Der palästinensische Romeo:
Gedanken zum Film "Arnas Kinder"
Uri Avnery
Arna Mer war eine temperamentvolle, aufregende Frau. Sie war die
Tochter eines (israelischen) Mediziners, der schon zu Lebzeiten eine Legende
war. Als junge Frau schloss sie sich den Palmachkämpfern im Untergrund an,
und seitdem wurde die von ihnen geschätzte Keffiye* ihr persönliches
Markenzeichen, das sie immer um den Hals trug.
Nach dem Krieg von 1948 schloss sie sich der damals in Israel am meisten
gehassten Gruppe – der kommunistischen Partei - an und heiratete einen
arabischen Parteifunktionär. Ihre beiden bekannten Söhne Juliano und Spartak
tragen die Namen von Revolutionären.
Zu Beginn der 1. Intifada adoptierte Arna das Jeniner Flüchtlingslager,
ein Meer von Elend und Armut, und schuf eine Insel des Lichtes: ein
Kindertheater. Mit Hilfe von Juliano, einem strebsamen Schauspieler, scharte
sie eine Gruppe von 9/10 jährigen Jungen und Mädchen um sich und gab
improvisierte Vorstellungen mit den primitivsten Mitteln. Da sie fließend
arabisch sprach und sich vollständig mit dem Leiden der Palästinenser
identifizierte, ermunterte sie die Kinder, ihren Zorn, ihren Stolz und ihre
Opposition gegen die Besatzung auszudrücken. Für diese hingebungsvolle
Arbeit (in ihrem Projekt "Care and Learning") wurde sie 1993 in Stockholm
mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Am Vorabend ihres Todes
besuchte sie - obwohl schon sehr schwach und gebrechlich - noch einmal das
Lager und verabschiedete sich.**
Solch eine Persönlichkeit hätte allein schon einen abendlangen Film
füllen können. Aber im Film "Arnas Kinder", bei dem Juliano die Regie
führte, treten die Kinderstars Seite an Seite mit der "Mutter" auf und
machten so den Film zu einem einzigartigen Dokument – ein unentbehrlicher
Film für den, der die Intifada verstehen will.
Vor einem Jahr erhob sich in Israel nach Muhammad Bakris Film "Jenin,
Jenin" ein Sturm. Er erreichte sogar den Obersten Gerichtshof (der die
Entscheidung, dass der Film nicht mehr gezeigt werden dürfe, rückgängig
machte). Beide Filme spielen sich mehr oder weniger auf demselben Grund und
Boden ab: die Jenin-Ereignisse vom April 2002, als die israelische Armee die
Westbankstadt überfiel und das Flüchtlingslager ein Teil der "Operation
Schutzschild" wurde. Beide zeigen eine tiefe Empathie für die
palästinensische Seite. Aber zwischen beiden gibt es einen großen
Unterschied. In Muhammad Bakris Film werden die Menschen von Jenin als Opfer
eines Massakers gezeigt. In Juliano Mers Version erscheinen sie als Helden,
die es mit der gewaltigen Macht der israelischen Armee aufnehmen. Die
palästinensischen Kämpfer im Film bestreiten empört die Behauptung, dass es
da ein Massaker gegeben habe, eine Behauptung, die sie als demütigend und
beleidigend betrachten. Was diesen Film zu einer unvergesslichen Erfahrung
macht, ist die doppelte Rolle seiner Helden.
Juliano filmte sie zunächst, als sie Kinder waren, Mitglieder von Arnas
Theatergruppe. Es sind bezaubernde Jungen und Mädchen, lebenslustig und
voller Humor. Wir sehen sie auf allen Vieren, bellend und einander
angreifend in der Haltung eines "Hundes". Wir sehen Ashraf, den
eindrucksvollsten Jungen, der davon träumt, einmal der "palästinensische
Romeo" zu werden. Wir hören diese Kinder, die unter unmenschlichen
Bedingungen leben, wie sie von einem Leben von Glück und Glanz träumen.
Im Laufe des Films begegnen wir ihnen noch einmal – diesmal sind es junge
Männer. Der lächelnde, faszinierende Ashraf, der palästinensische Romeo,
jagte sich bei einem Selbstmordattentat in die Luft. Wie in solch einem Fall
üblich, wurde kurz vor der Aktion mit ihm eine Videoaufnahme gefilmt: ein
bärtiger junger Mann, ernst und entschlossen, erklärt, dass der Tod besser
als das Leben in der Hölle eines Flüchtlingslagers unter Besatzung sei.
Andere fielen – "fielen", sie wurden nicht massakriert – in der Schlacht von
Jenin.
Die Palästinenser haben Juliano gegenüber vollstes Vertrauen, obwohl er
ein "Yahudi" ist (tatsächlich ja nur ein halber Jude, aber in ihren Augen
ist er eben Jude). So wurde ihm die Gelegenheit gegeben, die keinem anderen
Israeli zu teil wurde: ihm wurde erlaubt, sie bei Tag und bei Nacht zu
begleiten und zu photographieren und zwar bis zum Ende. So wurde ein
wirklich einzigartiges Dokument geschaffen. Es zeigt, wie jene Männer, die
in IDF-Pressemitteilungen als "bewaffnete Männer" beschrieben und als "Söhne
des Todes" (d.h. um getötet zu werden) definiert werden, leben und sterben.
Wir sehen, wie sie sich, mit leichten Waffen ausgerüstet, in kleinen
Gruppen bewegen oder in ihren Kleidern schlafen, um jeden Augenblick zu
einer Aktion aufspringen zu können. Sie sitzen zusammen, rauchen eine
Zigarette nach der anderen, scherzen manchmal mit einander, so wie es
Kämpfer vor der Schlacht tun. Ein Geist der Kameradschaft ist um sie. Es
sind alles junge Menschen voller Leben, die wissen, dass ihre Tage gezählt
sind. Keiner von ihnen ist ein religiöser Fanatiker.
Als Beobachtungsposten sie mit dem Handy alarmieren, dass eine
israelische gepanzerte Einheit sich nähert, gehen sie nach draußen und
greifen sie an, Kalaschnikows und Pistolen gegen schwere Panzer. Aber - so
sagen sie selbst – sie werden sich nicht ergeben, sie werden bis zuletzt
kämpfen. (im Sinne des Samson in der Bibel: "Ich will mit den Philistern
sterben" (Richter 16,30)
Dies ist die andere Seite der Meldung des routinierten Armeesprechers:
"Im Verlauf einer Suchaktion nach gewünschten Terroristen betrat die IDF das
Flüchtlingslager ...während des folgenden Feuergefechtes wurden fünf
Palästinenser getötet ... auf unserer Seite gab es keine Verluste..."
Es ist kein Geheimnis, dass die Armee kürzlich angefangen hat,
Panzerkolonnen in die palästinensischen Städte zu schicken, nicht um
"gewünschte Terroristen zu verhaften" auch nicht, um "tickende Bomben zu
entschärfen", sondern um diese bewaffneten Kämpfer aus ihren Verstecken zu
locken und sie zum Angreifen der Panzer zu verleiten – eine Aktion, die dem
Selbstmord gleichkommt.
Am Ende erschienen fast alle Kinder von Arna – noch einmal Seite an Seite
– auf den Mauern auf den üblichen Postern zur Verewigung der Märtyrer. Die
Kinder, die zu Beginn des Filmes so fröhlich und voller Possen waren, waren
ernst und bedrohend geworden.
In den Augen der meisten Israeli sind sie einfach Terroristen, Mörder und
Verbrecher, deren einziges Lebensziel es ist, "jüdisches Blut zu vergießen".
Sie sehen nicht die Menschen dahinter und fragen nicht, woher sie kamen und
was sie veranlasste, das zu tun, was sie tun. Deshalb verstehen sie auch
nicht die Quelle ihrer Stärke und Ausdauer. In den Augen der Palästinenser
sind sie Nationalhelden, tapfere junge Menschen, die bereit sind, ihr Leben
für die Würde und die Zukunft ihres Volkes zu geben. Sie denken über sie
etwa so, wie wir über unsere Untergrundkämpfer dachten, bevor Israel
geschaffen wurde.
Ashraf, der "palästinensische Romeo", starb zusammen mit seinen Freunden
wie Romeo in Shakespeares Tragödie. Als wir den Film sahen, war uns klar,
dass für jeden einzelnen von ihnen inzwischen Dutzend andere ihren Platz
einnehmen.
Als wir nach der Filmvorstellung den Saal verließen, ging mir eine Frage
durch den Kopf: werden am Ende, wenn die Palästinenser ihre Unabhängigkeit
erhalten werden, und diese Kämpfer ein Teil des Nationalmythos geworden
sind, diese in den dunkelsten Zeiten gewachsenen Beziehungen zwischen diesen
Kindern und Arna - und ihr ähnlichen Leuten - eine Basis für Versöhnung
schaffen?
Es ist immer schwierig, die andere Seite einer Münze zu sehen – noch dazu
mitten im Kampf, wenn Leid, Zorn und Hass vorherrschen. Dieser Film gibt uns
eine seltene Gelegenheit, ein vollständigeres und realistischeres Bild zu
erhalten. Es ist ein sehr bewegender Film, ein Film, der unsere Augen öffnet
und erklärt, warum die israelische Armee die Intifada nicht bezwingen kann –
obwohl sie "jeden Tag gewinnt", wie der Kommandeur des Gazastreifens in
dieser Woche mit blindem Stolz verkündete.
* Keffiye : das schwarz-weiße Palästinensertuch, die ursprüngliche,
normale Kopfbedeckung der arabischen Männer Palästinas
** ich durfte die schwer krebskranke Arna Mer wenige Wochen vor ihrem Tode
(1994) in Haifa besuchen – obwohl sehr geschwächt, hatte sie noch die
Energie, gegen die Besatzungspolitik zu wettern.
(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
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hagalil.com 18-03-2004 |