"Gib mir Kredit!"
Alle Fatah-Fraktionen sind in dem Ziel einig, das Arafat gesetzt hat: ein
palästinensischer Staat, die Grenzen von vor 1967 (mit möglichem kleinem
Landtausch), Ost-Jerusalem als Hauptstadt von Palästina, die Souveränität
über den Tempelberg, Auflösung der Siedlungen, eine Übereinkunft über das
Flüchtlingsproblem.
Uri Avnery
"Gib mir einen Vorschuss" oder "Ten li Kredit!" rief der neue israelische
Ministerpräsident Levi Eshkol im Februar 1965 in die Versammlung der
israelischen Arbeitspartei und wandte sich dabei an David Ben Gurion.
Vom ersten Augenblick an, in dem Ben Gurion sein Amt niederlegte, begann
er gegen seinen Nachfolger zu arbeiten. Eshkol, der sich bis dahin nur mit
Finanzen befasst hatte, sah, verglichen mit seinem monumentalen Vorgänger,
dem Vater des Staates und dem Anführer in zwei Kriegen, blass und untauglich
aus.
Eshkol meinte seine Worte ganz buchstäblich: "Ben Gurion, ich werde die
Sprache des Finanzmannes gebrauchen: Gib mir Kredit! Das ist es, worum ich
bitte, wenigstens für die vier Jahre einer Amtszeit." Der dramatische
Aufschrei half ihm nicht. Ben Gurion verließ die Partei und fuhr fort, über
Eshkol Feuer und Schwefel zu schütten.
Abu Mazen befindet sich heute in einer ähnlichen Situation. Auch er könnte
ausrufen: "Gebt mir Kredit!" Natürlich kann ihn sein großer Vorgänger nicht
angreifen – es sei denn indirekt – durch sein Vermächtnis. Aber Abu Mazen
hat in seiner eigenen Fatahpartei genug Gegner.
Das Fernsehen zeigt dies als persönlichen Kampf zwischen ihm und der
nächsten Generation, besonders mit Marwan Barghouti. Das liegt in der Natur
der Television. Da der kleine Fernsehschirm immer dann am besten ist, wenn
er ein menschliches Gesicht zeigt, doch unfähig ist, Ideen zu zeigen, wird
jede Kontroverse zur Angelegenheit einer menschlichen Gestalt (und bestätigt
so nebenbei den berühmten Ausspruch des kanadischen Denkers Marshall
McLuhan: "Das Medium ist die Botschaft" und meint damit, dass die Realität
so umgestaltet wird, dass sie zum Wesen der Medien passt.)
Natürlich reflektiert die Abu Mazen-Bargouti Kontroverse teilweise eine
Konfrontation, die persönlich und generationsbedingt ist. Abu Mazen
repräsentiert die alte Fatah-Garde, während sein Opponent die Kämpfer der
ersten und zweiten Intifada vertritt. Die wirkliche Konfrontation geschieht
jedoch zwischen zwei Weltanschauungen und zwei Haupt-Strategien für den
palästinensischen nationalen Befreiungskampf.
Den Namen Abu Mazen hörte ich 1974 zum ersten Mal, als ich den Kontakt mit
der PLO-Führung aufnahm. Ich fragte meinen ersten Gesprächspartner Said
Hamami, den Märtyrer für den Frieden, wer hinter ihm stehe. Im Vertrauen
sagte er mir, dass die Fatah ein Drei-Mann-Komitee aufgestellt habe, um die
Kontakte mit Israelis zu dirigieren. Ich nannte es "Die drei Abus" – Abu
Ammar (Yasser Arafat), Abu Mazen (Mahmud Abbas) und Abu Iyyad (Salah
Khalaf).
Unter den dreien war Abu Mazen derjenige, der sich direkt mit israelischen
Angelegenheiten befasste. Seine Doktorarbeit an der Moskauer Universität
beschäftigte sich mit den Aktivitäten der zionistischen Bewegung während des
Holocaust. Und einmal wurde ich sogar darum gebeten, ihm Bücher über die
Kastner-Affäre zu bringen (Verhandlungen zwischen dem zionistischen
Rettungskomitee und Adolf Eichmann, 1944.)
Persönlich traf ich Abu Mazen das erste Mal, als eine Delegation des
Israelischen Rats für israelisch-palästinensischen Frieden (General Peled,
der frühere Generaldirektor des Finanzministers Ya’acov Arnon und ich)
eingeladen war, um Arafat im Januar 1983 in Tunis zu treffen. Vor dem
Treffen sprachen wir mit Abu Mazen – wie es auch bei allen folgenden Treffen
in Tunis war: wir diskutierten unsere Ideen zunächst mit Abu Mazen und
brachten unsere Vorschläge zu Arafat, der dann entschied.
Diese Erfahrungen helfen mir, heute Abu Mazens Einstellung zu verstehen.
Seine Strategie sieht folgendermaßen aus: die Hauptbemühungen der
Palästinenser müssen auf die USA und die israelische Öffentlichkeit
gerichtet sein. Jetzt gibt es eine Möglichkeit, die einseitige Politik von
Präsident Bush zu ändern. Während seiner zweiten Amtszeit kann er die
mächtige jüdische Lobby ignorieren, da er nicht noch einmal gewählt werden
kann.
Auch die öffentliche Meinung in Israel könnte verändert werden. Darum muss
die bewaffnete Intifada beendet werden. Nach Abu Mazens Ansicht hat diese
für die Palästinenser keine Vorteile gebracht, sondern ihrer Sache nur
geschadet.
Der größte Teil der jungen Fatahgeneration verwirft kurzerhand diese
Ansicht. Sie ist davon überzeugt, dass sie auf Illusionen beruht. Bush steht
unter dem Einfluss von Sharon und gehört auf jeden Fall zu den christlichen
Fundamentalisten, die den extrem rechten Flügel in Israel unterstützen.
Es hat auch nicht viel Sinn, sich auf das israelische Friedenslager zu
verlassen, das die Palästinenser in der Stunde ihrer größten Not alleine
gelassen hat. Außer einigen kleinen Gruppen hat es nichts getan, um die
brutale Besatzung, das Töten, die Zerstörung, das Aushungern, die abwürgende
Trennungsmauer und die Enteignung von Land und Wasser zu beenden. Alles, was
dies Lager tut, ist, Papiere herauszugeben, die überhaupt keine Wirkung
haben.
Die bewaffneten Aktionen - so glauben die jungen Fatah-Aktivisten – haben
Erfolg: sie hätten die israelische Wirtschaft hart getroffen; sie hätten in
Israel eine Atmosphäre der Angst und eine Realität der Armut geschaffen; sie
hätten eine Bereitschaft produziert, die palästinensischen Gebiete
aufzugeben. Die Israelis verstünden nur die Sprache der Gewalt.
Eine moderatere Variante dieser Haltung schlägt vor, die Angriffe auf die
Siedler und Soldaten zu intensivieren, aber mit den Angriffen auf Zivilisten
im eigentlichen Israel aufzuhören, also mit den Selbstmordanschlägen.
So lange Arafat am Leben war, lief die Kontroverse nicht außer Kontrolle,
weil Arafat, wie er es gewohnt war, eine Synthese zwischen beiden Haltungen
schuf. Er arbeitete – abwechselnd oder gleichzeitig – mit Diplomatie und
Gewalt, je nach der Situation. Die Anhänger beider Strategien sahen ihn als
ihren Führer an. Und tatsächlich war es Arafat, der die Strategie anführte,
Israel anzuerkennen und mit ihm - wie in Oslo - nach Frieden zu trachten.
Doch als er zu dem Schluss kam, dass diese Bemühungen gegen eine israelische
Wand rannten, gebrauchte er Gewalt. Marwan Barghouti war sein Schüler.
Nun ist Arafat nicht mehr. Die beiden Strategien stoßen in der
palästinensischen Gesellschaft auf einander – und vielleicht in jeder
Familie.
Eines muss klar sein: die Debatte über Strategien reflektiert keine
Meinungsverschiedenheiten über das Ziel.
Alle Fatah-Fraktionen sind in dem Ziel einig, das Arafat gesetzt hat: ein
palästinensischer Staat, die Grenzen von vor 1967 (mit möglichem kleinem
Landtausch), Ost-Jerusalem als Hauptstadt von Palästina, die Souveränität
über den Tempelberg, Auflösung der Siedlungen, eine Übereinkunft über das
Flüchtlingsproblem. Darüber gibt es keinen Streit.
Wie werden die Kontroversen also beigelegt werden?
Es wird für die Träger von Maßanzügen nicht einfach sein, die Träger der
Kalashnikovs zu überzeugen, die täglich ihr Leben riskieren. Aber die
Palästinenser werden ihre Intelligenz gebrauchen. Sie werden sich selbst
fragen: Abu Mazen braucht einen Kredit.
Geben wir ihn ihm! Er glaubt, von Bush und Sharon Konzessionen zu erhalten.
Warum ihm nicht eine Chance geben? Soll er’s versuchen!
Soll er versuchen, das "gezielte Töten", die Zerstörung der Häuser, die
Demütigung an den Checkpoints zu beenden. Lasst ihn versuchen, sinnvolle
Friedensverhandlungen zu erreichen. Wollen wir mal sehen, ob Bush ihm mehr
als leere Phrasen anbietet.
Als die Amerikaner die Palästinenser das erste Mal dazu drängten, Abu Mazen
zum Ministerpräsidenten zu ernennen, erhielt er gar nichts. Sharon stach ihm
das Messer in den Rücken. Bush ignorierte ihn.
Wenn er dieses Mal wirklich etwas erreichen kann, umso besser. Wenn nicht,
werden die Kalaschnikovs wieder reden. Das ist der Hintergrund zu Marwan
Barghoutis Entscheidung, sich diesmal nicht zur Wahl aufstellen zu lassen.
Jeder Kredit ist zeitlich begrenzt. Ein halbes Jahr? Ein Jahr? Sicher nicht
länger. Abu Mazen hat Barghouti schon versprochen, innerhalb der Fatah nach
neun Monaten Wahlen abzuhalten.
Wenn der Kredit keine Zinsen einbringt, dann wird sicherlich die 3. Intifada
folgen.
(Aus dem Englischen übersetzt von Ellen Rohlfs und vom Verfasser
autorisiert)
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hagalil.com 28-11-2004 |