Arafat besuchen:
Um Himmelswillen, warum?
Uri Avnery
"Sind Sie verrückt geworden? Gerade jetzt?
Er ist doch erledigt!" Das waren die Reaktionen von einigen Leuten, als das
israelische Fernsehen mein Treffen mit Arafat in Ramallah in dieser Woche
zeigte.
Ist Arafat "erledigt"? Wenn dem so wäre - er
hat nichts darüber gehört. Ich fand ihn in bester Verfassung. Bei einigen
meiner Treffen mit ihm im Laufe der letzten Jahre sah er häufig müde aus,
zurückhaltend und in sich selbst versunken. Dieses Mal war er in guter
Stimmung. Er sprach entschieden, reagierte schnell, machte sich sanft lustig
über seine Mitarbeiter und machte auch ein paar bissige Bemerkungen.
( Z.B.: als er über Sharons Forderung sprach,
dass Abu-Mazen Massenverhaftungen ausführen solle, lachte er: "Aber die
Israelis haben alle unsere Gefängnisse zerstört, außer dem einen in Jericho.
Und wenn wir einen Kriminellen dorthin bringen wollen, müssen wir das
Quartett (USA, EU, UNO, Russland) um einen Wagen bitten und die Durchfahrt
durch die israelischen Checkpoints ermöglichen.")
Man kann seine gute Stimmung verstehen.
Während des letzten Jahres hat sein Leben wie an einem seidenen Faden
gehangen. Sharon hätte jeden Augenblick seine Leute schicken können, um ihn
zu töten. Mehrere Male schien diese Gefahr so nahe, dass meine Freunde und
ich es für nötig fanden, schnell hinzueilen und menschliches Schutzschild zu
sein. Einer der israelischen Offiziere rühmte sich in dieser Woche, dass
"nur eine dünne Wand mich von ihm trennte."
Nun ist diese Gefahr in weitere Ferne gerückt
- auch wenn Arafat noch immer in seinem kleinen Gebäude inmitten von
surrealistischen Ruinen festgehalten wird.
Während der letzten 45 Jahre war sein Leben
viele Male in Gefahr. Viele Attentatsversuche wurden auf sein Leben
unternommen. Einmal musste sein Flugzeug notlanden und mehrere seiner
Mitarbeiter kamen ums Leben. Er überlebte. Dieses Mal auch. Sein Gefühl der
Erleichterung ist nur zu verständlich.
Es gibt auch eine physische Erleichterung.
Seitdem er nach Palästina zurückgekehrt ist, war seine Arbeitslast
unglaublich. Da er darauf bestand, praktisch alles selbst zu entscheiden,
große und kleine Dinge, arbeitete er unmenschlich, oft bis in die frühen
Morgenstunden. Jetzt ist er vom wesentlichen Teil der Routinearbeit befreit
und die Folgen sind offensichtlich.
Die Hauptsache aber ist, dass Arafats Ansehen
innerhalb seines Volkes jetzt stärker als jemals zuvor ist. Seltsam genug,
dass dies die Folge der Ernennung eines Ministerpräsidenten ist. Die
Ernennung von Abu-Mazen, die von Sharon und Bush verlangt wurde, um Arafat
zu "schwächen" und um ihn "beiseite zu schieben", hatte den gegenteiligen
Effekt.
Das muss erklärt werden: Schon seit Jahren war
in Israel und im Westen eine andauernde und konzentrierte Kampagne geführt
worden, die Arafat dämonisierte. In den zehn Jahren nach Oslo sind in den
israelischen Medien Millionen von Wörtern über ihn gesprochen oder
geschrieben worden - aber ich erinnere mich nicht an ein einziges Wort des
Lobes. Er ist systematisch als Terrorist, Tyrann, Diktator, korrupter
Lügner, Betrüger und was noch alles beschrieben worden. Insbesondere wurde
er als der Mann hingestellt, der zu den "unerhört großzügigen" Angeboten von
Ehud Barak und Präsident Clinton "nein" sagte und der damit "beweist", dass
sein wirkliches Ziel sei, Israel zu zerstören.
All diejenigen, die mit dieser Propaganda
gefüttert wurden, können nicht verstehen, warum die Palästinenser ihn
verehren. Die Antwort lautet: genau aus denselben Gründen.
In den Augen der Palästinenser - fast aller
von ihnen - ist Arafat ein furchtloser Führer, der auch unter den
schwierigsten Umständen unerschütterlich bleibt; ein Mann, der den Mumm hat,
zu den Forderungen der Mächtigen der Welt "nein" zu sagen, da sie das
palästinensische Volk um seine fundamentalen Rechte betrügen wollen. Ohne
zurückzuschrecken stand er den Herrschern der arabischen Welt gegenüber. In
Camp David stand er unter immensem Druck von Clinton und Barak - ohne
zurückzuweichen. Er hielt unter schrecklichen Bedingungen die Belagerung
seines Amtssitzes in Ramallah aus - ohne zusammenzubrechen.
Die Palästinenser, wie alle Araber und alle
Völker, bewundern persönlichen Mut. Arafat hat Mut unter Bedingungen
bewiesen, denen kein anderer Führer der Welt gegenüber stehen musste. Er ist
zu einem Symbol der Standhaftigkeit des ganzen palästinensischen Volkes
geworden. Dies ist die Quelle seiner Autorität, sogar in den Augen seiner
vielen Kritiker des rechten und linken Flügels.
Seine Autorität ist für Abu-Mazens politische
Effektivität wesentlich. Im Gegensatz zu Arafat ist Abu-Mazen im Westen
populär. Er strahlt Mäßigung und Bereitschaft zu Kompromissen aus. Das ist
das Gesicht, das der Westen zu sehen wünscht. Beide sind in etwa wie Ben
Gurion und Sharett in Israels frühen Tagen. Ben Gurion war das Idol der
israelischen Öffentlichkeit, während Sharett auf internationaler Ebene
populär war.
Abu-Mazen wird von der palästinensischen
Öffentlichkeit akzeptiert. Wenn jemand anders unter diesen Umständen das Amt
angenommen hätte, würde er unter Verdacht stehen, ein Kollaborateur zu sein.
Aber Abu-Mazen ist als palästinensischer Patriot bekannt und wird als einer
der Gründer der Fatah-Bewegung respektiert. Selbst in extremen
Demonstrationen hörte ich nie Protestschreie gegen ihn. Doch ist er kein
charismatischer Führer, und er hat keine solide politische Basis.
Das ist es, warum Abu-Mazen Arafat benötigt.
Ohne seinen soliden Rückhalt wird Abu Mazen weder fähig sein, Konzessionen
im Ausland zu machen, noch zu Hause wirkungsvoll handeln können. Mehr als je
ist Arafat für den Fortschritt auf dem Weg des Friedens wichtig.
Aber wünscht Arafat wirklich Frieden? Die
meisten Israelis können sich so etwas gar nicht vorstellen. Wie sollten sie
auch? Hörten sie jemals die wahre Geschichte?
Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich
folgendes erzählen: Am Ende des Oktoberkrieges, 1973, folgerte Arafat, dass
wenn die Armeen Ägyptens und Syriens nach ihren unerwartet glänzenden
Anfangssiegen besiegt werden, dass es keine militärische Lösung dieses
Konfliktes gibt. Wie gewöhnlich entschied er schnell und entschied allein.
Er wies den ihm nahe stehenden Said Hamami an, in London einen Artikel zu
veröffentlichen, um ein Friedensabkommen mit Israel mit politischen Mitteln
zu befürworten. (Dies veranlasste mich, mich mit Hamami im Geheimen zu
treffen, und seitdem habe ich Arafats Maßnahmen aus der Nähe verfolgt)
Für die palästinensische Nationalbewegung war
die vorgeschlagene Wende radikal. Ein politischer Prozess anstelle des
alleinigen Verlasses auf den "bewaffneten Kampf". Ein Friedensabkommen mit
Israel, das 78% des palästinensischen Landes in Besitz genommen und die
Hälfte des palästinensischen Volkes aus seiner Heimat vertrieben hat?
Das erforderte eine geistige und politische
Revolution, und seit 1974 fördert Arafat diese Revolution vorsichtig, aber
entschlossen - Schritt für Schritt. (Ich konnte diese Schritte verfolgen:
zuerst durch Hamami und Issam Sartawi, später durch persönlichen Kontakt mit
Arafat). 1988 hat der Palästinensische Nationalrat - nach einer Reihe von
ambivalenten Resolutionen - zu guter Letzt diese Linie ausdrücklich
angenommen. Abu-Mazen war mit diesem Prozess von Anfang an eng verbunden.
Während dieser Periode widersetzten sich
Yitzhak Rabin und Shimon Peres aktiv dieser Entwicklung. (Auch hier bin ich
ein persönlicher Zeuge, da ich mehrere Botschaften von Arafat an Rabin
überbrachte.) Es muss um der historischen Wahrheit willen klar festgestellt
werden: nicht Rabin und Peres waren die geistigen Väter von Oslo, sondern
Arafat und Abu-Mazen. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Peres und
nicht an Abu-Mazen war deshalb eine große Ungerechtigkeit.
Sharon wünscht natürlich keinen Frieden, der
einen lebensfähigen Staat in den besetzten Gebieten mit sich bringt - und
die Evakuierung der Siedlungen. Aber er ist viel zu schlau, um Abu-Mazen,
den Protégé des Westens, offen zu sabotieren. Deshalb konzentriert er all
seine Bemühungen, um Arafat zu brechen. Er weiß genau, Abu-Mazen ist ohne
ihn wirkungslos.
Das ist der springende Punkt bei der Sache.
Arafat ist für die Friedensbemühung wesentlich.
Genau deshalb habe ich ihn besucht.
(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
uri-avnery.de /
avnery-news.co.il
22.03.03
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