Antisemitismus
Uri Avnery,
19.01.2004
Ein praktischer Leitfaden
Ein ungarischer Witz: Während des Junikrieges
1967 traf ein Ungar seinen Freund. "Warum siehst du so glücklich aus?"
fragte er. "Ich hörte, dass die Israelis heute sechs in Sowjetrussland
hergestellte MiGs abgeschossen haben," erwiderte sein Freund.
Am nächsten Tag sah sein Freund sogar noch fröhlicher drein. "Die Israelis
brachten heute weitere acht MiGs zum Absturz," verkündigte er.
Am dritten Tag aber ist sein Freund niedergeschlagen. "Was ist los? Haben
die Israelis heute keine MiGs heruntergeholt?" fragte der Mann. "Doch sie
haben," antwortete der Freund. "Aber heute sagte mir jemand, dass die
Israelis Juden sind!"
Das ist die ganze Geschichte in einer Nussschale.
Die Antisemiten hassen die Juden, weil sie Juden sind, ganz unabhängig
von dem, was sie tun. Juden können gehasst werden, weil sie reich sind und
damit prahlen oder weil sie arm sind und im Schmutz leben. Weil sie eine
große Rolle in der bolschewistischen Revolution spielten oder weil einige
nach dem Kollaps des kommunistischen Regimes unglaublich reich geworden
sind. Weil sie Jesus gekreuzigt haben oder weil sie die westliche Kultur mit
der "christlichen Mitleidsmoral" angesteckt haben. Weil sie kein Vaterland
haben oder weil sie den Staat Israel geschaffen haben.
Das steckt in der Natur aller Arten von Rassismus und Chauvinismus. Man
hasst jemanden, weil er ein Jude, ein Araber, eine Frau, ein Schwarzer, ein
Inder, ein Muslim, ein Hindu ist. Was der oder die einzelne an persönlichen
Eigenschaften hat, was er oder sie tut, was er oder sie leistet, ist
unwichtig. Wenn er oder sie zu einer verhassten Rasse, Religion oder dem
weiblichen Geschlecht gehört, wird er oder sie gehasst werden.
Die Antworten auf all die Fragen, die mit Antisemitismus zusammenhängen,
folgen dieser Grundtatsache. Zum Beispiel:
Ist jeder, der Israel kritisiert, ein
Antisemit?
Absolut nicht. Jemand der Israel wegen gewisser Akte kritisiert, kann
deswegen nicht des Antisemitismus verklagt werden. Aber jemand, der Israel
hasst, weil es ein jüdischer Staat ist - so wie der Ungar im oben erzählten
Witz -, ist ein Antisemit.
Es ist nicht immer einfach, zwischen diesen beiden Arten zu
unterscheiden, weil schlaue Antisemiten vorgeben, bona fide Kritik an
Israels Aktionen zu üben. Aber jede Kritik an Israel als Antisemitismus
hinzustellen, ist falsch und kontraproduktiv. Es schadet dem Kampf gegen den
Antisemitismus.
Viele Personen mit hohem sittlichen Ernst - die positive Auslese der
Menschheit - kritisieren unser Verhalten in den besetzten Gebieten. Es ist
dumm, sie des Antisemitismus' zu verklagen.
Kann jemand ein Anti-Zionist sein,
ohne ein Antisemit zu sein?
Absolut ja. Zionismus ist eine politische Ideologie und muss wie jede
andere behandelt werden. Man kann ein Anti-Kommunist sein, ohne
anti-chinesisch, ein Anti-Kapitalist sein ohne ein Anti-Amerikaner zu sein,
ein Antiglobalist, ein Anti-irgendetwas sein ...Doch wieder ist es nicht
einfach, eine klare Linie zu ziehen, weil wirkliche Antisemiten behaupten,
nur Antizionisten zu sein. Man sollte ihnen nicht helfen, den Unterschied zu
verwischen.
Kann jemand ein Antisemit und
gleichzeitig pro-zionistisch sein?
Tatsächlich ja. Der Gründer des modernen Zionismus, Theodor Herzl,
versuchte schon, die Unterstützung von bekannten russischen Antisemiten zu
gewinnen, indem er ihnen versprach, die Juden aus ihrer Gesellschaft zu
holen.
Vor dem 2.Weltkrieg hat die zionistische Untergrundorganisation IZL
(Irgun ) unter der Aufsicht antisemitischer Generäle (die auch die Juden los
sein wollten) militärische Trainingslager in Polen eingerichtet. Heute
empfängt die zionistische extreme Rechte ungeheure Unterstützung von den
amerikanischen, fundamentalistisch eingestellten Christen, die von der
Mehrheit der amerikanischen Juden - nach einer in dieser Woche
veröffentlichten Umfrage (
Die amerikanischen Juden sind eher Bush-Gegner) - zu tiefst als
antisemitisch betrachtet werden. Ihre Theologie geht davon aus, dass am
Vorabend der Wiederkunft Christi alle Juden zum Christentum konvertieren
müssen oder sie ausgerottet würden.
Kann ein Jude antisemitisch sein?
Das klingt wie ein Oxymoron - ein Widerspruch in sich selbst. Aber die
Geschichte kennt einige Beispiele von Juden, die zu wilden Judenhassern
geworden waren. Der spanische Großinquisitor Torquemada war ursprünglich
Jude. Karl Marx schrieb ein paar garstige Dinge über Juden, wie auch Otto
Weininger, ein bedeutender jüdischer Schriftsteller am Ende des 19.
Jahrhunderts. Auch Herzl, sein Zeitgenosse und Wiener Landsmann, schrieb in
seinen Tagebüchern einige sehr wenig schmeichelhafte Bemerkungen über Juden.
Wenn jemand Israel mehr kritisiert als
andere Länder, die dasselbe tun, ist er dann ein Antisemit?
Nicht unbedingt. Es stimmt, es sollte für alle Länder und Menschen ein
und derselbe moralische Maßstab gelten. Die russischen Aktionen in
Tschetschenien sind nicht besser als unsere in Nablus, vielleicht sogar
schlimmer. Das Problem ist, dass Juden als "das Volk der Opfer" dargestellt
wird, und es sich selbst als solches darstellt und (tatsächlich) ein "Volk
der Opfer" war. Deshalb ist die Welt schockiert, dass die Opfer von gestern
die Täter von heute sind. An uns wird ein höherer moralischer Maßstab gelegt
als an andere Völker. Und das ist so ganz in Ordnung.
Ist Europa wieder antisemitisch
geworden?
Nicht wirklich. Die Zahl der Antisemiten in Europa ist nicht gewachsen,
ja, sie ist eher zurück gegangen. Was gewachsen ist, ist das Maß der Kritik
an Israels Verhalten gegenüber den Palästinensern, die nun als die "Opfer
der Opfer" erscheinen.
Die Situation in einigen Vororten von Paris, die oft als Beispiel für
wachsenden Antisemitismus genannt wird, ist aber eine ganz andere Sache.
Wenn nordafrikanische Muslime auf nordafrikanische Juden treffen, dann
übertragen sie den israelisch-palästinensischen Konflikt auf europäischen
Boden. Es ist auch eine Fortsetzung der Fehde zwischen Arabern und Juden,
die in Algerien begann, als Juden das französische Regime unterstützten und
die Muslime sie als Kollaborateure der verhassten Kolonialherren
betrachteten.
Warum hat dann die Mehrheit in den
europäischen Staaten bei einer vor kurzer Zeit ausgeführten Umfrage
ausgesagt, dass Israel für den Weltfrieden eine größere Gefahr als andere
Staaten darstellt?
Da gibt es eine einfache Erklärung. Die Europäer sehen in ihren
Fernsehprogrammen jeden Tag, was unsere Soldaten in den besetzten
palästinensischen Gebieten tun. Von dieser Konfrontation wird mehr als von
jedem anderen Konflikt auf Erden (mit Ausnahme des augenblicklichen
Konfliktes im Irak) berichtet, weil Israel "interessanter" ist auf Grund der
langen Geschichte der Juden in Europa und weil Israel den westlichen Medien
näher steht als die muslimischen und afrikanischen Länder. Der
palästinensische Widerstand, den Israel "Terrorismus" nennt, scheint für
viele Europäer dem französischen Widerstand unter deutscher Besatzung zu
ähneln.
Und wie ist es mit der antisemitischen
Manifestation in der arabischen Welt?
Zweifellos sind typisch antisemitische Anzeichen in letzter Zeit in den
arabischen Diskurs geraten. Es genügt zu erwähnen, dass die berüchtigten
"Protokolle der Weisen von Zion" auf arabisch veröffentlicht wurden. Das ist
ein typisch europäischer Import. Die Protokolle wurden von der Geheimpolizei
des zaristischen Russlands erfunden.
Was immer für Unsinnigkeiten von gewissen "Experten" ausgesprochen
werden, so gab es nie einen weit verbreiteten muslimischen Antisemitismus,
wie er im christlichen Europa existiert hat. Während seines Machtkampfes hat
der Prophet Mohammad auch gegen benachbarte jüdische Stämme gekämpft. So
kamen ein paar negative Passagen über Juden in den Koran. Dies kann aber
nicht mit den antijüdischen Passagen der neutestamentlichen Geschichte über
die Kreuzigung Christi verglichen werden, die die christliche Welt vergiftet
und unendliches Leid verursacht haben. Das muslimische Spanien war für die
Juden ein Paradies, und niemals gab es in der muslimischen Welt einen
jüdischen Holocaust. Selbst Pogrome waren äußerst selten.
Mohammad verfügte, dass die "Völker des Buches" (Juden und Christen)
tolerant behandelt werden sollten; sie wurden zwar Bedingungen unterworfen,
die aber unvergleichlich liberaler waren als im Europa der damaligen Zeit.
Die Muslime haben ihre Religion nie mit Gewalt Juden und Christen
aufgezwungen, was allein die Tatsache belegt, dass fast alle aus dem
katholischen Spanien vertriebenen Juden sich in muslimischen Ländern
ansiedelten und dort wohl fühlten. Nach Jahrhunderte langer muslimischer
Herrschaft sind Griechen und Serben durchaus Christen geblieben.
Wenn Frieden zwischen Israel und der arabischen Welt zustande gebracht
wird, werden wahrscheinlich (und hoffentlich) die giftigen Früchte des
Antisemitismus aus der arabischen Welt zum größten Teil verschwinden (so wie
die giftigen Früchte des Araberhasses in unserer Gesellschaft).
Sind die Äußerungen des
Ministerpräsidenten von Malaysia, Mahathir bin Muhammad, über die jüdische
Weltkontrolle antisemitisch?
Ja und nein. Sicherlich illustrieren sie die Schwierigkeit, den
Antisemitismus festzunageln. Von einem sachlichen Standpunkt aus hatte der
Mann recht, wenn er behauptet, die Juden hätten einen weit größeren Einfluss
als ihr prozentualer Anteil an der Weltbevölkerung dies allein berechtigen
würde. Es stimmt, dass die Juden einen großen Einfluss sowohl auf die
Politik der Vereinigten Staaten, der einzigen Supermacht, als auch auf die
amerikanischen und internationalen Medien ausüben. Man braucht nicht die
gefälschten "Protokolle", um sich diesen Fakten zu stellen und seine
Ursachen zu analysieren. Aber der Ton macht die Musik, und Mahathirs Musik
klang tatsächlich antisemitisch (
Die Einheit der Umma gegen die jüdische Weltmacht).
Sollten wir also den Antisemitismus
ignorieren?
Ganz sicher nicht. Rassismus ist eine Art Virus, der in jeder Nation und
in jedem menschlichen Wesen existiert. Jean-Paul Sartre sagte, wir seien
alle Rassisten. Der Unterschied liegt nur darin, dass einige von uns dessen
bewusst sind und dagegen ankämpfen, während andere diesem Übel erliegen. In
normalen Zeiten gibt es eine kleine Minorität eklatanter Rassisten in jedem
Land; aber in Zeiten der Krise kann ihre Zahl plötzlich katastrophal
wachsen. Das ist eine ständige Gefahr, und jedes Volk muss gegen die
Rassisten in seiner Mitte kämpfen.
Wir Israelis sind wie alle anderen Völker. Jeder von uns kann in sich
einen kleinen Rassisten entdecken, wenn er ernsthaft genug danach sucht. Wir
haben in unserem Land fanatische Araberhasser, und die historische
Konfrontation, die unser Leben beherrscht, lässt ihre Macht und ihren
Einfluss noch mehr wachsen. Es ist unsere Pflicht, sie zu bekämpfen. Wir
sollten es den Europäern und den Arabern aber selbst überlassen, sich mit
ihren eigenen Rassisten zu befassen.