Arafat beseitigen:
Eine vorausgesagte Katastrophe
Uri Avnery
So, jetzt ist es offiziell: die Regierung
von Israel hat sich entschieden, Yasser Arafat zu ermorden. Man spricht
nicht mehr von "Exil", nicht mehr von "vertreiben oder töten". Ganz einfach
von "beseitigen".
Natürlich ist es nicht die Absicht, ihn in ein
anderes Land zu bringen. Keiner glaubt ernsthaft daran, dass Yasser Arafat
seine Hände heben wird und er damit einverstanden ist, dass man ihn gefangen
abführt. Er und seine Männer werden "während eines Feuerwechsels" getötet
werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein "Verdächtigter" schon die
Verhaftung nicht überlebt.
Selbst wenn es möglich wäre, Arafat in ein
anderes Land auszuweisen, so würde keiner in der israelischen Führung auch
nur im Traum daran denken. Wieso auch? Sollen wir ihm etwa erlauben bei
Putin, Schröder und Chirac vorzusprechen? Um Himmels willen! Da ist es doch
besser, ihn gleich in die andere Welt zu befördern. Ok, nicht sofort. Die
Amerikaner verbieten es. Das könnte Bush in Rage bringen. Sharon möchte Bush
nicht verärgern.
Einige Leute beruhigen sich mit dem Gedanken,
dies sei nur eine leere Resolution. Es steht ja darin, dass sie zu einer
Zeit und in einer Weise ausgeführt werden würde, die noch entschieden werden
müsse. Aber das ist Wunschdenken, ein gefährliches Wunschdenken. Die
Entscheidung, diesen Mord zu legitimieren, ist an sich schon ein
weitreichender politischer Akt. Man beabsichtigt damit, dass sich die
israelische und internationale Öffentlichkeit an diesen Gedanken gewöhnen
solle. Was normalerweise wie ein wahnsinniger Akt von extremen Fanatikern
klingt, hat nun den Anschein eines legitimen politischen Vorgangs, bei dem
nur noch der Zeitpunkt und die Art und Weise zu bestimmen sind.
Jeder, der Ariel Sharon näher kennt, weiß, wie
es nun weitergehen wird. Er wird auf seine günstige Gelegenheit warten, die
jeden Augenblick oder in einer Woche, in einem Monat oder in einem Jahr
kommen wird. Er hat Geduld. Wenn er sich für eine Tat entscheidet, ist er
auch bereit, zu warten – er wird aber niemals von seinem Ziel abweichen.
Wann wird also der geplante Mord stattfinden?
Wenn etwa ein großer Selbstmordanschlag sich in Israel ereignen wird und
zwar ein so großer, dass eine extreme Reaktion auch von den Amerikanern
hingenommen würde? Oder wenn irgendwo irgendetwas geschieht, das die
Aufmerksamkeit der Welt von unserm Land ablenkt? Oder wenn ein dramatischer
Vorfall, vergleichbar der Zerstörung der Zwillingstürme, Bush wütend macht?
Und was geschieht danach?
Arabische Führer sagen, dies werde "unberechenbare Folgen" haben. In
Wahrheit aber können die Folgen sehr wohl im Voraus kalkuliert werden, denn
der Mord an Arafat wird eine historische Wende in den Beziehungen zwischen
Israel und dem palästinensischen Volk mit sich bringen.
Seit dem 1973er-Krieg haben beide Völker die
Idee eines Kompromisses zwischen den beiden großen Nationalbewegungen
akzeptiert. Im Oslo-Abkommen, nach einem von Yasser Arafat praktisch allein
initiierten Prozess, gaben die Palästinenser 78% ihres Landes, das vor 1948
Palästina genannt wurde, auf. Sie waren damit einverstanden, ihren Staat auf
den restlichen 22% zu errichten. Allein Arafat hatte den moralischen und
politischen Rang, der notwendig war, das Volk zu überzeugen – so wie Ben
Gurion in der Lage war, unser Volk zu überzeugen, den Teilungsplan zu
akzeptieren.
Selbst in den schwierigsten Krisen seit jener
Zeit sind beide Völker in ihrem Glauben standhaft geblieben, dass es am Ende
einen Kompromiss geben wird.
Der Mord an Arafat wird dem vielleicht auf
immer ein Ende setzen. Wir werden zum Stadium des "Alles oder Nichts"
zurückkehren. Groß-Israel oder Groß-Palästina, die Juden ins Meer werfen
oder die Palästinenser in die Wüste hinaustreiben. Die Palästinensische
Behörde wird verschwinden. Israel wird gezwungen sein, die ganzen
palästinensischen Gebiete zu übernehmen – mit all dem wirtschaftlichen und
menschlichen Druck, der damit verbunden ist. Die "De-luxe-Besatzung, die
Israel in den besetzten Gebieten alles erlaubte, was es wollte, und deren
Rechnungen durch die Welt bezahlt werden, wird aufhören.
Gewalt wird souverän herrschen. Es wird die
einzige Sprache beider Völker sein. In Jerusalem und Ramallah, Haifa und
Hebron, Tulkarm und Tel-Aviv wird die Angst herrschen. Jede Mutter, die ihre
Kinder zur Schule schickt, wird sich vor Sorge verzehren, bis sie wieder zu
Hause sind. Terror auf dieser Seite und eine immer größer werdende
Gewaltspirale, eine automatische und unaufhörliche Eskalation.
Das Erdbeben wird sich nicht auf das Land
zwischen Mittelmeer und Jordan beschränken. Die ganze arabische Welt wird
ausbrechen. Arafat, der Märtyrer, der Held, das Symbol, wird eine
gesamt-arabische, eine gesamt-muslimische mythologische Gestalt werden. Sein
Name wird von Indonesien bis Marokko für alle Revolutionäre ein
Schlachtenruf, eine Losung für alle religiösen und nationalistischen
Untergrundorganisationen werden.
Die Erde wird unter den Füßen aller arabischen
Regime erzittern. Verglichen mit Arafat, dem Helden, werden alle Könige,
Emire und Präsidenten unmännlich, als Verräter und Marionetten erscheinen.
Wenn einer von ihnen fällt, wird der Dominoeffekt eintreten.
Das Blutvergießen wird weltweit sein. Jeder
Israeli ein Ziel, - jedes Flugzeug, jede Gruppe von Touristen, jede
israelische Institution wird in ständiger Angst sein.
Die Amerikaner haben ihre Gründe, gegen den
Mord zu stimmen. Sie wissen, dass der Mord an Arafat ihre Position in der
arabischen und muslimischen Welt im Kern erschüttern würde. Der
Guerillakrieg, der im Irak immer größere Kreise zieht, wird sich in den
arabischen und in anderen muslimischen Ländern, ja weltweit, verbreiten.
Jeder Araber und Muslim wird glauben, Sharon habe mit amerikanischem
Einverständnis und der Ermutigung durch die Amerikaner gehandelt, trotz des
schwachen Widerspruches, der damit verbunden war. Die Wut wird gegen sie
gerichtet sein. Viele neue Bin Ladens werden Rache schwören.
Versteht Sharon dies nicht? Doch, natürlich!
Die politischen Niemande, aus denen die Regierung zusammengesetzt ist, mögen
unfähig sein, über ihre Nasenspitze hinauszusehen, genau so wie die mit
Scheuklappen versehenen Generäle, die nur im Töten und Zerstören eine Lösung
sehen. Aber Sharon weiß, wie die Folgen wahrscheinlich aussehen werden - und
hat Gefallen daran.
Sharon will den historischen Zusammenstoß
zwischen Zionismus und palästinensischem Volk mit einer ganz klaren
Entscheidung zu Ende bringen: die dauerhafte israelische Herrschaft über das
ganze Land und eine Situation, die die Palästinenser zwingt, das Land zu
verlassen. Yasser Arafat ist tatsächlich das "totale Hindernis", wie es im
Regierungsbeschluss definiert wurde, um diesen Plan auszuführen. Und eine
Periode der Anarchie und des Blutvergießens würde für seine Erfüllung gut
sein.
Und die Menschen in Israel? Die armen, durch
eine Gehirnwäsche gegangenen, verzweifelten und apathischen Leute mischen
sich nicht ein. Die schweigende, blutende Mehrheit benimmt sich so, als
ginge sie und ihre Kinder dies nichts an. Sie folgen Sharon, wie die Kinder
dem Rattenfänger von Hameln direkt ins Verderben nachfolgten.
Dieses donnernde Schweigen ist eine
Katastrophe. Um diese Katastrophe zu verhindern, ist es unsere verdammte
Pflicht und Schuldigkeit, dieses Schweigen zu brechen.
(Aus dem Englischen übersetzt: Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
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avnery-news.co.il
22.03.03
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