
Derjenige, der ein Komitee zusammenstellt, weiß zu welchem Schluss es kommen
soll. Dieses Komitee wird aus moderaten Tauben zusammengesetzt – im heutigen
politischen Jargon würde man „mitte links“ sagen. Nicht zu radikal, Gott
bewahre! Und so ist sein politisches Programm.
Das Komitee versichert, dass ein palästinensischer Staat gegründet werden
muss – das ist gut. Es ist gegen weitere Interims-Abkommen und auch gegen
die Idee eines „provisorischen palästinensischen Staates“ – zwei sehr
geschätzte Ideen von Sharon und die auch in der albernen „Road Map“
eingeschlossen sind – und das ist auch gut.
Es verlangt auch einen Terminplan für den Abschluss der Verhandlungen. Doch
dann kommt der schockierende Satz: „Nur wenn die Verhandlungen misslingen,
werden einseitige Schritte in Erwägung gezogen – als Mittel einer letzten
Zuflucht.
Was bedeuten diese Worte? Sie verwandeln den ganzen Paragraphen in ein
Ultimatum. Entweder ihr nehmt unser Angebot an oder wir werden es einseitig
realisieren. Natürlich nur als letzten Ausweg. Aber wir werden entscheiden,
wann es Zeit für den letzten Ausweg sein wird. In einfachen Worten: das
Programm wirft Sharons „einseitige Schritte“ zur vorderen Tür hinaus und
lässt es durch die Hintertür wieder herein.
Früher glaubten die Christen an einen Teufel, dessen einer Fuß ein
Pferdefuss war. Gewöhnlich gelingt es dem Teufel ihn zu verbergen, doch von
Zeit zu Zeit, schaute er unter seinem weiten Umhang hervor. Der „letzte
Ausweg“ ist solch ein Pferdefuß.
Dazu kommt, dass das Komitee erklärt, dass die Verhandlungen mit der
„gewählten palästinensischen Führung“ geführt werden wird. Ganz schön und
gut. Aber das Komitee ist damit nicht zufrieden. Es befiehlt bei dieser
Gelegenheit den Palästinensern, wen sie wählen müssen und fügen hinzu
„Verhandlungen mit Hamas werden zurückgewiesen“. Und was dann, wenn die
Palästinenser darauf bestehen, Hamas zu wählen ?
Und Hamas die palästinensische Führung darstellen wird? Wird es in diesem
Fall keine Verhandlungen geben - werden wir uns dann gleich „einseitigen
Schritten“ zuwenden a la Sharon?
Dies ist ein törichter Versuch. Die Rückweisung von Hamas gründet sich auf
der Verweigerung der Organisation, die Existenz Israels anzuerkennen und
seinem Aufruf zu seiner Zerstörung. Aber wenn sie bereit ist, in
Verhandlungen mit der gewählten Regierung von Israel einzutreten, um einen
dauerhaften Frieden zu erreichen, erkennt sie sie praktisch schon an.
Außerdem leitet sich der Status der Palästinensischen Behörde vom
Oslo-Abkommen ab, das sich auf der offiziellen gegenseitigen Anerkennung
zwischen der Regierung Israels und der Palästinensischen
Befreiungsorganisation gründet. Wenn Hamas an den palästinensischen Wahlen
teilnimmt, stellt allein dies tatsächlich schon die Anerkennung Israels dar.
All dies erinnert an vergangene Zeiten, als die Laborregierung alle
Verhandlungen mit der PLO zurückwies und genau dieselben Argumente anwandte.
Haben sie denn nichts gelernt und nichts vergessen?
Ein weiterer Punkt: Jerusalem. Genau wie Sharon und Netanyahu, stellt das
Programm fest, dass „Jerusalem die vereinigte Hauptstadt des Staates Israel“
sei.
Das Komitee stimmt zwar darin überein, den Stadtplan neu zu überprüfen und
einige Dörfer und Stadtteile, die die Stadt umgeben, auszuschließen - das
sind wahrscheinlich Dörfer wie Abu Dis und El-Azarieh, die bis zu ihrer
Annexion nach dem 6-Tage-Krieg niemals zu Jerusalem gehörten. Schön und gut.
Aber das Programm unterstützt stillschweigend die Annexion aller arabischen
Stadtteile wie die Altstadt, den Tempelberg, Abu Tur, Sheik Jerakh und noch
mehr. Im ganzen gibt es den Palästinensern bei weitem weniger als die
Clinton-Formel. („Was jüdisch ist gehört den Israelis, was arabisch den
Palästinensern“)
Es wird eine Geschichte erzählt, Napoleon sei bei einem seiner Feldzüge in
eine deutsche Stadt eingezogen und nicht mit den üblichen 101 Salutschüssen
begrüßt worden. Als der Bürgermeister der Stadt gerufen wurde, um die
Beleidigung zu erklären, hatte er eine lange Liste verfasst und begann
vorzulesen: „Erstens: wir haben keine Kanonen.“ Napoleon unterbrach ihn:
„das genügt – es ist nicht nötig, weiterzulesen.“
Dies kann auch hier gesagt werden bei einem Programm, das die Annexion von
Jerusalem einschließt. Weitere Paragraphen sind dann nicht nötig. Kein
Palästinenser oder Muslim würde damit einverstanden sein – weder die Fatah
noch die Hamas, weder heute noch in hundert Jahren. Man kann sich gleich dem
„letzten Ausweg“ zu wenden.
Wenn wir Jerusalem verlassen, können wir uns direkt nach Hongkong begeben.
Dort auf der chinesischen Insel fand das Komitee eine wahrlich originelle
Erleuchtung.
Vor etwa 107 Jahren, auf dem Höhepunkt des britischen Imperialismus, als
China darniederlag, wollte das Empire Hongkong, eine chinesische Insel von
großer strategischer Bedeutung, in Besitz nehmen. Aus irgend einem Grund
wollte man sie aber nicht direkt annektieren und machte es lieber mit einem
Trick. China wurde gezwungen, die Insel für 99 Jahre zu „verpachten“, und so
wurde es eine britische Kronkolonie.
Nun schlägt das Labor-Programm einen ähnlichen Trick vor: die
palästinensische Behörde soll die „Siedlungsblöcke“ für 99 Jahre an Israel
verpachten. Und Israel soll die Pacht in Geld oder Gebiet (auch für
99Jahre?) bezahlen. Und was wird Israel in den gepachteten Gebieten tun? Sie
mit Siedlungen bis auf den letzten Zentimeter zubauen. Was wird es dann nach
99 Jahren zurückgeben?
Man kann sich kaum einen Palästinenser vorstellen, der zwischen dieser Idee
und der von Sharon vorgeschlagenen Annexion unterscheiden kann. Oder einen
Palästinenser, der sich darüber viele Gedanken macht, was in 99 Jahren sein
wird.
Wozu sind alle diese Tricks gut?
Ich bin nicht naiv, und ich kenne den Zweck solcher Wahlbühnen. Sie sind
dazu da, um Stimmen anzuziehen - am nächsten Tag sind sie wieder vergessen.
Aber diese besonderen Tricks sind nicht einmal für diesen Zweck gut.
Das Komitee dachte offenbar, dass Peretz’ wirkliches Programm die Wähler
abschrecken könnte. Deshalb schlägt es eine zusammengestrichene, gereinigte
Version vor, in der Hoffnung, die Leute im mythischen Zentrum anzusprechen,
die jetzt auf Sharon starren. Es ist auch klar, dass die, die das Programm
formuliert haben, ein Programm zusammenbasteln wollten, das die Laborpartei
notfalls in die Lage versetzt, eine Koalition einzugehen, die von Sharon
angeführt wird. Aber das ist ein Kalkulationsfehler.
Diese Wahlen stellen keine Auswahl zwischen Programmen dar, sondern eine
Wahl zwischen drei Personen: Sharon, Netanyahu und Peretz. Keiner kümmert
sich darum, wer der Kandidat Nr. 9 oder 13 auf der Labor-, Likud -oder
Kadima-Liste ist. Sie wollen einen Mann an die Spitze wählen, der für sie
wie ein Mann aussieht, der den Staat führen kann. In dieser Hinsicht
überragt Sharon im Augenblick alle.
Die Labor-Wahlkampagne muss die Öffentlichkeit überzeugen, dass Amir Peretz
Führungsqualitäten hat, dass er konsequent und selbstsicher ist und sich vor
allen Dingen nicht fürchtet; es muss ein Ministerpräsident sein, der nicht
klein beigibt, der genau weiß, was er will, der klare Lösungen für alle
Probleme hat. Ein Programm, das oberflächlich, kraftlos und zusammengeflickt
ist, wird keinen überzeugen, dass Peretz der richtige Mann ist.
Ein Kamel wird jetzt nicht gebraucht. Das Volk wünscht sich einen Reiter auf
einem echten Pferderücken.
(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
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hagalil.com 02-01-2006 |