Uri Avnery
Jeder TV-Zuschauer kennt die Brücke
zwischen den beiden Gebäuden, die zwischen den Ruinen des
Mukata'ah-Komplexes in Ramallah stehen geblieben sind. Während eines meiner
letzten Besuche zeigte ein palästinensischer Offizier auf einen einfachen
Tisch und Stuhl neben einem der Fenster dieser Brücke. Durch dieses Fenster
kann man ein Stück palästinensischer Landschaft hinter Ramallah sehen. "Hier
sitzt Abu Amar gern zwischen den Sitzungen und schaut hinaus", erklärte er.
Abu Amar ist der Kosename von Yasser Arafat.
Als ich ihm vor 21 Jahren zum ersten Mal in
Beirut begegnete, war er einer der beweglichsten Führer der Welt, wenn nicht
der beweglichste von allen. Einmal erzählte er, dass er in den letzten fünf
Tagen sieben Länder besucht und nur im Flugzeug zwischen den
Bestimmungsorten geschlafen habe. Zu jener Zeit trug er um den Hals einen
Stützapparat. Jetzt sitzt er seit mehr als zwei Jahren im Gebäudekomplex
gefangen. Zeitweise waren die Lebensbedingungen schlimmer als in einem
gewöhnlichen Gefängnis: er lebte in einem abgeschlossenen Raum ohne
Sauerstoffzufuhr und fast ohne Wasser, mit verstopfter Abwasserleitung. Er
wusste, dass in jedem Augenblick Sharons Soldaten hereinstürmen konnten, um
ihn zu töten.
In ein paar Tagen wird er 74 Jahre alt. Er
wird seinen Geburtstag in seinem Gefängnis verbringen.
Dies ist eine gute Gelegenheit, sich über
diesen Menschen und sein Lebenswerk Gedanken zu machen.
Auf der Weltbühne befindet er sich länger als
jeder andere Führer - ausgenommen Fidel Castro. Viele der heutigen Führer
der Welt , wie Bush oder Blair, waren noch Kinder, während er schon die
Verantwortung für das Schicksal des palästinensischen Volkes in seinen
Händen hielt. Sein Gesicht ist in der ganzen Welt bekannt. Er ist einer der
verleumdetsten Staatsmänner der Welt, vielleicht mehr als jeder andere.
Er ist die am meisten gehasste Person in
Israel. Die vom rechten Flügel wetteifern mit denen vom linken, wie sie
diesen Hass am besten ausdrücken können. Es gibt kaum einen Artikel eines
israelischen Linken, der nicht ein paar Worte des Abscheus über ihn enthält.
Er ist der bewundertste und geliebteste Führer
seines eigenen Volkes und anscheinend auch der bewundertste Führer der
Massen der arabischen und muslimischen Welt. Gar nicht übel für einen
Menschen, der 74 Jahre alt wird.
Der Titel, der seinem Namen meistens
hinzugefügt wird, ist "Symbol". Selbst die palästinensischen
Oppositionsgruppen nennen ihn "Das Symbol des palästinensischen Volkes". Das
stimmt, ist aber auch irreführend.
Irreführend deshalb, weil eine "symbolische"
Person gewöhnlich jemand ist, für den Denkmäler errichtet werden oder dessen
Photos die Mauern zieren. Der Präsident von Israel ist ein Symbol, wie auch
die Präsidenten von Deutschland und Italien, während Arafat ein sehr aktiver
Führer ist, der die palästinensische Szene beherrscht.
Trotzdem passt der Titel auch zu ihm. Arafats
Lebenslauf vom Anführer einer winzigen Gruppe von Flüchtlingen bis zum
gegenwärtigen Stand, in der die ganze Welt die Idee eines palästinensischen
Staates unterstützt, symbolisiert den palästinensischen Überlebenskampf.
Keiner symbolisiert die Lage des palästinensischen Volkes, sein Leiden,
seine Entschlossenheit und seinen Mut mehr als der Mann im belagerten
Mukata'ah, einem Gefängnis innerhalb eines Gefängnisses (Ramallah),
innerhalb eines Gefängnisses (alle palästinensischen Gebiete).
Viel ist schon über sein frühes Leben
geschrieben worden, über seinen Vater, einen Kaufmann aus Gaza, der nach
Ägypten übergesiedelt ist; über seine Mutter, die starb, als er noch ein
kleines Kind war; über seine Kindheit in der Familie seiner Mutter in
Jerusalem.
In letzter Zeit erzählt Arafat wiederholt
seinen Gästen - Palästinensern, Israelis und Ausländern - von jenen
glücklichen Jahren, als er mit jüdischen Kindern in der Nähe der Klagemauer
spielte. Die Jahre mit der Familie seines Vaters scheinen viel weniger
Nostalgie zu wecken.
Er erinnert die Leute gern daran, dass er
Ingenieurwissenschaften studiert hat. Er führt sein legendäres Gedächtnis -
besonders für Zahlen und Fakten - auf seinen Beruf zurück. Mehr als einmal
korrigierte er mich, wenn es sich um Zahlen handelte: wie viele
ultra-religiöse Mitglieder in der Knesset seien, wie viele Prozente genau
von der Westbank Sharon als "schmerzhafte Konzessionen" den Palästinensern
zu "geben" bereit sei.
Seine politische Karriere begann in der
Palästinensischen Studentenvereinigung in Kairo. Diese gewann historische
Bedeutung, als er in den späten Fünfziger Jahren die Fatah-Organisation
gründete - die erste palästinensische Befreiungsbewegung seit der
Katastrophe von 1948.
Befreiung - von wem? Nun offensichtlich von
Israel. Aber in Wirklichkeit auch von der Vorherrschaft der arabischen
Führer. Es ist unmöglich, Arafat zu verstehen, ohne dieses wichtige Kapitel
seines Lebens zu kennen. Damals diente die palästinensische Sache als
Fußball im inter-arabischen Spiel. Jeder arabische Herrscher
instrumentalisierte sie, um seinen Anspruch auf die Führung der arabischen
Welt zu verstärken und seine Konkurrenten zu schlagen. Gamal Abd-al-Nasser
in Ägypten, Abd-al-Karim Kassem im Irak, der junge König Hussein in
Jordanien und ihre Kollegen in Saudi Arabien, Marokko und den andern Ländern
- jeder behauptete, er sei der Verteidiger des palästinensischen Volkes,
während er gnadenlos jedes Anzeichen einer unabhängigen palästinensischen
Aktion im eigenen Lande unterdrückte. In den Augen Arafats und seiner
Genossen wurde deshalb die Unabhängigkeit der palästinensischen
Beschlussfassung zu einem heiligen Ziel.
Fatah wurde in diese Realität hineingeboren.
Arafat und seine Gruppe wollte die palästinensische Sache den Händen der
arabischen Herrscher entreißen. Die neue Bewegung hatte keine Macht, kein
Geld, keine Waffen. Sie hatte nirgendwo eine freie Basis. Ihre Aktivisten
konnten von den Geheimdiensten jeder arabischen Regierung gefangen genommen
werden, wenn sie nicht den Befehlen der lokalen Diktatoren gehorchten. Dies
geschah viele Male. Der Höhepunkt wurde erreicht, als der syrische Diktator
die ganze Fatah-Führung, einschließlich Arafat, ins Gefängnis warf. Nur die
Frau von Abu Jihad, Umm Jihad (jetzt die Ministerin für Soziale
Angelegenheiten in der palästinensischen Regierung) wurde draußen gelassen;
sie übernahm das Kommando der Fatahkräfte.
Damit die Bewegung überlebte, musste Arafat
zwischen den Führern manövrieren, Leuten schmeicheln, die er verachtete,
sich Führern anbiedern, die sich nicht im geringsten für die Sache der
Palästinenser interessierten. Wie eine bedeutende palästinensische
Persönlichkeit mir erzählte: "Für das Überleben unseres Volkes musste er
heucheln, lügen, tricksen, sich zweideutig ausdrücken, Listen anwenden. Es
war damals, als die für Arafat typische Redeweise sich entwickelte."
Trotz der Sabotage durch die arabischen Regime
wuchs mit Hilfe dieser Methoden die Macht der Fatah langsam. Um sie zu
blockieren und die Palästinenser den ägyptischen Interessen zu unterwerfen,
initiierte Abd-al-Nasser die Gründung der PLO (Palästinensische
Befreiungsorganisation) und ernannte den alternden und ineffektiven
Demagogen Ahmad Shukeiri zu ihrem Führer. Aber der Juni-Krieg 1967 zerstörte
die Achtung gegenüber den Herrschern in Kairo, Amman und Damaskus. Die
Schlacht von Karameh (1968), in der die Fatahkämpfer - von Arafat persönlich
geführt - einen Sieg gegen das israelische Militär, das sie vernichten
sollte, errangen, ließ das Prestige der Fatah himmelhoch anwachsen. Nachdem
drei arabische Armeen schmachvoll durch Israel besiegt wurden, hatten sich
die Kämpfer der Fatah heroisch halten können. Die Folge davon: Fatah
übernahm die PLO, der 39jährige Arafat wurde der Führer der Nation.
Alle arabischen Herrscher, mit denen sich
Arafat damals konfrontieren musste, sind inzwischen gestorben oder wurden
ermordet - allein Arafat bleibt.
Vielleicht liegt seine größte Leistung als
nationaler Führer in seiner Fähigkeit, die Palästinenser zusammenzuhalten.
Die meisten Befreiungsbewegungen haben
Bruderkriege gekannt, bittere Abspaltungen und verzweifelte innere Kämpfe.
Der vorstaatliche hebräische Untergrund hat auch die Bruderkriegs-Saison
gekannt und den blutigen Altalena-Zwischenfall. Aber die Palästinenser,
deren Situation unvergleichlich schwieriger war, wurden vor diesem Los
bewahrt.
Fast alle anderen Bewegungen wuchsen aus der
Bevölkerung, die auf ihrem Land lebte, unter einem fremden Regime. Das
palästinensische Volk jedoch war in einem Dutzend Länder zerstreut, alle
unter unterdrückerischen Diktaturen. Der Name Palästina war gänzlich von der
Landkarte verschwunden - und selbst die Palästinenser, die in ihrer Heimat
geblieben waren, lebten unter gewaltsamen Herrschern - zunächst unter den
Jordaniern und Ägyptern, dann unter dem israelischen Militärgouverneur.
Als die PLO wuchs, versuchten alle arabischen
Regierungen Einfluss auf sie auszuüben. Damaskus, Bagdad, Riad, Kairo
gründeten - zusätzlich zu Moskau - palästinensische Organisationen, um ihre
Agenden dem palästinensischen Volke aufzudrängen. Säkulare und religiöse,
linke und rechte Organisationen versuchten ihr Spiel innerhalb der Bewegung
zu spielen. Arafat musste mit allen fertig werden, manövrieren, schmeicheln,
drohen, befrieden. So wurde er ein Altmeister dieser Kunst, vielleicht ihr
hervorragendster Praktiker in der Welt.
Zur selben Zeit musste er den nationalen Kampf
führen. Wie fast alle Führer der modernen Befreiungsbewegungen, von
Garibaldi bis Nelson Mandela, glaubte er an den "bewaffneten Kampf" (von den
fremden Regimen immer "Terrorismus" genannt). Die PLO-Organisationen führten
viele blutige Attacken aus, viele von ihnen brutal, einige absolut monströs,
auch wenn die meisten von diesen durch Organisationen geschahen, die
gleichzeitig gegen Arafat kämpften. Alle PLO-Führer glaubten, dass der
"bewaffnete Kampf" notwendig wäre, in Anbetracht des großen
Missverhältnisses zwischen der Militärmacht Israel und der fast
unbedeutenden Macht der Palästinenser.
Arafat selbst ist nach den Aussagen seiner
Mitarbeiter weit davon entfernt, grausam oder blutdurstig zu sein. Nur in
seltenen Fällen bestätigte er die Todesstrafe und nur dann, wenn die
Forderung der Öffentlichkeit unnachgiebig war. Die Zahl der in seinem
Bereich ausgeführten Exekutionen ist unvergleichlich kleiner als im Texas
des früheren Gouverneurs George W. Bush.
Kaum ein Experte in der Welt leugnet, dass die
Palästinenser ohne den "bewaffneten Kampf" nichts erreicht hätten, ja dass
sie längst ihre Heimat verloren hätten. Sie glauben, dass die gewalttätigen
Angriffe das palästinensische Volk in die Lage brachten, wieder auf der
Weltkarte zu erscheinen und der PLO erlaubte, ihre historischen Erfolge zu
erzielen: ihre Anerkennung als die "einzige legitime Vertreterin" des
palästinensischen Volkes zu sein, die Einladung in die UN, ihren
internationalen Rang, das Oslo-Abkommen, ihre Rückkehr nach Palästina und
die Schaffung des weltweiten Konsenses, der die Idee eines palästinensischen
Staates unterstützt.
Aber Arafat sah den "bewaffneten Kampf" nicht
als ein Ziel an sich. Gewalt ist für ihn ein Mittel unter anderen.
Ende 1973 tat er etwas, was unter Führern
selten ist. Nachdem er eine Revolution gemacht hat (die Schaffung der Fatah
und den Beginn des "bewaffneten Kampfes") initiierte er eine andere. (Jahre
später machte Yitzhak Rabin etwas Ähnliches.)
Der Oktoberkrieg 1973 änderte sein
strategisches Konzept. Bis dahin glaubte er, dass Israel mit Gewalt besiegt
werden könne. Der palästinensische Kampf war zunächst dafür bestimmt, eine
allgemeine militärische Konfrontation zwischen Israel und der arabischen
Welt auszulösen, wie es 1967 geschah. Im Oktober 1973 wurde Arafat klar,
dass diese Hoffnung in Wirklichkeit jeder Grundlage entbehrt. Die Armeen von
Ägypten und Syrien griffen Israel tatsächlich an und erzielten anfangs
Überraschungserfolge und einen überwältigenden Sieg. Aber innerhalb von zwei
Wochen drehte die israelische Armee den Spieß um und näherte sich Kairo und
Damaskus. Arafat - noch immer der rationale Ingenieur - zog den logischen
Schluss: es gibt keine militärische Lösung.
Von da war es nur noch ein Schritt zur zweiten
Schlussfolgerung: der palästinensische Staat kann nur durch Kompromisse
gegründet werden - durch ein politisches Abkommen mit Israel. Er begann,
daran zu arbeiten.
Die dafür notwendige Mühe war immens. Eine
ganze Generation von Palästinensern sah in Israel einen monströsen Feind,
der die Hälfte des palästinensischen Volkes aus seinen Häusern und von
seinem Boden vertrieben hatte und fortfuhr, die andere Hälfte zu
unterdrücken und zu enteignen. In dieser Zeit der Verzweiflung klammerten
sich die Palästinenser an den Glauben, dass die pure Existenz Israels
illegal sei, und dass es zu irgendeinem Zeitpunkt irgendwie vernichtet
werden würde. Arafat musste ihnen diesen Glauben nehmen und sein Volk dahin
bringen, einen Kompromiss zu akzeptieren, der dem palästinensischen Volk nur
22% seiner historischen Heimat lassen würde.
Er arbeitete daran, wie er es immer getan hat:
mit unendlicher Geduld und Sensibilität gegenüber den Menschen, mit
taktischen Manövern, Umwegen und Zweideutigkeiten. Er baute geheime Kontakte
mit einer winzigen Gruppe von israelischen Friedensaktivisten auf, (von
denen ich einer war), und hoffte, dass sie den Weg ins israelische
Establishment ebnen würde. Er ermutigte einige seiner Leute (hauptsächlich
Said Hamami und Issam Sartawi, die beide deshalb ermordet wurden), seine
verborgenen Gedanken öffentlich auszusprechen. Er veranlasste den
Palästinensischen Nationalrat, das Parlament im Exil, nach und nach seine
Resolutionen zu ändern. Bei diesen Bemühungen, die sich zwischen 1974 und
1988 vollzogen, wurde er hauptsächlich von Abu Mazen unterstützt.
Zu jener Zeit war Yitzhak Rabin noch ein
extremer Gegner eines Friedensabkommens mit den Palästinensern, und Shimon
Peres war der Pate der Siedlungen. Beide vertraten die "Jordanische Option".
Wenn jemand den Friedensnobelpreis für das Oslo-Abkommen verdient hat, dann
war es Arafat.
Eines der Attribute, die ihn den
Palästinensern teuer machen, ist sein ungewöhnlicher Mut. Als Ariel Sharon
1982 in den Libanon einfiel, um die Palästinenser zu vertreiben und ihren
Führer zu töten, hätte Arafat sich leicht beizeiten aus Beirut absetzen
können. Dies wäre von jedem als verständlicher Schritt akzeptiert worden.
Aber er blieb mit seinen Kämpfern bis zum letzten Tag in der belagerten
Stadt. Nach einer langen Schlacht verließen seine Männer mit erhobenem Kopf
und mit ihren Waffen - von Arafat angeführt - Beirut.
Eine andere, fast vergessene Episode brachte
ihm sogar noch mehr Bewunderung ein. Ein Jahr nach dem Auszug aus Beirut
griffen die Syrer und ihre Agenten die palästinensischen Kräfte in den
nordlibanesischen Flüchtlingslagern bei Tripoli an. Damals war Arafat gerade
Gast der UN in Genf. Er tat etwas fast Unglaubliches: im Geheimen kehrte er
in den Libanon zurück, schlüpfte in das belagerte Flüchtlingslager und
verließ dieses schließlich mit den Kämpfern, die sich auch diesmal nicht
ergaben.
Fast immer schwebte er in Lebensgefahr; denn
ein Dutzend Geheimdienste versuchte, ihn zu töten. Er überlebte mehrere
Mordversuche. Einmal entkam er aus größter Lebensgefahr, als sein Flugzeug
mitten in der Wüste unter schwierigen Bedingungen notlanden musste. Seine
Leibwächter kamen dabei ums Leben.
Mitten in der Schlacht von Beirut fragte ich
ihn, wo er wohl hingehen würde, wenn er lebend herauskäme. Ohne zu zögern,
sagte er: "Natürlich nach Hause!" Zwölf Jahre später - an seinem ersten Tag
in Gaza - flüsterte er mir zu: "Erinnern Sie sich daran, was ich in Beirut
sagte? Nun bin ich hier."
Als Chef der neuen Palästinensischen Behörde
war er mit einer der schwierigsten Aufgaben seines Lebens konfrontiert. Er
sah sich einer Herausforderung gegenüber, die jeder anderen
Befreiungsbewegung unbekannt war: er sollte eine Art Staat aufbauen, während
der Befreiungskampf noch in vollem Gange war.
Zusammen mit Arafat kehrten auch die Veteranen
des Kampfes zurück, die verständlicherweise glaubten, dass es ihr Recht sei,
die Nationale Behörde mit zu kontrollieren. Dasselbe beanspruchte auch die
junge Generation von Kämpfern, die während der Intifada herangewachsen war -
in Gefängnissen und im Untergrund. Dasselbe wurde auch von den Tausenden von
ausgebildeten Fachkräften gefordert, die an den Universitäten überall in der
Welt studiert hatten. (Einer von ihnen sagte mir: " OK, zeichnet all die
Kämpfer mit Medaillen aus! Der Staat aber muss von Leuten regiert werden,
die dafür ausgebildet sind".) Arafat musste "den Kuchen" unter ihnen
aufteilen sowie unter Leute der christlichen Minderheit, unter Frauen und
Vertretern der verschiedenen Regionen und - besonders wichtig - unter die
Vertreter großer Clans, die die palästinensische Gesellschaft seit
Jahrhunderten beherrschen und ohne die man nicht regieren kann. Alles
zusammen genommen, eine fast unmögliche Aufgabe.
Man kann nicht sagen, dass die Errichtung der
Palästinensischen Behörde ein ausgesprochener Erfolg war. Aber in Anbetracht
des in der Sache liegenden Druckes hat Arafat keine so schlechte Arbeit
geleistet.
Einer der Schwachpunkte war, dass die neue
Verwaltung zentralisiert war. Während des jahrzehntelangen Kampfes war
Arafat daran gewöhnt, alleine und schnell zu entscheiden. Seine Mitarbeiter
ließen ihn allzu willig die historischen Entscheidungen, die Mut und
persönliches Risiko verlangten, selbst zu übernehmen. Die meisten seiner
engsten Kampfgenossen waren während des Kampfes getötet worden, einige von
Israel, einige von dem irakischen Agenten Abu Nidal und andere wie er. Wie
alle Führer, die lange Zeit im Zentrum innerer Machtkämpfe und der
Verantwortung standen, ist Arafat einsam und misstrauisch geworden.
Einige palästinensische Persönlichkeiten
glaubten, dass mit der Einrichtung der Behörde der Kampf zu einem Ende
gekommen sei. Sie begannen damit, ihren eigenen persönlichen Interessen
nachzugehen, einige wurden korrupt, indem sie sich den Normen der
Nachbarländer (und nicht nur dieser) anglichen. So erhob sich in der
palästinensischen Öffentlichkeit Verstimmung. Israelische Linke begannen,
die "korrupte Behörde" zu verurteilen, die offizielle israelische
Propagandamaschine nahm die Geschichte auf und verbreitete sie fröhlich in
der ganzen Welt. Dies schadete der palästinensischen Sache während einer
sehr schwierigen Zeit.
Aber nicht der leiseste Verdacht konnte Arafat
selbst angehängt werden. Während Ariel Sharon im Begriff ist, in einem
Morast von Korruptionsaffären zu versinken, und führende Politiker wie
Helmut Kohl in Deutschland und Jacques Chirac in Frankreich in größeren
Skandalen eine Rolle spielen, bleibt Arafat außerhalb eines solchen
Verdachtes. Weder seinen Gegnern zu Hause noch den israelischen
Geheimdiensten gelang es, "Schmutzflecken" zu entdecken. Er führt ein sehr
einfaches Leben, hat kein eigenes Haus, seine Kleidung besteht aus seiner
Khakiuniform.
Während seines Lebens hat Arafat viele Fehler
gemacht. Er mag seine Opposition gegenüber der Sadat-Initiative 1977
übertrieben haben, indem er dem Druck seiner wütenden Mitarbeiter
nachgegeben hat. Seine Unterstützung für Saddam Hussein während des 1.
Golfkrieges war ein größerer Fehler, der teuer bezahlt werden musste. Mehr
als einmal irrte er sich bei der Auswahl der Mitarbeiter und Vertrauten.
Aber gegenüber seinem eigenen Volk ist er der
einzige Führer geblieben, dem bedingungslos vertraut werden kann. Ausländer
können dies nicht verstehen. Sie finden es merkwürdig, dass dieselben
Attribute, die ihn für viele Leute im Westen verhasst machen, ihn zu einem
Helden seines Volkes werden lassen.
Zum Beispiel: als Arafat in Camp David (2000)
ein klares "Nein!" zu den Vorschlägen von Ehud Barak und Bill Clinton sagte,
wurde er von den meisten im israelischen "Friedenslager" verurteilt. Aber
mit palästinensischen Augen gesehen, war dies der Inbegriff von Mut und des
nationalen Stolzes. Als er zum Gipfeltreffen ging, fürchteten viele
Palästinenser, dass er in eine Falle ginge, und dass er nicht die Kraft
haben würde, sich da herauszuziehen. Es war klar, dass die "großzügigen
Vorschläge" von Barak nicht dem Minimum entsprachen, das für Palästinenser
annehmbar war. Als er zurückkam, ohne nachgegeben zu haben, wurde er wie ein
Held empfangen.
Nun sind die Palästinenser bereit, Abu Mazen,
der davon überzeugt ist, dass er Konzessionen von Israel und den US erhalten
kann, einigen Glauben zu schenken. Abu Mazen ist ein alter Mitarbeiter von
Arafat und wird von der Öffentlichkeit geachtet. Aber kein Palästinenser
kann sich vorstellen, ihm das Schicksal der Nation anzuvertrauen.
Nur eine Person erfreut sich dieses
Vertrauens: der belagerte Mann im Mukata'ah. Er bleibt der letzte
Schiedsrichter.